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So lange wie möglich hielt sich Gregorius mit dem Blick an den letzten Häusern der Stadt Bern fest. Als sie ihm schließlich unwiderruflich aus dem Blick gerieten, holte er das Notizbuch hervor und begann, die Namen der Schüler aufzuschreiben, die er im Laufe der Zeit unterrichtet hatte. Er setzte mit dem vorangegangenen Jahr ein und arbeitete sich nach rückwärts in die Vergangenheit. Zu jedem Namen suchte er das Gesicht, eine charakteristische Geste und eine sprechende Episode. Die drei letzten Jahre gelangen ihm mühelos, danach hatte er immer öfter das Gefühl, daß jemand fehlte. Mitte der neunziger Jahre bestanden die Klassen nur noch aus wenigen Gesichtern und Namen, und danach verwischte sich die zeitliche Reihenfolge. Übrig blieben nur noch einzelne Jungen und Mädchen, mit denen er Besonderes erlebt hatte.

Er klappte das Notizbuch zu. Von Zeit zu Zeit war er in der Stadt einem Schüler oder einer Schülerin begegnet, die er vor vielen Jahren unterrichtet hatte. Es waren jetzt keine Jungen und Mädchen mehr, sondern Männer und Frauen mit Partnern, Berufen und Kindern. Er erschrak, wenn er die Veränderungen in den Gesichtern sah. Manchmal galt sein Erschrecken dem Ergebnis der Veränderung: einer zu frühen Verbitterung, einem gehetzten Blick, einem Anzeichen von ernster Krankheit. Meistens jedoch war, was ihn zusammenfahren ließ, die bloße Tatsache, daß die veränderten Gesichter vom unaufhaltsamen Verrinnen der Zeit und dem unbarmherzigen Verfall alles Lebendigen zeugten. Er blickte dann auf seine Hände, an denen sich erste Altersflecke zeigten, und manchmal holte er Fotos von sich als Student hervor und versuchte sich zu vergegenwärtigen, wie es gewesen war, diese lange Strecke bis heute zurückzulegen, Tag für Tag, Jahr für Jahr. An solchen Tagen war er schreckhafter als sonst, und dann kam es vor, daß er unangemeldet in der Praxis von Doxiades erschien, um sich wieder einmal die Angst vor dem Erblinden ausreden zu lassen. Am meisten aus dem Gleichgewicht brachten ihn Begegnungen mit Schülern, die inzwischen viele Jahre im Ausland gelebt hatten, auf einem anderen Kontinent, in einem anderen Klima, mit einer anderen Sprache. Und Sie? Immer noch im Kirchenfeld?, fragten sie, und ihre Bewegungen verrieten, daß sie weitergehen wollten. In der Nacht nach einer solchen Begegnung pflegte er sich zuerst gegen diese Frage zu verteidigen und später gegen das Gefühl, sich verteidigen zu müssen.

Und jetzt, wo ihm all das durch den Kopf ging, saß er, seit mehr als vierundzwanzig Stunden ohne Schlaf, im Zug und fuhr einer ungewissen Zukunft entgegen, wie er sie noch nie vor sich gehabt hatte.

