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Am Montag morgen saß Gregorius im Zug und fuhr nach Coimbra, in die Stadt, in der Prado mit der quälenden Frage gelebt hatte, ob das Studium der Medizin nicht vielleicht ein großer Fehler war, weil er darin hauptsächlich dem Wunsch des Vaters folgte und sich in seinem eigentlichen Willen verpaßte. Eines Tages war er ins älteste Warenhaus der Stadt gegangen und hatte Waren gestohlen, die er nicht brauchte. Er, der es sich leisten konnte, seinem Freund Jorge eine komplette Apotheke zu schenken. Gregorius dachte an seinen Brief an den Vater und an die schöne Diebin, Diamantina Esmeralda Ermelinda, der in Prados Phantasie die Rolle zugefallen war, die vom Vater verurteilte Diebin zu rächen.
Bevor er fuhr, hatte er Maria João angerufen und sie nach der Straße gefragt, in der Prado damals gewohnt hatte. Auf ihre besorgte Frage nach seinem Schwindel hatte er ausweichend geantwortet. Heute morgen war ihm noch nicht schwindlig geworden. Aber etwas war anders. Ihm war, als müsse er ein hauchdünnes Luftkissen von sanftestem Widerstand überwinden, um mit den Dingen in Berührung zu kommen. Er hätte die Luftschicht, die es zu durchstoßen galt, wie eine schützende Hülle erleben können, wäre da nicht die aufflackernde Angst gewesen, daß ihm die Welt jenseits davon unaufhaltsam entglitt. Auf dem Bahnsteig in Lissabon war er mit forschem Schritt hin und her gegangen, um sich des steinernen Widerstands zu vergewissern. Es hatte geholfen, und als er im leeren Abteil des Zugs Platz nahm, war er ruhiger.
Prado war diese Strecke zahllose Male gefahren. Maria João hatte am Telefon von seiner Leidenschaft für die Eisenbahn gesprochen, die auch João Eça beschrieben hatte, als er erzählte, wie sein Wissen von diesen Dingen, sein verrückter Eisenbahnpatriotismus, Leuten vom Widerstand das Leben gerettet hatte. Es sei das Stellen einer Weiche gewesen, das ihn besonders fasziniert habe, hatte er berichtet. Maria João hatte etwas anderes hervorgehoben: das Eisenbahnfahren als Flußbett der Einbildungskraft, als eine Bewegung, in der sich die Phantasie verflüssigte und einem Bilder aus verschlossenen Kammern der Seele zuspielte. Das Gespräch mit ihr an diesem Morgen hatte länger gedauert als angenommen, die sonderbare, kostbare Vertrautheit, die entstanden war, als er ihr gestern aus der Bibel vorgelesen hatte, war geblieben. Wieder hörte Gregorius O’Kellys seufzende Worte: Maria, mein Gott, ja, Maria. Es waren gerade mal vierundzwanzig Stunden vergangen, seit sie ihm die Tür geöffnet hatte, und es war ihm bereits vollkommen klar, warum Prado die Gedanken, die er für die gefährlichsten hielt, in ihrer Küche und nirgends sonst aufgeschrieben hatte. Was war es? Ihre Furchtlosigkeit? Der Eindruck, daß man hier eine Frau vor sich hatte, die im Laufe ihres Lebens zu einer inneren Abgegrenztheit und Unabhängigkeit gefunden hatte, von der Prado nur träumen konnte?
Sie hatten am Telefon miteinander geredet, als säßen sie immer noch im Liceu, er an Senhor Cortês’ Schreibtisch, sie im Sessel mit der Decke über den Beinen.
»Er war, was das Reisen anlangte, merkwürdig gespalten«, hatte sie gesagt. »Er wollte fahren, immer weiter, er wollte sich in den Räumen verlieren, die ihm die Phantasie aufschloß. Doch kaum war er weg von Lissabon, überkam ihn das Heimweh, ein fürchterliches Heimweh, man konnte es nicht mitansehen. ›Gut, Lissabon ist ja schön, aber…‹, sagten die Leute zu ihm.
