30
Silveiras Chauffeur holte Gregorius am späten Vormittag ab. Er hatte die Batterien der Campingsachen aufgeladen und zwei Decken eingepackt, auf denen Kaffee, Zucker und Kekse lagen. Im Hotel ließen sie ihn nicht gern ziehen. »Foi um grande prazer«, sagten sie.
Es hatte in der Nacht geregnet, und auf den Autos lag feiner Sand vom Wüstenwind. Filipe, der Fahrer, öffnete für Gregorius die Tür zum Fond des großen, glänzenden Wagens. Als ich im Wagen über das edle Polster strich – da war Prados Plan zu einem Brief an den Vater geboren worden.
Gregorius war mit seinen Eltern ein einziges Mal im Taxi gefahren, auf der Rückfahrt von einem Urlaub am Thunersee, wo sich der Vater den Fuß verstaucht hatte, so daß es wegen des Gepäcks nicht anders ging. Er hatte dem Vater am Hinterkopf angesehen, wie unwohl ihm war. Für die Mutter war es wie im Märchen gewesen, ihre Augen leuchteten, und sie wollte gar nicht wieder aussteigen.
Filipe fuhr zur Villa und dann zum Liceu. Der Weg, auf dem die Lieferwagen früher die Sachen für die Schulküche gebracht hatten, war vollständig zugewachsen. Filipe, der Fahrer, hielt. »Hier?« fragte er entgeistert. Der schwergewichtige Mann mit Schultern wie ein Pferd wich den Ratten ängstlich aus. Im Büro des Rektors ging er langsam den Wänden entlang, die Mütze in der Hand, und betrachtete die Bilder von Isfahan.
»Und was machen Sie hier drin?« fragte er. »Ich meine, es steht mir nicht zu…«
»Schwer zu sagen«, sagte Gregorius. »Ganz schwer. Sie wissen, was Tagträumen ist. Ein bißchen so ist es. Aber dann auch wieder ganz anders. Ernster. Und verrückter. Wenn die Zeit eines Lebens knapp wird, gelten keine Regeln mehr. Und dann sieht es aus, als sei man übergeschnappt und reif für die Klapsmühle. Doch im Grunde ist es umgekehrt: Dort gehören diejenigen hin, die nicht wahrhaben wollen, daß die Zeit knapp wird. Diejenigen, die weitermachen, als sei nichts. Verstehen Sie?«
»Vor zwei Jahren hatte ich einen Herzinfarkt«, sagte Filipe. »Ich fand es sonderbar, danach wieder zur Arbeit zu gehen. Jetzt fällt es mir wieder ein, ich hatte es ganz vergessen.«
»Ja«, sagte Gregorius.
Als Filipe gegangen war, überzog sich der Himmel, es wurde kühl und dunkel. Gregorius stellte den Ofen an, machte Licht und kochte Kaffee. Die Zigaretten. Er holte sie aus der Tasche. Welche Marke die Zigaretten denn gewesen seien, die er da zum erstenmal im Leben geraucht habe, hatte ihn Silveira gefragt. Dann war er aufgestanden und mit einer Packung dieser Marke zurückgekommen. Hier. War die Marke meiner Frau. Liegt seit Jahren in der Schublade des Nachttischs. Auf ihrer Seite des Betts. Konnte sie nicht wegwerfen. Der Tabak muß staubtrocken sein. Gregorius riß die Packung auf und zündete eine an. Inzwischen konnte er auch inhalieren, ohne zu husten. Der Rauch war scharf und schmeckte nach verbranntem Holz. Eine Welle des Schwindels überspülte ihn, und das Herz schien zu stolpern.
Er las die Stelle bei Jeremia, über die Prado geschrieben hatte, und blätterte zurück zu Jesaja. Denn meine Gedanken sind nicht eure Gedanken, und eure Wege sind nicht meine Wege, spricht der herr, sondern soviel der Himmel höher ist als die Erde, so sind auch meine Wege höher als eure Wege und meine Gedanken als eure Gedanken.
Prado hatte ernst genommen, daß Gott eine Person war, die denken, wollen und fühlen konnte. Dann hatte er sich, wie bei jeder anderen Person, angehört, was er sagte, und hatte gefunden: Mit einem derart überheblichen Charakter will ich nichts zu tun haben. Hatte Gott einen Charakter? Gregorius dachte an Ruth Gautschi und David Lehmann und an seine eigenen Worte über den poetischen Ernst, über den hinaus es keinen größeren Ernst mehr gab. Bern war weit weg.