Der Aufenthalt in Lausanne war eine Versuchung. Am selben Bahnsteig gegenüber fuhr der Zug nach Bern ein. Gregorius stellte sich vor, wie er im Berner Bahnhof aussteigen würde. Er sah auf die Uhr. Wenn er ein Taxi ins Kirchenfeld nähme, könnte er es zur vierten Unterrichtsstunde gerade noch schaffen. Der Brief – er müßte morgen den Briefträger abfangen oder Kägi bitten, ihm den Umschlag ungeöffnet zurückzugeben. Unangenehm, aber nicht unmöglich. Jetzt fiel sein Blick auf das Notizbuch auf dem Abteiltisch. Ohne es zu öffnen, sah er die Liste der Schülernamen vor sich. Und auf einmal begriff er: Was als der Versuch begonnen hatte, sich nach dem Entgleiten der letzten Berner Häuser an etwas Vertrautem festzuhalten, war im Laufe der folgenden Stunde immer mehr zu einem Abschiednehmen geworden. Um von etwas Abschied nehmen zu können, dachte er, während der Zug sich in Bewegung setzte, mußte man ihm auf eine Weise entgegentreten, die inneren Abstand schuf. Man mußte die unausgesprochene, diffuse Selbstverständlichkeit, mit der es einen umfangen hatte, in eine Klarheit verwandeln, die erkennen ließ, was es einem bedeutete. Und das hieß, daß es zu etwas gerinnen mußte, das übersichtliche Konturen hatte. Zu etwas, das so übersichtlich war wie die Liste der vielen Schüler, die sein Leben mehr bestimmt hatten als alles andere. Es war Gregorius, als ließe der Zug, der jetzt aus dem Bahnhof rollte, auch ein Stück von ihm selbst hinter sich zurück. Ein bißchen kam es ihm vor, als triebe er auf einer Eisscholle, die sich durch ein sanftes Erdbeben gelöst hatte, aufs offene, kalte Meer hinaus.

Als der Zug an Fahrt gewann, schlief er ein und erwachte erst, als er spürte, wie der Wagen im Bahnhof von Genf zum Stehen kam. Auf dem Weg zum französischen Hochgeschwindigkeitszug war er aufgeregt, als bräche er zu einer wochenlangen Reise mit der Transsibirischen Eisenbahn auf. Kaum hatte er sich auf seinen Platz gesetzt, füllte sich der Wagen mit einer französischen Reisegesellschaft. Ein Geschnatter voll von hysterischer Eleganz füllte den Wagen, und als sich jemand mit offenem Mantel über ihn beugte, um sein Gepäck auf die Ablage zu tun, wurde ihm die Brille heruntergerissen. Da tat Gregorius etwas, das er von sich aus noch nie getan hatte: Er nahm seine Sachen und wechselte in die erste Klasse.

Die wenigen Gelegenheiten, bei denen er bisher erster Klasse gefahren war, lagen zwanzig Jahre zurück. Es war Florence gewesen, die damals darauf gedrängt hatte, er hatte sich gefügt und sich mit einem Gefühl der Hochstapelei auf das teure Polster gesetzt. Findest du mich einen Langweiler?, hatte er sie nach einer dieser Fahrten gefragt. Wie? Aber Mundus, so etwas kannst du mich doch nicht fragen!, hatte sie gesagt und war sich mit der Hand auf eine Art durchs Haar gefahren, wie sie es stets tat, wenn sie nicht weiterwußte. Als Gregorius jetzt, während der Zug sich in Bewegung setzte, mit beiden Händen über das vornehme Polster strich, kam ihm sein Tun wie eine verspätete, kindische Rache an ihr vor, deren Sinn er nicht so recht verstand. Er war froh, daß niemand in der Nähe saß, der ihm die unverstandene Empfindung hätte ansehen können.

Er erschrak über die Höhe des Zuschlags, den er dem Schaffner zu zahlen hatte, und als der Mann gegangen war, zählte er zweimal sein Geld. Er sagte sich die Geheimzahl seiner Kreditkarte vor und schrieb sie ins Notizbuch. Kurze Zeit später riß er die Seite heraus und warf sie weg. Bei Genf hatte es aufgehört zu schneien, und jetzt sah er seit Wochen zum erstenmal wieder die Sonne. Sie wärmte ihm hinter der Scheibe das Gesicht, und er wurde ruhiger. Er hatte immer viel zuviel Geld auf seinem Girokonto, das wußte er doch. Was machen Sie denn bloß?, sagte die Bankangestellte, wenn sie wieder einmal sah, was sich angesammelt hatte, weil er so wenig abhob. Sie müssen doch etwas mit Ihrem Geld machen! Sie legte es für ihn an, und so war er über die Jahre zu einem wohlhabenden Mann geworden, der von seinem Wohlstand nichts zu wissen schien.