Sie verstanden nicht, daß es eigentlich gar nicht um Lissabon ging, sondern um ihn, Amadeu. Sein Heimweh nämlich war nicht die Sehnsucht nach dem Vertrauten und Geliebten. Es war etwas viel Tieferes, etwas, das ihn in seinem Kern betraf: der Wunsch, zurück hinter die festen, bewährten Dämme im Inneren zu fliehen, die ihn vor der gefährlichen Brandung und den tückischen Unterströmungen seiner Seele schützten. Er hatte die Erfahrung gemacht, daß die inneren Schutzwälle am meisten Festigkeit besaßen, wenn er in Lissabon war, im Elternhaus, im Liceu, vor allem aber in der blauen Praxis. Blau ist die Farbe meiner Geborgenheit, sagte er.
Daß es um den Schutz vor sich selbst ging, erklärt, warum sein Heimweh stets den Geschmack von Panik und Katastrophe mit sich führte. Wenn es über ihn kam, mußte es ganz schnell gehen, und dann brach er eine Reise von einem Moment zum nächsten ab und floh nach Hause. Wie oft war Fátima enttäuscht, wenn es so kam!«
Maria João hatte gezögert, bevor sie hinzufügte:
»Es ist gut, daß sie nicht verstand, worum es in seinem Heimweh ging. Sonst hätte sie denken müssen: Ich schaffe es offenbar nicht, ihm die Angst vor sich selbst zu nehmen.«
Gregorius schlug Prados Buch auf und las zum wiederholten Male eine Aufzeichnung, die ihm wie keine andere der Schlüssel zu allem anderen zu sein schien.
ESTOU A VIVER EM MIM PRÓPRIO COMO NUM COMBOIO A ANDAR. ICH WOHNE IN MIR WIE IN EINEM FAHRENDEN ZUG. Ich bin nicht freiwillig eingestiegen, hatte nicht die Wahl und kenne den Zielort nicht. Eines Tages in der fernen Vergangenheit wachte ich in meinem Abteil auf und spürte das Rollen. Es war aufregend, ich lauschte dem Klopfen der Räder, hielt den Kopf in den Fahrtwind und genoß die Geschwindigkeit, mit der die Dinge an mir vorbeizogen. Ich wünschte, der Zug würde seine Fahrt niemals unterbrechen. Auf keinen Fall wollte ich, daß er irgendwo für immer hielte.
Es war in Coimbra, auf einer harten Bank im Hörsaal, als mir bewußt wurde: Ich kann nicht aussteigen. Ich kann das Geleise und die Richtung nicht ändern. Ich bestimme das Tempo nicht. Ich sehe die Lokomotive nicht und kann nicht erkennen, wer sie fährt und ob der Lokführer einen zuverlässigen Eindruck macht. Ich weiß nicht, ob er die Signale richtig liest und es bemerkt, wenn eine Weiche falsch gestellt worden ist. Ich kann das Abteil nicht wechseln. Ich sehe im Gang Leute vorbeigehen und denke: Vielleicht sieht es in ihren Abteilen ganz anders aus als bei mir. Doch ich kann nicht hingehen und nachsehen, ein Schaffner, den ich nie gesehen habe und nie sehen werde, hat die Abteiltür verriegelt und versiegelt. Ich öffne das Fenster, lehne mich weit hinaus und sehe, daß alle anderen dasselbe tun. Der Zug fährt eine sanfte Schleife. Die letzten Wagen sind noch im Tunnel und die ersten schon wieder. Vielleicht fährt der Zug im Kreis, immer wieder, ohne daß jemand es bemerkt, auch der Lokführer nicht? Ich habe keine Ahnung, wie lang der Zug ist. Ich sehe all die anderen, die ihre Hälse recken, um etwas zu sehen und zu verstehen. Ich grüße, doch der Fahrtwind verweht meine Worte.
Die Beleuchtung im Abteil wechselt, ohne daß ich es wäre, der darüber bestimmen könnte. Sonne und Wolken, Dämmerung und wieder Dämmerung. Regen, Schnee, Sturm. Das Licht an der Decke ist trübe, wird heller, ein gleißender Schein, es beginnt zu flackern, geht aus, kommt wieder, es ist eine Funzel, ein Kronleuchter, eine grellfarbige Neonleuchte, alles in einem. Die Heizung ist nicht zuverlässig. Es kann passieren, daß sie bei Hitze heizt und bei Kälte versagt. Wenn ich den Schalter betätige, klickt und klackt es, doch es ändert sich nichts. Sonderbar ist, daß mich auch der Mantel nicht immer gleich wärmt. Draußen, da scheinen die Dinge ihren gewöhnlichen, vernünftigen Lauf zu nehmen. Vielleicht auch im Abteil der anderen? In meinem jedenfalls geht es anders zu, als ich erwartet hätte, ganz anders. War der Konstrukteur betrunken? Ein Irrer? Ein diabolischer Scharlatan?
