1

 

Der Tag, nach dem im Leben von Raimund Gregorius nichts mehr sein sollte wie zuvor, begann wie zahllose andere Tage. Er kam um Viertel vor acht von der Bundesterrasse und betrat die Kirchenfeldbrücke, die vom Stadtkern hinüber zum Gymnasium führt. Das tat er an jedem Werktag der Schulzeit, und es war immer Viertel vor acht. Als die Brücke einmal gesperrt war, machte er nachher im Griechischunterricht einen Fehler. Das war vorher nie vorgekommen, und es kam auch nachher nie mehr vor. Die ganze Schule sprach tagelang nur von diesem Fehler. Je länger die Diskussion darüber dauerte, desto zahlreicher wurden diejenigen, die ihn für einen Hörfehler hielten. Schließlich gewann diese Überzeugung auch bei den Schülern, die dabeigewesen waren, die Oberhand. Es war einfach nicht denkbar, daß Mundus, wie alle ihn nannten, im Griechischen, Lateinischen oder Hebräischen einen Fehler machte.

Gregorius blickte nach vorn zu den spitzen Türmen des Historischen Museums der Stadt Bern, hinauf zum Gurten und hinunter zur Aare mit ihrem gletschergrünen Wasser. Ein böiger Wind trieb tiefliegende Wolken über ihn hinweg, drehte seinen Schirm um und peitschte ihm den Regen ins Gesicht. Jetzt bemerkte er die Frau mitten auf der Brücke. Sie hatte die Ellbogen auf das Geländer gestützt und las im strömenden Regen, was wie ein Brief aussah. Sie mußte das Blatt mit beiden Händen festhalten. Als Gregorius näher kam, zerknüllte sie das Papier plötzlich, knetete es zu einer Kugel und warf die Kugel mit einer heftigen Bewegung in den Raum hinaus. Unwillkürlich war Gregorius schneller gegangen und war jetzt nur noch wenige Schritte von ihr entfernt. Er sah die Wut in ihrem bleichen, regennassen Gesicht. Es war keine Wut, die sich in lauten Worten würde entladen können, um dann zu verrauchen. Es war eine verbissene, nach innen gewandte Wut, die schon lange in ihr glimmen mußte. Jetzt stützte sich die Frau mit gestreckten Armen auf das Geländer, und ihre Fersen glitten aus den Schuhen. Gleich springt sie. Gregorius überließ den Schirm einem Windstoß, der ihn übers Brückengeländer hinaustrieb, warf seine Tasche voller Schulhefte zu Boden und stieß eine Reihe von lauten Flüchen aus, die nicht zu seinem gewohnten Wortschatz gehörten. Die Tasche ging auf, und die Hefte glitten auf den nassen Asphalt. Die Frau drehte sich um. Für einige Augenblicke sah sie reglos zu, wie die Hefte vom Wasser dunkler wurden. Dann zog sie einen Filzstift aus der Manteltasche, machte zwei Schritte, bückte sich zu Gregorius hinunter und schrieb ihm eine Folge von Zahlen auf die Stirn.

»Entschuldigen Sie«, sagte sie auf französisch, atemlos und mit fremdländischem Akzent, »aber ich darf diese Telefonnummer nicht vergessen und habe kein Papier bei mir.«

Jetzt blickte sie auf ihre Hände, als sähe sie sie zum erstenmal.

»Ich hätte natürlich auch…«, und nun schrieb sie, zwischen Gregorius’ Stirn und der Hand hin und her blickend, die Nummer auf den Handrücken. »Ich… ich wollte sie nicht behalten, ich wollte alles vergessen, aber als ich den Brief dann fallen sah… ich mußte sie festhalten.«

Der Regen auf den dicken Brillengläsern trübte Gregorius die Sicht, und er tastete ungeschickt nach den nassen Heften. Wiederum, so schien ihm, glitt die Spitze des Filzstifts über seine Stirn. Doch dann merkte er, daß es jetzt der Finger der Frau war, die mit einem Taschentuch die Zahlen wegzuwischen versuchte.

»Es ist eine Zumutung, ich weiß…«, und nun begann sie, Gregorius beim Aufsammeln der Hefte zu helfen. Er berührte ihre Hand und streifte ihr Knie, und als sie sich beide nach dem letzten Heft streckten, stießen sie mit dem Kopf zusammen.