Gregorius dachte an seine beiden Lateinbücher, die er gestern zu dieser Stunde auf dem Pult zurückgelassen hatte. Anneli Weiss stand vorne drin, geschrieben mit Tinte in einer kindlichen Handschrift. Für neue Bücher hatte zu Hause das Geld gefehlt, und so hatte er die Stadt abgesucht, bis er in einem Antiquariat gebrauchte Exemplare fand. Als er seinen Fund vorzeigte, hatte sich der Adamsapfel des Vaters heftig bewegt, er bewegte sich stets heftig, wenn dem Vater etwas auf der Seele lag. Zuerst hatte ihn der fremde Name in den Büchern gestört. Doch dann hatte er sich die frühere Besitzerin als Mädchen mit weißen Kniestrümpfen und wehenden Haaren vorgestellt, und bald schon hätte er die gebrauchten Bücher um keinen Preis mehr gegen neue eintauschen mögen. Trotzdem hatte er es dann genossen, als er mit dem Geld, das er als Unterrichtsvertreter zu verdienen begann, die alten Texte in schönen, teuren Ausgaben kaufen konnte. Das war jetzt mehr als dreißig Jahre her, und ein bißchen unwirklich kam es ihm auch heute noch vor. Noch vor kurzem hatte er vor den Regalen gestanden und gedacht: Daß ich mir eine solche Bibliothek leisten kann!

Langsam verformten sich die Erinnerungsbilder in Gregorius zu Traumbildern, in denen das schmale Buch, in dem die Mutter aufschrieb, was sie durch Putzen verdiente, stets von neuem auftauchte wie ein quälendes Irrlicht. Er war froh, als er durch das Geräusch eines zersplitternden Glases geweckt wurde, das jemandem vom Tisch gefallen war.

Eine Stunde noch bis Paris. Gregorius setzte sich in den Speisewagen und blickte in einen hellen Vorfrühlingstag hinaus. Und da, auf einmal, wurde ihm klar, daß er diese Reise tatsächlich machte – daß sie nicht nur eine Möglichkeit war, etwas, das er sich in einer schlaflosen Nacht ausgedacht hatte und das hätte sein können, sondern etwas, das wirklich und wahrhaftig stattfand. Und je mehr Raum er dieser Empfindung gab, desto mehr schien es ihm, daß sich die Verhältnisse, was Möglichkeit und Wirklichkeit betraf, umzukehren begannen. War es nicht eigentlich so, daß Kägi, seine Schule und all die Schüler, die in seinem Notizbuch standen, zwar wirklich gewesen waren, aber doch nur als Möglichkeiten, die sich zufällig verwirklicht hatten, während das, was er in diesem Moment erlebte – das Gleiten und gedämpfte Donnern des Zuges, das leise Klirren der Gläser, die sich auf dem Nebentisch berührten, der Geruch nach ranzigem Öl, der aus der Küche kam, der Rauch der Zigarette, an der der Koch hin und wieder zog –, eine Wirklichkeit besaß, die nichts mit bloßer Möglichkeit zu tun hatte und auch nicht mit verwirklichter Möglichkeit, die vielmehr einfache und pure Wirklichkeit war, angefüllt mit der Dichte und überwältigenden Zwangsläufigkeit, die etwas auszeichnete, das ganz und gar wirklich war?

Gregorius saß vor dem leer gegessenen Teller und der dampfenden Kaffeetasse und hatte das Gefühl, noch nie in seinem gesamten Leben so wach gewesen zu sein wie jetzt. Und es war, schien ihm, nicht eine Sache des Grades, wie wenn jemand langsam den Schlaf abschüttelte und immer wacher wurde, bis er ganz da war. Es war anders. Es war eine andere, neue Art von Wachheit, eine neue Art, in der Welt zu sein, von der er bisher nichts gewußt hatte. Als der Gare de Lyon in Sicht kam, ging er zu seinem Platz zurück, und als er nachher den Fuß auf den Bahnsteig setzte, schien es ihm, als stiege er zum erstenmal bei vollem Bewußtsein aus einem Zug.

Nachtzug nach Lissabon: Roman
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