Kapitel 7
Es ist eine intime Angelegenheit, mit jemandem zu schlafen.
Das hatte Addie schon hundertmal in den verschiedensten Formulierungen zu hören bekommen. Auch die Nonnen hatten damals, vor all den Jahren, darauf hinausgewollt. Und in ihren Worten hatte eine grundlegende Wahrheit gesteckt. Oh, wie sehr wünscht sie sich jetzt, sie hätte sie sich zu Herzen genommen!
Verschenkt euch nicht leichtfertig, pflegten sie zu sagen. Verkauft euch nicht zu billig. Euer Körper ist ein Tempel. Addie erinnert sich an die Heiterkeit im Umkleideraum und daran, wie sie die Nonnen hinter deren Rücken verspottet hatten. Wie oft hatten sie ihren Akzent nachgeahmt und ihre salbungsvolle Sprechweise verhöhnt. Mit ihren sechzehn Jahren waren sie bereits Veteraninnen in einer Welt, welche die Nonnen niemals kennenlernen würden.
Die Mädchen hatten ein anderes Vokabular dafür, Ausdrücke, die eigens dazu gedacht waren, der Sache die Intimität zu entziehen. Sie sprachen davon, es »mit jemandem zu machen«. Später hieß es dann, sie hätten es »mit ihm getrieben«, und es dauerte nicht lange, bis sie ihm auch »einen bliesen«. Und zu guter Letzt war nur noch vom »Vögeln« die Rede. Wie hatte Della diese lieblose Sprache genossen!
Selbst jetzt schwelgt Della gerne in Erinnerungen an ihre wilde Vergangenheit. Sie denkt gern an ihre Eroberungen zurück, je schlüpfriger, desto besser. Sie erinnert sich an die Roadies, die Geschäftsleute auf der Durchreise und die Collegedozenten und auch noch an das Wo, Was und Wie. Sie kann laut darüber lachen. Es tut ihr gut, sich an ihre verrückten Jahre zu erinnern. Nun, da sie endgültig und unwiederbringlich vorbei sind.
Bei Addie ist das ganz anders. Sie denkt voller Schrecken an ihre intimen Begegnungen von früher zurück. Sie verfolgen und demütigen sie und fallen blitzartig über sie her. Sie hat Dinge gesagt, die sie nie hätte sagen sollen. Oh, die Dinge, die sie im Taumel der Leidenschaft vorgeschlagen hat. Impulsive Dinge, die man nicht mehr ungeschehen machen kann.
Zum Beispiel der Tag, als sie ihren Freund vom Flughafen abgeholt hat, nur in einem langen Wintermantel mit nichts darunter. Kein Höschen, kein BH, nur ein Paar hohe Wildlederstiefel und den fest um die Taille gegürteten Mantel. Seit Tagen hatte sie es geplant. Während seiner Abwesenheit hatte sie sich ausgemalt, wie sie es ihm in der Ankunftshalle ins Ohr flüstern würde. Wie er die Hand unter den Mantel schieben würde, um sich zu vergewissern. Wie sie auf der Fahrt den Mantel öffnen würde, so dass es ihn nicht mehr in seinem Sitz hielt. Wie sie ihn wegschieben musste, damit sie keinen Unfall bauten.
Nur, dass alles ganz anders gekommen war. Sein Gepäck war verschwunden, so dass sie stundenlang auf dem Flughafen warten mussten. Die ganze Zeit war sie in Sorge, der Mantel könne auseinanderklaffen. Und als sie endlich am Auto saßen, stritten sie, und Addie war völlig durchgefroren und hatte eine Gänsehaut. Sie setzte ihn in der Stadt ab. Danach trafen sie sich zwar noch ein paarmal, doch sie wussten beide, dass es aus war. Hin und wieder begegnet sie ihm noch zufällig im Supermarkt. Dann betreiben sie Smalltalk, während seine beiden Kinder im Einkaufswagen sitzen, und Addie würde am liebsten im Erdboden versinken.
Erinnerungen wie diese steigen immer wieder hoch. Sie brodeln in ihrem Kopf wie ein giftiger Eintopf. Ein zurückgewiesener Annäherungsversuch. Ein Missverständnis wegen einer Valentinskarte. Eine zweideutige SMS, versehentlich an einen Auftraggeber geschickt. Passieren solche Sachen auch anderen Leuten oder nur Addie? Kommen andere Leute darüber hinweg?
Es ist, als litte sie an der Bluterkrankheit. Die Wunden wollen einfach nicht heilen.
Ständig kreist sie um längst Vergangenes. Eher um die kleinen Dinge als um die großen. Vielleicht deshalb, weil die jüngere Vergangenheit so weh tut, dass sie bis jetzt noch nicht einmal darüber sprechen kann.
Ihr wird schon flau, wenn man es nur erwähnt, so als stünde sie auf dem schwankenden Deck eines Schiffs. Sie weiß nicht, in welche Worte sie die Geschichte kleiden soll. Keines fühlt sich im Mund richtig an. Alle, die ihr dazu einfallen, scheinen zu hart und zu scharfkantig zu sein, wie Steinchen auf der Zunge.
In ihrem Kopf läuft es immer noch als Stummfilm ab.