»Vielen Dank«, sagte er, als sie sich gegenüberstanden. Er deutete auf ihren Kopf. »Tut es sehr weh?«

Abwesend, mit gesenktem Blick, schüttelte sie den Kopf. Der Regen prasselte auf ihr Haar und lief ihr übers Gesicht.

»Kann ich ein paar Schritte mit Ihnen gehen?«

»Äh… ja, sicher«, stotterte Gregorius.

Schweigend gingen sie zusammen bis zum Ende der Brücke und weiter in Richtung Schule. Das Zeitgefühl sagte Gregorius, daß es nach acht war und die erste Stunde bereits begonnen hatte. Wie weit war »ein paar Schritte«? Die Frau hatte sich seinem Gang angepaßt und trottete neben ihm her, als ginge es den ganzen Tag so weiter. Sie hatte den breiten Kragen des Mantels so weit aufgestellt, daß Gregorius von der Seite nur ihre Stirn sah.

»Ich muß dort hinein, ins Gymnasium«, sagte er und blieb stehen. »Ich bin Lehrer.«

»Kann ich mitkommen?« fragte sie leise.

Gregorius zögerte und fuhr sich mit dem Ärmel über die nasse Brille. »Jedenfalls ist es dort trocken«, sagte er schließlich.

Sie gingen die Stufen hoch, Gregorius hielt ihr die Tür auf, und dann standen sie in der Halle, die besonders leer und still erschien, wenn die Stunden begonnen hatten. Ihre Mäntel tropften.

»Warten Sie hier«, sagte Gregorius und ging zur Toilette, um ein Handtuch zu holen.

Vor dem Spiegel trocknete er die Brille und wischte sich das Gesicht ab. Die Zahlen auf der Stirn waren noch immer zu erkennen. Er hielt einen Zipfel des Handtuchs unter das warme Wasser und wollte gerade zu reiben beginnen, als er mitten in der Bewegung innehielt. Das war der Augenblick, der alles entschied, dachte er, als er sich das Geschehen Stunden später in Erinnerung rief. Mit einemmal nämlich war ihm klar, daß er die Spur seiner Begegnung mit der rätselhaften Frau gar nicht auswischen wollte.

Er stellte sich vor, wie er nachher mit einer Telefonnummer im Gesicht vor die Klasse treten würde, er, Mundus, der verläßlichste und berechenbarste Mensch in diesem Gebäude und vermutlich in der gesamten Geschichte der Schule, seit mehr als dreißig Jahren hier tätig, ohne Fehl und Tadel in seinem Beruf, eine Säule der Institution, ein bißchen langweilig vielleicht, aber geachtet und sogar drüben an der Hochschule gefürchtet wegen seines stupenden Wissens in den alten Sprachen, liebevoll verspottet von seinen Schülern, die ihn in jedem Jahrgang von neuem auf die Probe stellten, indem sie ihn mitten in der Nacht anriefen und nach der Konjektur für eine entlegene Stelle in einem alten Text fragten, nur um jedesmal aus dem Kopf eine ebenso trockene wie erschöpfende Auskunft zu bekommen, die einen kritischen Kommentar zu anderen möglichen Meinungen mit einschloß, alles aus einem Guß und mit einer Ruhe vorgetragen, die nicht die Spur von Ärger über die Störung erkennen ließ – Mundus eben, ein Mann mit einem unmöglich altmodischen, geradezu altertümlichen Vornamen, den man einfach abkürzen mußte und nicht anders als so abkürzen konnte, eine Abkürzung, die überdies das Wesen dieses Mannes ans Licht hob, wie kein anderes Wort es gekonnt hätte, denn was er als Philologe in sich herumtrug, war in der Tat nichts weniger als eine ganze Welt, oder vielmehr mehrere ganze Welten, da er neben jeder lateinischen und griechischen Textstelle auch jede hebräische im Kopf hatte, womit er schon manchen Lehrstuhlinhaber für das Alte Testament in Erstaunen versetzt hatte. Wenn ihr einen wahren Gelehrten sehen wollt, pflegte der Rektor zu sagen, wenn er ihn einer neuen Klasse vorstellte: Hier ist er.