In den Abteilen liegen Fahrpläne aus. Ich will nachsehen, wo wir halten werden. Die Seiten sind leer. An den Bahnhöfen, wo wir halten, fehlen die Ortsschilder. Die Leute draußen werfen neugierige Blicke auf den Zug. Die Scheiben sind trübe vom häufigen Unwetter. Ich denke: Sie verzerren das Bild vom Inneren. Plötzlich überfällt mich das Bedürfnis, die Dinge richtigzustellen. Das Fenster klemmt. Ich schreie mich heiser. Die anderen klopfen empört an die Wand. Hinter der Station kommt ein Tunnel. Er nimmt mir den Atem. Beim Verlassen des Tunnels frage ich mich, ob wir wirklich angehalten haben.
Was kann man auf der Fahrt tun? Das Abteil aufräumen. Die Dinge befestigen, damit sie nicht scheppern. Doch dann träume ich, daß der Fahrtwind anschwillt und die Scheibe eindrückt. Es fliegt alles weg, was ich mir mühsam zurechtgelegt habe. Überhaupt träume ich viel auf der endlosen Fahrt, es sind Träume von verpaßten Zügen und falschen Angaben im Fahrplan, von Stationen, die sich in nichts auflösen, wenn man einfährt, von Bahnwärtern und Bahnhofsvorstehern, die mit der roten Mütze plötzlich im Leeren stehen. Manchmal schlafe ich aus purem Überdruß ein. Einschlafen ist gefährlich, nur selten wache ich erfrischt auf und freue mich über die Veränderungen. Die Regel ist, daß mich verstört, was ich beim Aufwachen vorfinde, im Inneren wie im Äußeren.
Manchmal schrecke ich auf und denke: Der Zug kann jederzeit entgleisen. Ja, meistens erschreckt mich der Gedanke. Doch in seltenen, weißglühenden Momenten durchzuckt er mich wie ein seliger Blitz.
Ich wache auf, und die Landschaft der anderen zieht vorüber. Rasend manchmal, so daß ich mit ihren Launen und ihrem sprühenden Unsinn kaum mitkomme; dann wieder mit quälender Langsamkeit, wenn sie immer dasselbe sagen und tun. Ich bin froh über die Scheibe zwischen ihnen und mir. So erkenne ich ihre Wünsche und Pläne, ohne daß sie mich ungehindert unter Feuer nehmen können. Ich bin froh, wenn der Zug volle Fahrt aufnimmt und sie entschwinden. Die Wünsche der anderen: Was machen wir mit ihnen, wenn sie uns treffen?
Ich presse die Stirn ans Abteilfenster und konzentriere mich mit aller Macht. Ich möchte einmal, ein einziges Mal, zu fassen bekommen, was draußen geschieht. Es wirklich zu fassen bekommen. So daß es mir nicht gleich wieder entgleitet. Es mißlingt. Es geht alles viel zu schnell, auch wenn der Zug auf offener Strecke hält. Der nächste Eindruck wischt den vorherigen weg. Das Gedächtnis läuft heiß, ich bin atemlos damit beschäftigt, die flüchtigen Bilder des Geschehens nachträglich zusammenzusetzen zur Illusion von etwas Verständlichem. Immer komme ich zu spät, wie schnell das Licht der Aufmerksamkeit den Dingen auch hinterher huscht. Immer ist schon alles vorbei. Immer habe ich das Nachsehen. Nie bin ich dabei. Auch dann nicht, wenn sich des Nachts in der Fensterscheibe das Innere des Abteils spiegelt.
Ich liebe Tunnel. Sie sind das Sinnbild der Hoffnung: Irgendwann wird es wieder hell. Wenn nicht gerade Nacht ist.
Manchmal bekomme ich Besuch im Abteil. Ich weiß nicht, wie das trotz der verriegelten und versiegelten Tür möglich ist, aber es geschieht. Meist kommt der Besuch zur Unzeit. Es sind Leute aus der Gegenwart, oft auch aus der Vergangenheit. Sie kommen und gehen, wie es ihnen paßt, sie sind rücksichtslos und stören mich. Ich muß mit ihnen reden. Es ist alles vorläufig, unverbindlich, dem Vergessen vorbestimmt; Gespräche im Zug eben. Einige Besucher verschwinden spurlos. Andere hinterlassen klebrige und stinkende Spuren, lüften nützt nichts. Dann möchte ich das ganze Mobiliar des Abteils herausreißen und gegen neues tauschen.