Eure Unnahbarkeit, Vater. Mamã als die Dolmetscherin, die uns Eure Stummheit übersetzen mußte. Warum habt Ihr nicht selbst über Euch und Eure Gefühle sprechen gelernt? Ich will es Euch sagen: Ihr wart zu bequem, es war so wunderbar bequem, Euch hinter der südländischen Rolle des adligen Familienoberhaupts zu verstecken. Und dazu kam die Rolle des wortkargen Leidenden, bei dem die Sprachlosigkeit eine Tugend ist, nämlich die Größe, sich über die Schmerzen nicht zu beklagen. Und so war Eure Krankheit die Absolution für Euren fehlenden Willen, Euch ausdrücken zu lernen. Eure Arroganz: Die anderen sollten Euch in Eurem Leiden erraten lernen.
Habt Ihr nicht gemerkt, was Ihr an Selbstbestimmung verspieltet, die einer doch nur in dem Maße hat, in dem er versteht, sich zur Sprache zu bringen?
Hast Du nie daran gedacht, Papá, daß es für uns alle auch eine Last sein könnte, daß Du nicht über die Schmerzen sprachst und über die Demütigung des gekrümmten Rückens? Daß Dein stummes, heldenhaftes Ertragen, das nicht ohne Eitelkeit war, für uns bedrängender sein könnte, als wenn Du auch einmal geflucht und Tränen des Selbstmitleids vergossen hättest, die man Dir hätte aus den Augen wischen können? Denn es bedeutete doch: Wir, die Kinder, und vor allem ich, der Sohn, wir hatten, gefangengesetzt im Bannkreis Deiner Tapferkeit, kein Recht, uns zu beklagen, jedes solche Recht war, noch bevor es eingeklagt wurde – ja, bevor einer von uns auch nur daran dachte, es einzuklagen – aufgesogen, verschluckt, vernichtet durch Deine Tapferkeit und Dein tapfer ertragenes Leid.
Du wolltest keine Schmerzmittel, Du wolltest den klaren Kopf nicht verlieren, darin warst Du apodiktisch. Einmal dann, als Du Dich unbeobachtet wähntest, habe ich Dich durch den Türspalt beobachtet. Du nahmst eine Tablette, und nach kurzem Kampf stecktest Du auch die zweite in den Mund. Als ich nach einer Weile wieder hineinsah, lehntest Du im Sessel, den Kopf in den Polstern, die Brille im Schoß, den Mund halb geöffnet. Natürlich war es undenkbar: aber wie gerne wäre ich hineingegangen und hätte Dich gestreichelt!
Kein einziges Mal habe ich Dich weinen sehen, mit unbewegter Miene standest Du dabei, als wir Carlos, den geliebten – auch von Dir geliebten – Hund begruben. Du warst kein seelenloser Mensch, gewiß nicht. Aber warum hast Du ein Leben lang getan, als sei die Seele etwas, dessen man sich schämen müsse, etwas Unziemliches, ein Ort der Schwäche, den man versteckt halten müsse, beinahe um jeden Preis?
Durch Dich haben wir alle von Kind an gelernt, daß wir zuallererst Körper sind und daß nichts in unseren Gedanken ist, was nicht zuvor im Leib war. Und dann – was für ein Paradox! – hast Du uns jede Bildung in Zärtlichkeit vorenthalten, so daß wir gar nicht glauben konnten, daß Du Mamã nahe genug gekommen warst, um uns zu zeugen. Nicht er ist es gewesen, sagte Mélodie einmal, es ist der Amazonas gewesen. Nur einmal habe ich gespürt, daß Du wußtest, was eine Frau ist: als Fátima hereinkam. Nichts an Dir veränderte sich, und es veränderte sich alles. Was ein magnetisches Feld ist – da habe ich es zum erstenmal begriffen.
Hier endete der Brief. Gregorius tat die Bogen zurück in den Umschlag. Dabei bemerkte er eine mit Bleistift geschriebene Notiz auf der Rückseite des letzten Bogens. Was habe ich von Deiner Phantasie gewußt? Warum wissen wir so wenig über die Phantasie unserer Eltern? Was wissen wir von jemandem, wenn wir nichts über die Bilder wissen, die seine Einbildungskraft ihm zuspielt? Gregorius steckte den Umschlag weg und fuhr zu João Eça.