Und dieser Gelehrte, dachte Gregorius jetzt, dieser trockene Mann, der einigen nur aus toten Wörtern zu bestehen schien und der von Kollegen, die ihm seine Beliebtheit neideten, gehässig der Papyrus genannt wurde – dieser Gelehrte würde mit einer Telefonnummer den Raum betreten, die ihm eine verzweifelte, offenbar zwischen Wut und Liebe hin- und hergerissene Frau auf die Stirn gemalt hatte, eine Frau in einem roten Ledermantel und mit einem märchenhaft weichen, südländischen Tonfall, der wie ein endlos in die Länge gezogenes Flüstern klang, das einen schon durch das bloße Anhören zum Komplizen machte.

Als Gregorius ihr das Handtuch gebracht hatte, klemmte die Frau einen Kamm zwischen die Zähne und frottierte mit dem Tuch das lange schwarze Haar, das in dem Mantelkragen lag wie in einer Schale. Der Hausmeister betrat die Halle und warf, als er Gregorius sah, einen verwunderten Blick auf die Uhr über dem Ausgang und dann auf seine Armbanduhr. Gregorius nickte ihm zu, wie er es immer tat. Eine Schülerin hastete an ihnen vorbei, drehte sich im Lauf zweimal um und lief weiter.

»Ich unterrichte dort oben«, sagte Gregorius zu der Frau und zeigte durchs Fenster hinauf zu einem anderen Gebäudeteil. Sekunden verrannen. Er spürte seinen Herzschlag. »Wollen Sie mitkommen?«

Gregorius konnte später nicht glauben, daß er das wirklich gesagt hatte; aber es mußte wohl so gewesen sein, denn auf einmal gingen sie nebeneinander auf das Klassenzimmer zu, er hörte das Quietschen seiner Gummisohlen auf dem Linoleum und das Klacken der Stiefeletten, wenn die Frau den Fuß aufsetzte.

»Was ist Ihre Muttersprache?« hatte er sie vorhin gefragt.

»Português«, hatte sie geantwortet.

Das o, das sie überraschend wie ein u aussprach, die ansteigende, seltsam gepreßte Helligkeit des ê und das weiche sch am Ende fügten sich für ihn zu einer Melodie, die viel länger klang, als sie wirklich war, und die er am liebsten den ganzen Tag lang gehört hätte.

»Warten Sie«, sagte er jetzt, holte sein Notizbuch aus der Jacke und riß ein Blatt heraus: »Für die Nummer.«

Er hatte schon die Hand auf der Klinke, da bat er sie, das Wort von vorhin noch einmal zu sagen. Sie wiederholte es, und da sah er sie zum erstenmal lächeln.

Das Schwatzen brach schlagartig ab, als sie das Klassenzimmer betraten. Eine Stille, die ein einziges Staunen war, füllte den Raum. Gregorius erinnerte sich später genau: Er hatte diese überraschte Stille, diese sprachlose Ungläubigkeit, die aus jedem einzelnen Gesicht sprach, genossen, und er hatte auch seine Freude darüber genossen, daß es ihm möglich war, auf eine Weise zu empfinden, die er sich nicht zugetraut hätte.

Was ist denn jetzt los? Die Frage sprach aus jedem einzelnen der gut zwanzig Blicke, die auf das sonderbare Paar an der Tür fielen, auf Mundus, der mit nasser Glatze und regendunklem Mantel neben einer notdürftig gekämmten Frau mit bleichem Gesicht stand.

»Vielleicht dort?« sagte Gregorius zu der Frau und deutete auf den leeren Stuhl hinten in der Ecke. Dann ging er nach vorn, grüßte wie gewohnt und setzte sich hinters Pult. Er hatte keine Ahnung, was er zur Erklärung hätte sagen können, und so ließ er einfach den Text übersetzen, an dem sie gerade arbeiteten. Die Übersetzungen kamen zögernd, und er fing manch neugierigen Blick auf. Auch verwirrte Blicke gab es, denn er – er, Mundus, der jeden Fehler noch im Schlaf erkannte – ließ reihenweise Fehler, Halbheiten und Unbeholfenheiten durchgehen.