Die Reise ist lang. Es gibt Tage, wo ich sie mir endlos wünsche. Es sind seltene, kostbare Tage. Es gibt andere, wo ich froh bin zu wissen, daß es einen letzten Tunnel geben wird, in dem der Zug für immer zum Stillstand kommt.
Als Gregorius aus dem Zug stieg, war es später Nachmittag. Er nahm ein Zimmer in einem Hotel jenseits des Mondego, von wo aus er einen Blick auf die Altstadt auf dem Alcáçova-Hügel hatte. Die letzten Sonnenstrahlen tauchten die majestätischen Gebäude der Universität, die alles überragten, in ein warmes, goldenes Licht. Dort oben, in einer der steilen, engen Gassen, hatten Prado und O’Kelly in einer República, einem der Studentenwohnheime, die aufs Mittelalter zurückgingen, gewohnt.
»Er wollte nicht anders wohnen als die anderen«, hatte Maria João gesagt, »obwohl ihn die Geräusche aus den Nebenzimmern manchmal zur Verzweiflung trieben, das war er nicht gewohnt. Aber der Reichtum der Familie, der aus dem Großgrundbesitz früherer Generationen stammte, lastete manchmal schwer auf ihm. Es gab zwei Wörter, die ihm wie keine anderen die Hitze ins Gesicht trieben: colónia und latifundiário. Er sah dann aus wie einer, der bereit ist zu schießen.
Als ich ihn besuchte, war er betont nachlässig angezogen. Warum er nicht, wie die anderen Medizinstudenten, das gelbe Band der Fakultät trage, fragte ich ihn.
›Du weißt doch, daß ich keine Uniformen mag, schon die Mütze im Liceu war mir doch zuwider‹, sagte er.
Als ich dann zurückmußte und wir am Bahnhof standen, betrat ein Student den Bahnsteig, der das dunkelblaue Band der Literatur trug.
Ich sah Amadeu an. ›Es ist nicht das Band‹, sagte ich, ›es ist das gelbe Band. Du trügest gerne das blaue Band.‹
›Du weißt doch‹, sagte er, ›daß ich es nicht mag, wenn man mich durchschaut. Komm bald wieder. Bitte.‹
Er hatte eine Art, por favor zu sagen – ich wäre bis ans Ende der Welt gegangen, um es zu hören.«
Die Gasse, wo Prado gewohnt hatte, war leicht zu finden. Gregorius warf einen Blick in den Hausflur des Wohnheims und ging ein paar Stufen nach oben. In Coimbra, als uns die ganze Welt zu gehören schien. So hatte Jorge jene Zeit beschrieben. In diesem Haus also hatten er und Prado aufgeschrieben, was es sein konnte, das lealdade, Loyalität zwischen Menschen, stiftete. Eine Liste, auf der die Liebe gefehlt hatte. Begehren, Wohlgefallen, Geborgenheit. Alles Empfindungen, die früher oder später zerfielen. Loyalität war das einzige, was von Dauer war. Ein Wille, ein Entschluß, eine Parteinahme der Seele. Etwas, das den Zufall von Begegnungen und die Zufälligkeit der Gefühle in eine Notwendigkeit verwandle. Ein Hauch von Ewigkeit, nur ein Hauch, aber immerhin, hatte Prado gesagt. Gregorius sah das Gesicht von O’Kelly vor sich. Er hat sich getäuscht. Wir haben uns beide getäuscht, hatte er mit der Langsamkeit eines Betrunkenen gesagt.
In der Universität wäre Gregorius am liebsten sofort in die Biblioteca Joanina und in die Sala Grande dos Actos gegangen, die Räume, derentwegen Prado immer wieder hierhergefahren war. Doch das war nur zu bestimmten Stunden möglich, und die waren für heute vorbei.
