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»Voilà. Ça va aller? Es ist nicht gerade komfortabel, aber…«, sagte Agostinha, die Praktikantin beim DIARIO DE NOTÍCIAS, der großen und traditionsreichen Zeitung Portugals, etwas verlegen.

Ja, sagte Gregorius, das werde schon gehen, und setzte sich in die düstere Nische mit dem Lesegerät für Mikrofilme. Agostinha, die ihm von einem ungeduldigen Redakteur als Studentin der Geschichte und des Französischen vorgestellt worden war, mochte noch nicht gehen, er hatte vorhin schon den Eindruck gehabt, daß sie oben, wo die Telefone pausenlos klingelten und die Bildschirme flimmerten, mehr geduldet als gebraucht wurde.

»Wonach suchen Sie eigentlich?« fragte sie jetzt. »Ich meine, es geht mich ja nichts an…«

»Nach dem Tod eines Richters suche ich«, sagte Gregorius. »Nach dem Selbstmord eines berühmten Richters im Jahre 1954, am 9. Juni. Der sich vielleicht umgebracht hat, weil er die Bechterevsche Krankheit hatte und die Rückenschmerzen nicht mehr länger ertrug, vielleicht aber auch aus dem Gefühl heraus, sich schuldig gemacht zu haben, weil er während der Diktatur immer weiter Recht gesprochen und sich dem Unrechtsregime nicht widersetzt hatte. Er war vierundsechzig, als er es tat. Hätte also nicht mehr lange warten müssen bis zur Pensionierung. Irgend etwas muß geschehen sein, das es ihm unmöglich machte zu warten. Etwas mit dem Rücken und den Schmerzen, oder etwas bei Gericht. Das ist es, was ich herausfinden möchte.«

»Und… und warum wollen Sie es herausfinden? Pardon…«

Gregorius holte Prados Buch hervor und ließ sie lesen:

 

PORQUÊ, PAI? WARUM, VATER? »Nimm dich nicht so wichtig!« pflegtest Du zu sagen, wenn jemand klagte. Du saßest in Deinem Sessel, in dem niemand sonst sitzen durfte, den Stock zwischen den mageren Beinen, die gichtverformten Hände auf dem silbernen Griff, den Kopf – wie immer – von unten her nach vorne gereckt. (Mein Gott, könnte ich Dich nur ein einziges Mal in gerader Haltung vor mir sehen, erhobenen Hauptes, wie es Deinem Stolz entsprach! Ein einziges Mal nur! Aber der tausendfache Anblick des gekrümmten Rückens, er hat jede andere Erinnerung ausgelöscht, und nicht nur das, er hat sogar die Vorstellungskraft gelähmt.) Die vielen Schmerzen, die Du in Deinem Leben hattest aushalten müssen, verliehen Deiner immer gleichen Mahnung Autorität. Niemand wagte zu widersprechen. Nicht nur äußerlich war das so; auch im Inneren verbot sich Widerspruch. Zwar parodierten wir Kinder Deine Worte, fern von Dir gab es Hohn und Gelächter, und selbst Mama, wenn sie deswegen mit uns schimpfte, verriet sich manchmal durch den Anflug eines Lächelns, auf das wir uns gierig stürzten. Aber die Befreiung bestand nur zum Schein, es war wie mit der hilflosen Blasphemie des Gottesfürchtigen.

Deine Worte galten. Sie galten bis zu jenem Morgen, an dem ich beklommen den Weg hinaus zur Schule ging, windgepeitschten Regen im Gesicht. Warum eigentlich war meine Beklommenheit angesichts der düsteren Schulräume und der freudlosen Paukerei nichts, was ich wichtig nehmen sollte? Warum sollte ich es nicht wichtig nehmen, daß Maria João mich wie Luft behandelte, wo ich doch kaum an etwas anderes denken konnte? Warum waren Deine Schmerzen und die Abgeklärtheit, die sie Dir beschert hatten, das Maß aller Dinge? »Vom Standpunkt der Ewigkeit aus betrachtet«, ergänztest Du manchmal, »verliert das doch an Bedeutung.« Voller Wut und Eifersucht auf den neuen Freund von Maria João verließ ich die Schule, ging festen Schritts nach Hause und setzte mich nach dem Essen Dir gegenüber in einen Sessel. »Ich will in eine andere Schule«, sagte ich mit einer Stimme, die fester klang, als sie sich von innen her anfühlte, »die jetzige ist unerträglich.« »Du nimmst dich zu wichtig«, sagtest Du und riebst am silbernen Griff des Stocks. »Was, wenn nicht mich, sollte ich wichtig nehmen?« fragte ich. »Und den Standpunkt der Ewigkeit – den gibt es nicht.«

Eine Stille, die zu zerspringen drohte, füllte den Raum. So etwas hatte es noch nie gegeben. Es war unerhört, und daß es von Deinem Lieblingskind kam, machte es noch schlimmer. Alle erwarteten einen Ausbruch, in dessen Verlauf sich Deine Stimme wie gewöhnlich überschlagen würde. Nichts geschah. Du legtest beide Hände auf den Griff des Stocks. Auf Mamas Gesicht erschien ein Ausdruck, wie ich ihn noch nie gesehen hatte. Er machte – dachte ich später – verständlich, warum sie Dich geheiratet hatte. Du erhobst Dich wortlos, nur ein leises Ächzen ob der Schmerzen war zu hören. Zum Abendessen erschienst Du nicht. Das war, seit es diese Familie gab, noch kein einziges Mal vorgekommen. Als ich mich am nächsten Tag an den Mittagstisch setzte, sahst Du mich ruhig und ein bißchen traurig an. »An welche andere Schule denkst du?« fragtest Du. Maria João hatte mich in der Pause gefragt, ob ich eine Orange wolle. »Es hat sich erledigt«, sagte ich.