Es gelang ihm zu tun, als blickte er nicht zu der Frau hinüber. Und doch sah er sie in jeder Sekunde, er sah die feuchten Strähnen, die sie aus dem Gesicht strich, die weißen Hände, die sich ineinander krampften, den abwesenden, verlorenen Blick, der zum Fenster hinausging. Einmal holte sie den Stift hervor und schrieb die Telefonnummer auf den Zettel. Dann lehnte sie sich wieder zurück und schien kaum mehr zu wissen, wo sie war.

Es war eine unmögliche Situation, und Gregorius schielte auf die Uhr: noch zehn Minuten bis zur Pause. Da erhob sich die Frau und ging leise zur Tür. Im Türspalt drehte sie sich zu ihm um und legte den Finger an die Lippen. Er nickte, und lächelnd wiederholte sie die Geste. Dann fiel die Tür mit einem leisen Schnappen ins Schloß.

Von diesem Augenblick an hörte Gregorius nichts mehr von dem, was die Schüler sagten. Ihm war, als sei er ganz allein und von einer betäubenden Stille umschlossen. Irgendwann stand er am Fenster und folgte der roten Frauengestalt mit dem Blick, bis sie um die Häuserecke verschwunden war. Er spürte, wie die Anstrengung in ihm nachhallte, die es ihn gekostet hatte, ihr nicht nachzulaufen. Immer wieder sah er den Finger an ihren Lippen, der so vieles bedeuten konnte: Ich will nicht stören, und: Es bleibt unser Geheimnis, aber auch: Lassen Sie mich jetzt gehen, es kann keine Fortsetzung geben.

Als es zur Pause klingelte, blieb er am Fenster stehen. Hinter ihm gingen die Schüler ungewohnt leise aus dem Zimmer. Später ging auch er hinaus, verließ das Gebäude durch den Hintereingang und setzte sich auf der anderen Straßenseite in die Landesbibliothek, wo ihn niemand suchen würde.

Zum zweiten Teil der Doppelstunde war er pünktlich wie immer. Er hatte die Zahlen von der Stirn gerieben, sie nach einer Minute des Zögerns im Notizbuch festgehalten und dann den schmalen Kranz von grauem Haar getrocknet. Nur die feuchten Flecke auf Jacke und Hose verrieten noch, daß es etwas Ungewöhnliches gegeben hatte. Jetzt nahm er den Stoß durchnäßter Hefte aus der Aktentasche.

»Ein Malheur«, sagte er knapp. »Ich bin gestolpert, und da sind sie herausgerutscht, in den Regen. Die Korrekturen dürften trotzdem noch lesbar sein; sonst müßt ihr mit Konjekturen arbeiten.«

So kannten sie ihn, und hörbare Erleichterung ging durch den Raum. Ab und zu noch fing er einen neugierigen Blick auf, und auch ein Rest von Scheu war bei einigen in der Stimme. Sonst war alles wie früher. Er schrieb die häufigsten Fehler an die Tafel. Dann ließ er die Schüler still für sich arbeiten.

Konnte man, was in der nächsten Viertelstunde mit ihm geschah, eine Entscheidung nennen? Gregorius sollte sich die Frage später immer wieder stellen, und nie war er sicher. Doch wenn es keine Entscheidung war – was war es dann?

Es begann damit, daß er die auf ihre Hefte blickenden, nach vorne gebeugten Schüler auf einmal betrachtete, als sähe er sie zum erstenmal.

Lucien von Graffenried, der beim alljährlichen Schachturnier in der Aula, bei dem Gregorius simultan gegen ein Dutzend Schüler spielte, eine Figur heimlich verrückt hatte. Nach den Zügen an den anderen Brettern hatte Gregorius wieder vor ihm gestanden. Er merkte es sofort. Ruhig sah er ihn an. Flammende Röte überzog Luciens Gesicht. »Das hast du doch nicht nötig«, sagte Gregorius, und dann sorgte er dafür, daß diese Partie Remis ausging.

