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»Quer tomar alguma coisa?« Wollen Sie etwas mit mir trinken?, stand in dem Briefchen, das Clotilde am Dienstag gebracht hatte. Und dieses Mal war die Unterschrift einfacher und vertraulicher: Adriana.
Gregorius betrachtete die drei Zettel mit den Telefonnotizen. Montag abend hatte Natalie Rubin angerufen und war verwirrt gewesen, als sie ihr sagten, er sei abgereist. Dann hatte sie die persische Grammatik, mit der er sie gestern gesehen hatte, vielleicht gar nicht zur Post gebracht?
Er rief sie an. Ein Mißverständnis, sagte er, er habe nur eine kleine Reise gemacht und wohne jetzt wieder im Hotel. Sie erzählte von ihrer erfolglosen Suche nach Literatur über die Resistência.
»Wenn ich in Lissabon wäre – ich wette, ich würde etwas finden«, sagte sie.
Gregorius sagte nichts.
Er habe ihr ja viel zuviel Geld geschickt, meinte sie in die Stille hinein. Und dann: Sein Exemplar der persischen Grammatik bringe sie heute noch zur Post.
Gregorius schwieg.
»Sie haben doch nichts dagegen, wenn ich es auch lerne?« fragte sie, und auf einmal lag eine Ängstlichkeit in ihrer Stimme, die gar nicht zu dem höfischen Fräulein passen wollte, noch viel weniger als das Lachen, in das sie ihn neulich hineingezogen hatte.
Nein, nein, sagte er und bemühte sich um einen heiteren Ton, warum denn auch.
»Até logo«, sagte sie.
»Até logo«, sagte auch er.
Dienstag nacht Doxiades und jetzt das Mädchen: Warum war er plötzlich wie ein Analphabet, wenn es um Nähe und Abstand ging? Oder war er es immer gewesen, ohne es zu merken? Und warum hatte er nie einen Freund gehabt, wie Jorge O’Kelly es für Prado gewesen war? Einen Freund, mit dem er über Dinge wie Loyalität und Liebe hätte sprechen können, und über den Tod?
Mariana Eça hatte angerufen, ohne eine Nachricht zu hinterlassen. José António da Silveira dagegen ließ ihm ausrichten, er würde ihn gerne zu sich zum Abendessen einladen, sollte er noch einmal zurück nach Lissabon kommen.
Gregorius machte das Bücherpaket auf. Die portugiesische Grammatik war einem Lateinbuch so ähnlich, daß er lachen mußte, und er las darin, bis es dunkel wurde. Dann schlug er die Geschichte Portugals auf und stellte fest, daß sich Prados Lebensspanne ziemlich genau mit der Dauer des Estado Novo gedeckt hatte. Er las über den portugiesischen Faschismus und die Geheimpolizei P.I.D.E., der Rui Luís Mendes angehört hatte, der Schlächter von Lissabon. TARRAFAL, erfuhr er, hatte das schlimmste Lager für politische Häftlinge geheißen. Es hatte auf der Kapverden-Insel Santiago gelegen, und sein Name war den Menschen Symbol für die gnadenlose politische Verfolgung gewesen. Doch am meisten interessierte Gregorius, was er über die Mocidade Portuguesa las, eine paramilitärische Organisation nach italienischem und deutschem Muster, die vom faschistischen Vorbild den römischen Gruß übernahm. Ihr mußte die gesamte Jugend von der Grundschule bis zur Universität beitreten. Das fing 1936 an, zur Zeit des spanischen Bürgerkriegs, da war Amadeu de Prado sechzehn. Hatte auch er das zwangsverordnete grüne Hemd getragen? Den Arm gehoben, wie man es in Deutschland tat? Gregorius betrachtete das Portrait: undenkbar. Doch wie hatte er sich entziehen können? Hatte der Vater seinen Einfluß geltend gemacht? Der Richter, der sich trotz Tarrafal auch weiterhin um zehn vor sechs morgens von seinem Chauffeur abholen ließ, um im Justizpalast der erste zu sein?
Spät in der Nacht stand Gregorius auf der Praça do Rossio. Würde er den Platz jemals so berühren können, wie er früher den Bubenbergplatz berührt hatte?
Bevor er zum Hotel zurückkehrte, ging er in die Rua dos Sapateiros. In O’Kellys Apotheke brannte Licht, und er sah auf der Theke das vorsintflutliche Telefon, das er Montag nacht von Kägis Büro aus hatte klingeln lassen.