Wie unterscheidet man, ob man eine Empfindung wichtig nehmen oder sie wie eine leichtgewichtige Laune behandeln soll? Warum, Papá, hast Du nicht mit mir gesprochen, bevor Du es tatest? So daß ich wenigstens wüßte, warum Du es tatest?

 

»Ich verstehe«, sagte Agostinha, und dann suchten sie unter den Fiches nach einer Meldung über den Tod von Richter Prado.

»1954, da galt schärfste Zensur«, sagte Agostinha, »darin kenne ich mich aus, Pressezensur war mein Thema beim Lizenziat. Was der DIARIO druckte, muß nicht stimmen. Und wenn es ein politischer Selbstmord war, dann erst recht nicht.«

Das erste, was sie fanden, war die Todesanzeige, die am 11. Juni erschienen war. Agostinha fand sie für die portugiesischen Verhältnisse jener Zeit extrem karg, so karg, daß sie einem stummen Aufschrei gleichkam. Faleceu, Gregorius kannte das Wort vom Friedhof. Amor, recordação, knappe, rituelle Formulierungen. Darunter die Namen der engsten Angehörigen: Maria Piedade Reis de Prado; Amadeu; Adriana; Rita. Die Adresse. Der Name der Kirche, in der die Messe abgehalten würde. Das war alles. Rita, dachte Gregorius – war das Mélodie, von der João Eça gesprochen hatte?

Jetzt suchten sie nach einem Bericht. In der ersten Woche nach dem 9. Juni war nichts. »Nein, nein, weiter«, sagte Agostinha, als Gregorius aufgeben wollte. Die Meldung kam am 20. Juni ganz hinten im Lokalteil:

 

Heute gab das Justizministerium bekannt, daß Alexandre Horácio de Almeida Prado, der dem Obersten Gericht viele Jahre als hervorragender Richter gedient hat, letzte Woche an den Folgen einer langen Krankheit gestorben ist.

 

Daneben ein Bild des Richters, überraschend groß, die Größe paßte nicht zur Knappheit der Meldung. Ein strenges Gesicht mit Kneifer und Brillenkette, Spitzbart und Schnurrbart, eine hohe Stirn, nicht weniger hoch als die des Sohnes, angegrautes, aber immer noch volles Haar, weißer Stehkragen mit abgeknickten Ecken, schwarzer Binder, eine sehr weiße Hand, auf die er das Kinn stützte, alles andere verlor sich im dunklen Hintergrund. Ein geschickt aufgenommenes Foto, keine Spur von der Qual des gekrümmten Rückens, auch keine von der Gicht in den Händen, Kopf und Hand tauchten still und geisterhaft aus der Finsternis auf, weiß und gebieterisch, Einspruch oder gar Widerspruch waren unmöglich, ein Bild, das eine Wohnung, ein ganzes Haus in seinen Bann schlagen, mit einem Bann überziehen und mit seiner erstickenden Autorität vergiften konnte. Ein Richter. Ein Richter, der gar nichts anderes hätte sein können als ein Richter. Ein Mann von eiserner Strenge und steinerner Konsequenz, auch sich selbst gegenüber. Ein Mann, der sich selbst richten würde, hätte er gefehlt. Ein Vater, dem das Lächeln meistens mißlang. Ein Mann, der etwas gemeinsam gehabt hatte mit António de Oliveira Salazar: nicht seine Grausamkeit, nicht seinen Fanatismus, nicht seinen Ehrgeiz und seinen Willen zur Macht, wohl aber die Strenge, ja Rücksichtslosigkeit gegenüber sich selbst. Hatte er ihm deshalb so lange gedient, dem Mann in Schwarz mit dem angestrengten Gesicht unter der Melone? Und hatte er es sich am Ende nicht vergeben können, daß er damit auch die Grausamkeit gefördert hatte, eine Grausamkeit, wie man sie an den zitternden Händen von João Eça sehen konnte, die einst Schubert gespielt hatten?

An den Folgen einer langen Krankheit gestorben. Gregorius spürte, wie ihm heiß wurde vor Wut.

»Das ist nichts«, sagte Agostinha, »das ist gar nichts im Vergleich zu dem, was ich sonst an Verfälschung gesehen habe. An schweigender Lüge.«

Auf dem Weg nach oben fragte Gregorius sie nach der Straße, die in der Todesanzeige gestanden hatte. Er sah, daß sie gerne mitgegangen wäre, und war froh, daß man sie in der Redaktion nun offenbar doch brauchte.

»Daß Sie sich die Geschichte dieser Familie so sehr… so sehr zu eigen machen – es ist…«, sagte sie, nachdem sie sich schon die Hand gegeben hatten.

»Sonderbar, meinen Sie? Ja, es ist sonderbar. Sehr sonderbar. Auch für mich selbst.«

Nachtzug nach Lissabon: Roman
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