Sarah Winter, die morgens um zwei vor seiner Wohnungstür gestanden hatte, weil sie nicht wußte, was sie mit ihrer Schwangerschaft machen sollte. Er hatte Tee gekocht und zugehört, sonst nichts. »Ich bin so froh, daß ich Ihrem Rat gefolgt bin«, sagte sie eine Woche später, »es wäre viel zu früh gewesen für ein Kind.«

Beatrice Lüscher mit der ebenmäßigen, gestochenen Schrift, die unter der Last ihrer stets perfekten Leistungen erschreckend schnell alt wurde. René Zingg, stets an der untersten Notengrenze.

Und natürlich Natalie Rubin. Ein Mädchen, das mit seiner Gunst geizte und ein bißchen war wie ein höfisches Fräulein aus vergangenen Jahrhunderten, unnahbar, umschwärmt und gefürchtet wegen ihrer spitzen Zunge. Vergangene Woche war sie nach dem Pausenzeichen aufgestanden, hatte sich gestreckt wie jemand, der sich in seinem Körper wohl fühlt, und hatte ein Bonbon aus der Rocktasche geholt. Auf dem Weg zur Tür packte sie es aus, und als sie an ihm vorbeikam, führte sie es zum Mund. Es hatte gerade die Lippen berührt, da brach sie die Bewegung ab, drehte sich zu ihm, hielt ihm das knallrote Bonbon hin und fragte: »Möchten Sie?« Belustigt über seine Verblüffung hatte sie ihr seltenes, helles Lachen gelacht und dafür gesorgt, daß ihre Hand die seine berührte.

Gregorius ging sie alle durch. Zuerst kam es ihm vor, als zöge er nur eine Zwischenbilanz seiner Gefühle für sie. In der Mitte der Bankreihen dann merkte er, daß er immer häufiger dachte: Wieviel Leben sie noch vor sich haben; wie offen ihre Zukunft noch ist; was noch alles mit ihnen passieren kann; was sie noch alles erleben können!

Português. Er hörte die Melodie und sah das Gesicht der Frau, wie es mit geschlossenen Augen hinter dem frottierenden Handtuch aufgetaucht war, weiß wie Alabaster. Ein letztes Mal ließ er den Blick über die Köpfe der Schüler hinweggleiten. Dann erhob er sich langsam, ging zur Tür, wo er den feuchten Mantel vom Haken nahm, und verschwand, ohne sich noch einmal umzudrehen, aus dem Zimmer.

Seine Aktentasche mit den Büchern, die ihn ein Leben lang begleitet hatten, war auf dem Pult zurückgeblieben. Oben an der Treppe hielt er inne und dachte daran, wie er die Bücher alle paar Jahre von neuem zum Binden gebracht hatte, immer in demselben Geschäft, wo man über die abgegriffenen, mürben Seiten lachte, die sich beinahe schon wie Löschpapier anfühlten. Solange die Tasche auf dem Pult lag, würden die Schüler annehmen, er käme wieder. Doch das war nicht der Grund, warum er die Bücher hatte liegenlassen und warum er jetzt der Versuchung widerstand, sie doch noch zu holen. Wenn er jetzt ging, dann mußte er auch von diesen Büchern weggehen. Das spürte er mit großer Klarheit, selbst wenn er in diesem Augenblick, auf dem Weg zum Ausgang, keine Ahnung hatte, was das eigentlich hieß: weggehen.

In der Eingangshalle fiel sein Blick auf die kleine Pfütze, die sich gebildet hatte, als die Frau mit tropfendem Mantel darauf gewartet hatte, daß er von der Toilette zurückkäme. Sie war die Spur einer Besucherin aus einer anderen, fernen Welt, und Gregorius betrachtete sie mit einer Andacht, wie er sie archäologischen Funden gegenüber zu empfinden pflegte. Erst als er den schlurfenden Schritt des Hausmeisters hörte, riß er sich los und verließ rasch das Gebäude.