Offen war die Capela de São Miguel. Gregorius war allein und betrachtete die barocke Orgel, die von überwältigender Schönheit war. Ich will den rauschenden Klang der Orgel hören, diese Überschwemmung von überirdischen Tönen. Ich brauche ihn gegen die schrille Lächerlichkeit der Marschmusik, hatte Prado in seiner Rede gesagt. Gregorius rief sich die Gelegenheiten in Erinnerung, bei denen er in der Kirche gewesen war. Konfirmandenunterricht, die Beerdigung der Eltern. Vater unser… Wie dumpf, freudlos und bieder es geklungen hatte! Und all das, dachte er jetzt, hatte nichts zu tun gehabt mit der ausgreifenden Poesie des griechischen und hebräischen Texts. Nichts, rein gar nichts!
Gregorius fuhr zusammen. Er hatte, ohne es zu wollen, mit der Faust auf die Bank geschlagen und sah sich jetzt verschämt um, doch er war immer noch allein. Er ließ sich auf die Knie nieder und tat, was Prado mit dem gekrümmten Rücken des Vaters getan hatte: Er versuchte sich vorzustellen, wie die Haltung von innen her war. Die müßte man herausreißen, hatte Prado gesagt, als er mit Pater Bartolomeu an Beichtstühlen vorbeigegangen war. Eine solche Demütigung!
Als Gregorius sich aufrichtete, drehte sich die Kapelle in rasender Geschwindigkeit. Er klammerte sich an die Bank und wartete, bis es vorbei war. Dann ging er, während eilige Studenten an ihm vorbeihasteten, langsam die Gänge entlang und betrat einen Hörsaal. In der letzten Reihe sitzend dachte er zunächst an die Vorlesung über Euripides, in der er es damals versäumt hatte, dem Dozenten laut die Meinung zu sagen. Dann glitten seine Gedanken zurück zu den Vorlesungen, die er als Student besucht hatte. Und schließlich stellte er sich den Studenten Prado vor, der sich im Hörsaal erhob und kritische Fragen stellte. Gestandene, mit Preisen ausgezeichnete Professoren, Koryphäen ihres Fachs, fühlten sich von ihm auf den Prüfstand gestellt, hatte Pater Bartolomeu gesagt. Doch Prado hatte hier nicht als arroganter, besserwisserischer Student gesessen. Er hatte in einem Fegefeuer von Zweifeln gelebt, gepeinigt von der Angst, er könnte sich verpassen. Es war in Coimbra, auf einer harten Bank im Hörsaal, als mir bewußt wurde: Ich kann nicht aussteigen.
Es war eine Vorlesung in Rechtswissenschaft, Gregorius verstand kein Wort und ging. Er blieb bis in die Nacht hinein auf dem Gelände der Universität und versuchte stets von neuem, sich über die verwirrenden Empfindungen klar zu werden, die ihn begleiteten. Warum dachte er hier, in der berühmtesten Universität Portugals, auf einmal, daß er vielleicht doch gern in einem Hörsaal gestanden und sein umfassendes philologisches Wissen mit Studenten geteilt hätte? Hatte er vielleicht doch ein mögliches Leben verpaßt, eines, das er mit seinen Fähigkeiten und seinem Wissen mühelos hätte leben können? Niemals zuvor, keine einzige Stunde, hatte er es für einen Fehler gehalten, daß er als Student den Vorlesungen nach wenigen Semestern ferngeblieben war und all seine Zeit der unermüdlichen Lektüre der Texte gewidmet hatte. Warum jetzt auf einmal diese sonderbare Wehmut? Und war es überhaupt Wehmut?
Als das Essen kam, das er in einer kleinen Kneipe bestellt hatte, widerstand es ihm, und er wollte hinaus in die kühle Nachtluft. Das hauchdünne Luftkissen, das ihn heute früh umschlossen hatte, war wieder da, ein bißchen dicker und mit einem Widerstand, der eine Spur stärker war. Wie auf dem Bahnsteig in Lissabon trat er betont fest auf, und das half auch jetzt.
JOÃO DE LOUSADA DE LEDESMA, O MAR TENEBROSO. Der große Band sprang ihm in die Augen, als er in einem Antiquariat die Bücherwände entlangging. Das Buch auf Prados Schreibtisch. Seine letzte Lektüre. Gregorius nahm es aus dem Regal. Die großen kalligraphischen Schrifttypen, die Kupferstiche von Küsten, die Tuschzeichnungen von Seefahrern. Cabo Finisterre, hörte er Adriana sagen, oben in Galicien. Es war wie eine idée fixe. Er hatte einen gehetzten, fiebrigen Ausdruck im Gesicht, wenn er davon sprach.