Ohne sich umzudrehen, ging er bis zu einer Häuserecke, von der aus er ungesehen einen Blick zurückwerfen konnte. Mit einer plötzlichen Wucht, die er sich nicht zugetraut hätte, spürte er, wie sehr er dieses Gebäude und alles, wofür es stand, liebte und wie sehr er es vermissen würde. Er rechnete nach: Vor zweiundvierzig Jahren, als fünfzehnjähriger Gymnasiast, hatte er es zum erstenmal betreten, schwankend zwischen Vorfreude und Beklommenheit. Vier Jahre später hatte er es mit dem Maturitätszeugnis in der Hand verlassen, nur um weitere vier Jahre später wiederzukommen als Vertreter für den verunglückten Griechischlehrer, der ihm seinerzeit die antike Welt aufgeschlossen hatte. Aus dem studierenden Vertreter war ein immer weiterstudierender Dauervertreter geworden, der bereits dreiunddreißig war, als er schließlich sein Universitätsexamen machte.

Gemacht hatte er es nur, weil Florence, seine Frau, darauf gedrängt hatte. An eine Promotion hatte er nie gedacht; wenn man ihn danach fragte, lachte er nur. Auf solche Dinge kam es nicht an. Worauf es ankam, war etwas ganz Einfaches: die alten Texte bis in jede Einzelheit, in jedes grammatische und stilistische Detail hinein zu kennen und zu wissen, was die Geschichte eines jeden Ausdrucks gewesen war. Mit anderen Worten: gut zu sein. Das war nicht Bescheidenheit – im Anspruch an sich selbst war er ganz und gar unbescheiden. Auch war es nicht Verschrobenheit oder eine verdrehte Art von Eitelkeit. Es war, hatte er später manchmal gedacht, eine stille Wut gewesen, die sich gegen eine wichtigtuerische Welt gerichtet hatte, ein unbeugsamer Trotz, mit dem er sich an der Welt der Angeber hatte rächen wollen, unter der sein Vater ein Leben lang gelitten hatte, weil er es nur zum Museumswärter gebracht hatte. Daß die anderen, die viel weniger konnten als er – lachhaft wenig, um die Wahrheit zu sagen –, Examen machten und eine feste Stellung bekamen: Es war, als gehörten sie zu einer anderen, einer unerträglich oberflächlichen Welt mit Maßstäben, für die er nur Verachtung übrig hatte. In der Schule wäre man nie auf die Idee gekommen, ihn zu entlassen und durch jemanden mit Examen zu ersetzen. Der Rektor, selbst Altphilologe, wußte, wie gut Gregorius war – viel besser als er selbst –, und er wußte, daß es unter den Schülern einen Aufstand gegeben hätte. Das Examen, als er es schließlich machte, kam Gregorius lächerlich einfach vor, und er gab nach der Hälfte der Zeit ab. Er hatte es Florence stets ein bißchen übelgenommen, daß sie ihn dazu gebracht hatte, seinen Trotz aufzugeben.

Gregorius wandte sich um und ging langsam in Richtung Kirchenfeldbrücke. Als die Brücke in Sicht kam, hatte er das sonderbare, ebenso beunruhigende wie befreiende Gefühl, daß er im Begriff stand, sein Leben im Alter von siebenundfünfzig Jahren zum erstenmal ganz in die eigenen Hände zu nehmen.

Nachtzug nach Lissabon: Roman
titlepage.xhtml
CR!9MGV7MX01144V8GG7XMGHV5BMA05_split_000.html
CR!9MGV7MX01144V8GG7XMGHV5BMA05_split_001.html
CR!9MGV7MX01144V8GG7XMGHV5BMA05_split_002.html
CR!9MGV7MX01144V8GG7XMGHV5BMA05_split_003.html
CR!9MGV7MX01144V8GG7XMGHV5BMA05_split_004.html
CR!9MGV7MX01144V8GG7XMGHV5BMA05_split_005.html
CR!9MGV7MX01144V8GG7XMGHV5BMA05_split_006.html
CR!9MGV7MX01144V8GG7XMGHV5BMA05_split_007.html
CR!9MGV7MX01144V8GG7XMGHV5BMA05_split_008.html
CR!9MGV7MX01144V8GG7XMGHV5BMA05_split_009.html
CR!9MGV7MX01144V8GG7XMGHV5BMA05_split_010.html
CR!9MGV7MX01144V8GG7XMGHV5BMA05_split_011.html
CR!9MGV7MX01144V8GG7XMGHV5BMA05_split_012.html
CR!9MGV7MX01144V8GG7XMGHV5BMA05_split_013.html
CR!9MGV7MX01144V8GG7XMGHV5BMA05_split_014.html
CR!9MGV7MX01144V8GG7XMGHV5BMA05_split_015.html
CR!9MGV7MX01144V8GG7XMGHV5BMA05_split_016.html
CR!9MGV7MX01144V8GG7XMGHV5BMA05_split_017.html
CR!9MGV7MX01144V8GG7XMGHV5BMA05_split_018.html
CR!9MGV7MX01144V8GG7XMGHV5BMA05_split_019.html
CR!9MGV7MX01144V8GG7XMGHV5BMA05_split_020.html
CR!9MGV7MX01144V8GG7XMGHV5BMA05_split_021.html
CR!9MGV7MX01144V8GG7XMGHV5BMA05_split_022.html
CR!9MGV7MX01144V8GG7XMGHV5BMA05_split_023.html
CR!9MGV7MX01144V8GG7XMGHV5BMA05_split_024.html
CR!9MGV7MX01144V8GG7XMGHV5BMA05_split_025.html
CR!9MGV7MX01144V8GG7XMGHV5BMA05_split_026.html
CR!9MGV7MX01144V8GG7XMGHV5BMA05_split_027.html
CR!9MGV7MX01144V8GG7XMGHV5BMA05_split_028.html
CR!9MGV7MX01144V8GG7XMGHV5BMA05_split_029.html
CR!9MGV7MX01144V8GG7XMGHV5BMA05_split_030.html
CR!9MGV7MX01144V8GG7XMGHV5BMA05_split_031.html
CR!9MGV7MX01144V8GG7XMGHV5BMA05_split_032.html
CR!9MGV7MX01144V8GG7XMGHV5BMA05_split_033.html
CR!9MGV7MX01144V8GG7XMGHV5BMA05_split_034.html
CR!9MGV7MX01144V8GG7XMGHV5BMA05_split_035.html
CR!9MGV7MX01144V8GG7XMGHV5BMA05_split_036.html
CR!9MGV7MX01144V8GG7XMGHV5BMA05_split_037.html
CR!9MGV7MX01144V8GG7XMGHV5BMA05_split_038.html
CR!9MGV7MX01144V8GG7XMGHV5BMA05_split_039.html
CR!9MGV7MX01144V8GG7XMGHV5BMA05_split_040.html
CR!9MGV7MX01144V8GG7XMGHV5BMA05_split_041.html
CR!9MGV7MX01144V8GG7XMGHV5BMA05_split_042.html
CR!9MGV7MX01144V8GG7XMGHV5BMA05_split_043.html
CR!9MGV7MX01144V8GG7XMGHV5BMA05_split_044.html
CR!9MGV7MX01144V8GG7XMGHV5BMA05_split_045.html
CR!9MGV7MX01144V8GG7XMGHV5BMA05_split_046.html
CR!9MGV7MX01144V8GG7XMGHV5BMA05_split_047.html
CR!9MGV7MX01144V8GG7XMGHV5BMA05_split_048.html
CR!9MGV7MX01144V8GG7XMGHV5BMA05_split_049.html
CR!9MGV7MX01144V8GG7XMGHV5BMA05_split_050.html
CR!9MGV7MX01144V8GG7XMGHV5BMA05_split_051.html
CR!9MGV7MX01144V8GG7XMGHV5BMA05_split_052.html
CR!9MGV7MX01144V8GG7XMGHV5BMA05_split_053.html
CR!9MGV7MX01144V8GG7XMGHV5BMA05_split_054.html
CR!9MGV7MX01144V8GG7XMGHV5BMA05_split_055.html
CR!9MGV7MX01144V8GG7XMGHV5BMA05_split_056.html
CR!9MGV7MX01144V8GG7XMGHV5BMA05_split_057.html
CR!9MGV7MX01144V8GG7XMGHV5BMA05_split_058.html
CR!9MGV7MX01144V8GG7XMGHV5BMA05_split_059.html
CR!9MGV7MX01144V8GG7XMGHV5BMA05_split_060.html
CR!9MGV7MX01144V8GG7XMGHV5BMA05_split_061.html
CR!9MGV7MX01144V8GG7XMGHV5BMA05_split_062.html