Gregorius setzte sich in eine Ecke und blätterte, bis er auf die Worte des muselmanischen Geographen El Edrisí aus dem 12. Jahrhundert stieß: Von Santiago aus fuhren wir nach Finisterre, wie die Bauern es nennen, ein Wort, das das Ende der Welt bedeutet. Man sieht nicht weiter als bis zu Himmel und Wasser, und sie sagen, das Meer sei so stürmisch, daß niemand auf ihm habe fahren können, weswegen man denn nicht weiß, was jenseits ist. Sie sagten uns, daß einige, begierig, es zu ergründen, mit ihren Schiffen verschwunden sind und daß keiner jemals zurückgekehrt ist.
Es dauerte, bis der Gedanke in Gregorius Gestalt annahm. Viel später hörte ich, daß sie in Salamanca arbeitete, als Dozentin für Geschichte, hatte João Eça über Estefânia Espinhosa gesagt. Als sie für den Widerstand arbeitete, war sie bei der Post. Nach der Flucht mit Prado war sie in Spanien geblieben. Und hatte Geschichte studiert. Adriana hatte keinen Zusammenhang gesehen zwischen Prados Reise nach Spanien und seinem plötzlichen, fanatischen Interesse an Finisterre. Wie, wenn es da eine Verbindung gab? Wenn er und Estefânia Espinhosa nach Finisterre gefahren waren, weil sie schon immer ein Interesse an der mittelalterlichen Furcht vor dem endlosen, stürmischen Meer gehabt hatte, ein Interesse, das zu ihrem Studium geführt hatte? Wie, wenn es auf dieser Fahrt ans Ende der Welt gewesen war, daß passierte, was Prado derart verstörte und ihn zur Rückkehr bewog?
Doch nein, es war zu abwegig, zu abenteuerlich. Und geradezu irrwitzig war es anzunehmen, daß die Frau auch ein Buch über das furchterregende Meer geschrieben hatte. Damit konnte er doch dem Antiquar wirklich nicht die Zeit stehlen.
»Mal sehen«, sagte der Antiquar. »Derselbe Titel – das ist fast ausgeschlossen. Verstieße gegen die guten akademischen Sitten. Wir probieren es mit dem Namen.«
Estefânia Espinhosa, sagte der Computer, hatte zwei Bücher geschrieben, beide hatten mit den Anfängen der Renaissance zu tun.
»Gar nicht so weit weg, oder?« sagte der Antiquar. »Aber wir kriegen es noch genauer, passen Sie auf«, und er rief die historische Fakultät der Universität von Salamanca auf.
Estefânia Espinhosa hatte ihre eigene Seite, und gleich am Anfang der Veröffentlichungsliste kamen sie: zwei Aufsätze über Finisterre, einer auf portugiesisch, der andere auf spanisch. Der Antiquar grinste.
»Mag das Gerät nicht, aber manchmal…«
Er rief eine spezialisierte Buchhandlung an, und dort hatten sie eines der beiden Bücher.
Bald würde Geschäftsschluß sein. Gregorius, das große Buch über das finstere Meer unter dem Arm, rannte. War auf dem Umschlag ein Bild der Frau? Fast riß er der Verkäuferin das Buch aus der Hand und drehte es um.
Estefânia Espinhosa, geboren 1948 in Lissabon, heute Professorin an der Universität Salamanca für die spanische und italienische Geschichte der frühen Neuzeit. Und ein Portrait, das alles erklärte.
Gregorius kaufte das Buch, und auf dem Weg zum Hotel blieb er alle paar Meter stehen, um das Bild zu betrachten. Sie war nicht nur der Ball, der rote irische Ball im College, hörte er Maria João sagen. Sie war viel mehr als alle roten irischen Bälle zusammen: Er muß gespürt haben, daß sie für ihn die Chance war, ganz zu werden. Als Mann, meine ich. Und auch die Worte von João Eça hätten nicht treffender sein können: Estefânia, glaube ich, war seine Chance, endlich aus dem Gerichtshof hinauszutreten, hinaus auf den freien, heißen Platz des Lebens, und dieses eine Mal ganz nach seinen Wünschen zu leben, nach seiner Leidenschaft, und zum Teufel mit den anderen.
Sie war also vierundzwanzig gewesen, als sie sich vor dem blauen Haus ans Steuer setzte und mit Prado, dem achtundzwanzig Jahre älteren Mann, über die Grenze fuhr, weg von O’Kelly, weg von der Gefahr, hinein in ein neues Leben.
Auf dem Rückweg zum Hotel kam Gregorius an der psychiatrischen Klinik vorbei. Er dachte an Prados Nervenzusammenbruch nach dem Diebstahl. Maria João hatte erzählt, daß er sich auf der Station vor allem für diejenigen Patienten interessierte, die, blind in sich selbst verstrickt, auf und ab gingen und vor sich hinsprachen. Er hatte den Blick für solche Leute auch später beibehalten und war erstaunt, wie viele von ihnen es gab, die auf der Straße, im Bus, auf dem Tejo ihre Wut auf imaginäre Gegner hinausschrien.
»Er wäre nicht Amadeu gewesen, wenn er sie nicht angesprochen und sich ihre Geschichte angehört hätte. Das war ihnen noch nie passiert, und wenn er den Fehler machte, ihnen die Adresse zu geben, rannten sie ihm am nächsten Tag die Bude ein, so daß Adriana sie hinauswerfen mußte.«
Im Hotel las Gregorius eine der wenigen Aufzeichnungen aus Prados Buch, die er noch nicht kannte.
O VENENO ARDENTE DO DESGOSTO. DAS GLÜHENDE GIFT DES ÄRGERS. Wenn die anderen uns dazu bringen, daß wir uns über sie ärgern – über ihre Dreistigkeit, Ungerechtigkeit, Rücksichtslosigkeit –, dann üben sie Macht über uns aus, sie wuchern und fressen sich in unsere Seele, denn der Ärger ist wie ein glühendes Gift, das alle milden, noblen und ausgewogenen Empfindungen zersetzt und uns den Schlaf raubt. Schlaflos machen wir Licht und ärgern uns über den Ärger, der sich eingenistet hat wie ein schmarotzender Schädling, der uns aussaugt und entkräftet. Wir sind nicht nur wütend über den Schaden, sondern auch darüber, daß er sich ganz allein in uns entfaltet, denn während wir mit schmerzenden Schläfen auf dem Bettrand sitzen, bleibt der ferne Urheber unberührt von der zersetzenden Kraft des Ärgers, deren Opfer wir sind. Auf der menschenleeren inneren Bühne, in das grelle Licht stummer Wut getaucht, führen wir ganz allein für uns selbst ein Drama auf mit schattenhaften Figuren und schattenhaften Worten, die wir schattenhaften Feinden entgegenschleudern in hilflosem Zorn, den wir als eisig loderndes Feuer im Gedärm spüren. Und je größer unsere Verzweiflung darüber ist, daß es nur ein Schattenspiel ist und keine wirkliche Auseinandersetzung, in der es die Möglichkeit gäbe, dem anderen zu schaden und ein Gleichgewicht des Leids herzustellen, desto wilder tanzen die giftigen Schatten und verfolgen uns bis in die finstersten Katakomben unserer Träume. (Wir werden den Spieß umdrehen, denken wir grimmig, und schmieden nächtelang Worte, die im anderen die Wirkung einer Brandbombe entfalten werden, so daß nun er es sein wird, in dem die Flammen der Empörung wüten, während wir, durch Schadenfreude besänftigt, in heiterer Ruhe unseren Kaffee trinken.)
Was könnte es heißen, es richtig zu machen mit dem Ärger? Wir möchten ja nicht seelenlose Wesen sein, die ganz und gar unangefochten bleiben durch das, was ihnen begegnet, Wesen, deren Bewertungen sich in kühlen, blutleeren Urteilen erschöpften, ohne daß etwas sie aufzuwühlen vermöchte, weil nichts sie wirklich kümmerte. Und deshalb können wir uns nicht ernsthaft wünschen, die Erfahrung des Ärgers überhaupt nicht zu kennen und statt dessen in einem Gleichmut zu verharren, der von öder Gefühllosigkeit nicht zu unterscheiden wäre. Ärger lehrt uns ja auch etwas darüber, wer wir sind. Wissen möchte ich deshalb dieses: Was könnte es heißen, uns im Ärger so zu erziehen und zu bilden, daß wir uns seine Erkenntnis zunutze machten, ohne seinem Gift zu verfallen?
Wir können gewiß sein, daß wir auf dem Sterbebett als Teil der letzten Bilanz festhalten werden – und dieser Teil wird bitter schmecken wie Zyanid –, daß wir zuviel, viel zuviel Kraft und Zeit darauf verschwendet haben, uns zu ärgern und es den anderen in einem hilflosen Schattentheater heimzuzahlen, von dem nur wir, die wir es ohnmächtig erlitten, überhaupt etwas wußten. Was können wir tun, um diese Bilanz zu verbessern? Warum haben uns die Eltern, die Lehrer und die anderen Erzieher nie davon gesprochen? Warum haben sie etwas von dieser gewaltigen Bedeutung nicht zur Sprache gebracht? Uns in dieser Sache keinen Kompaß mitgegeben, der uns hätte helfen können, die Verschwendung unserer Seele an unnützen, selbstzerstörerischen Ärger zu vermeiden?
Gregorius lag lange wach. Ab und zu stand er auf und trat ans Fenster. Die Oberstadt mit der Universität und dem Glockenturm sah jetzt, nach Mitternacht, karg, sakral und auch ein bißchen bedrohlich aus. Er konnte sich einen Landvermesser vorstellen, der vergeblich darauf wartete, daß man ihm Einlaß in den geheimnisvollen Bezirk gewähre.
Den Kopf an einen Berg von Kissen gelehnt, las Gregorius noch einmal die Sätze, in denen Prado sich mehr geöffnet und vor sich selbst offenbart hatte als in allen anderen: Manchmal schrecke ich auf und denke: Der Zug kann jederzeit entgleisen. Ja, meistens erschreckt mich der Gedanke. Doch in seltenen, weißglühenden Momenten durchzuckt er mich wie ein seliger Blitz.
Er wußte nicht, woher das Bild kam, doch auf einmal sah Gregorius diesen portugiesischen Arzt, der vom poetischen Denken als dem Paradies geträumt hatte, zwischen den Säulen eines Kreuzgangs sitzen, mitten in einem Kloster, das zu einem schweigenden Asyl für Entgleiste geworden war. Seine Entgleisung, sie hatte darin bestanden, daß die glühende Lava seiner gequälten Seele mit betäubender Wucht alles verbrannt und weggeschwemmt hatte, was an Knechtung und Überforderung in ihm gewesen war. Er hatte alle Erwartungen enttäuscht und alle Tabus gebrochen, und darin bestand seine Seligkeit. Endlich hatte er Ruhe vor dem gebeugt richtenden Vater, der sanften Diktatur der ehrgeizigen Mutter und der lebenslangen, erstickenden Dankbarkeit der Schwester.
Und auch vor sich selbst hatte er schließlich Ruhe gefunden. Das Heimweh war zu Ende, er brauchte Lissabon und die blaue Farbe der Geborgenheit nicht mehr. Jetzt, da er sich ganz den inneren Sturmfluten überlassen hatte und eins mit ihnen geworden war, gab es nichts mehr, gegen das er einen Schutzwall errichten mußte. Ungehindert von sich selbst, konnte er bis ans andere Ende der Welt reisen. Endlich konnte er durch die verschneiten Steppen Sibiriens nach Vladivostok fahren, ohne bei jedem Klopfen der Räder denken zu müssen, daß er sich von seinem blauen Lissabon entfernte.
Jetzt fiel das Sonnenlicht in den Klostergarten, die Säulen wurden heller und heller und bleichten schließlich ganz aus, so daß nur noch eine leuchtende Tiefe übrigblieb, in der Gregorius den Halt verlor.
Er schreckte auf, ging schwankend ins Bad und wusch sich das Gesicht. Dann rief er Doxiades an. Der Grieche ließ sich den Schwindel in allen Einzelheiten beschreiben. Dann schwieg er eine Weile. Gregorius spürte, wie die Angst in ihm hochkroch.
»Es kann alles mögliche sein«, sagte der Grieche schließlich mit seiner ruhigen Arztstimme. »Das meiste davon ist harmlos, nichts, was man nicht schnell unter Kontrolle bekäme. Aber es müssen Tests gemacht werden. Das können die Portugiesen genausogut wie wir hier. Aber mein Gefühl sagt: Sie sollten nach Hause kommen. Mit den Ärzten in der Muttersprache reden. Angst und Fremdsprache, das paßt nicht gut zusammen.«
Als Gregorius schließlich einschlief, war hinter der Universität der erste Schimmer der Morgendämmerung zu sehen.