Sie liegt, starr wie eine Mumie, im Krankenhausbett. Ihr Kopf ruht auf einem Kissenstapel, ihre nackten Arme sind auf der Bettdecke ausgestreckt. Sie ist mit Schläuchen verkabelt. Eine dicke Plastikröhre pumpt Dreck aus der Wunde in ihrem Unterleib. Ein dünner Schlauch, verbunden mit einer Nadel in ihrem Handrücken, versorgt sie mit Antibiotika. Ein hässlicher Bluterguss breitet sich wie ein Fleck in Richtung Handrücken aus. Das Klebeband, das die Nadel am Verrutschen hindert, juckt; außerdem wellt es sich und sitzt schief. Wie gerne würde sie es entfernen, doch sie befürchtet, dabei die Nadel herauszuziehen. Sie will schließlich niemandem zur Last fallen. Also versucht sie, an etwas anderes zu denken, um sich abzulenken.
Links von ihrem Bett: ein großes, rechteckiges Fenster. Auf dem Fensterbrett: eine Reihe leerer Blumenvasen. Draußen vor dem Fenster: endloser Regen. Wenn sie den Kopf nach rechts dreht, hat sie ihren Nachttisch vor sich. Darauf drängen sich die gelben Rosen, die Della mitgebracht hat, die Lilien von ihrem Dad und die selbstgebastelten Karten von den Mädchen.
Keine Blumen von David, nur einige atemlose Nachrichten auf ihrer Mailbox, eine Litanei von Ausflüchten und Versprechungen. Ich müsste mich morgen loseisen können, sagte er, als sie ihn zurückrief. Gleich in der Früh geht ein Flieger. Alle waren begeistert von der Ausstellung, fügte er hinzu. Eine New Yorker Galerie hat Interesse gezeigt.
Toll, hatte sie erwidert. Spitze. Ich freue mich für dich.
Seine Bilder waren Müll, das hatte sie schon immer gewusst, es sich allerdings nie zuvor eingestanden. Es war nicht so wichtig gewesen, nicht bis sie hier im Krankenhaus lag. Durch das Krankenhaus wurde plötzlich alles wichtig.
Ein Mann wird nur wenige Male im Leben auf die Probe gestellt, sagte Hugh später. Er erkennt die Prüfung selten, während sie gerade stattfindet. Und wenn ihm klarwird, dass es eine Prüfung war, ist es zu spät. Doch sein Verhalten im fraglichen Moment ist es, was ihn ausmacht, was seine Persönlichkeit definiert. Man braucht nicht eigens zu erwähnen, dass David mit fliegenden Fahnen scheiterte.
Gut, er hatte sie ins Krankenhaus gebracht. Der Fairness halber muss man erwähnen, dass er sie sogar bis ins Wartezimmer begleitet hatte und bei ihr geblieben war, bis sie von einer Schwester in Empfang genommen wurde. Doch er würde zu spät zum Flughafen kommen, und wenn er den Flieger nicht erwischte, würde er die Vernissage verpassen. Addie hatte doch Verständnis dafür, oder? Als man sie zur CT-Untersuchung brachte, war er bereits draußen auf der Straße und winkte hektisch nach einem Taxi. Als der Arzt auf den Bildschirm wies, Addie die Flüssigkeit zeigte, die ihre Bauchhöhle füllte, und auf die Stelle deutete, wo sie in den Brustraum eindrang, was die Schmerzen unter den Schlüsselbeinen erklärte, und als er ihr das Ausmaß ihrer inneren Blutungen erklärte, saß David im Taxi und raste durch den Port Tunnel in Richtung Flughafen. Als man sie auf die Operation vorbereitete und den Anästhesisten zur Eile antrieb, weil keine Zeit mehr zu verlieren sei, versuchte er, sie noch einmal anzurufen, während er in der Schlange an der Sicherheitskontrolle stand. Gib mir Bescheid, wie es dir geht, sprach er auf die Mailbox. Dann schaltete er das Telefon ab, legte es in einen Korb und stellte diesen auf das Fließband vor dem Röntgengerät.
Er rief noch einmal vor dem Einsteigen an, aber die Mailbox war abgeschaltet. Als der Getränkewagen durch die Sitzreihen geschoben wurde, bestellte er einen Wodka Tonic, und sobald er den Drink geleert hatte, schlief er ein. Die Stewardess musste ihn wecken, damit er für die Landung seine Sitzlehne aufrichtete. Als er erneut vom Gepäckband anrief, hatte er Della am Apparat, und ihr Tonfall war eindeutig kühl. Sie hätten Addie retten können, teilte sie ihm mit. Allerdings nicht das Baby.
Selig sind die Unwissenden. David hatte nicht die leiseste Ahnung, dass es sich um eine Prüfung handelte. Er kam überhaupt nicht auf den Gedanken, dass er Grund hatte, sich Vorwürfe zu machen. Nicht einmal, als er drei Tage später ins Krankenhaus spaziert kam, eine Schachtel Duty-Free-Pralinen in der Hand und den zusammengerollten Londoner Independent in der Tasche, um ihr die Kritik zu zeigen.
Er hätte den Zeitpunkt nicht schlechter wählen können, denn als er aus dem Lift trat, stieß er geradewegs mit Hugh zusammen.
Vom Krankenhaus aus fuhr er schnurstracks zum nächsten Polizeirevier und erstattete Anzeige wegen Körperverletzung. Den Polizisten blieb nichts anderes übrig, als dem Krankenhaus einen Besuch abzustatten. Schließlich hatten sie es mit einer Straftat zu tun, so dass alle Zeugen befragt werden mussten. Als sie Hugh zu einem Gespräch in sein Büro folgten, quietschten die Sohlen ihrer schweren Stiefel auf dem Linoleumboden.
Hugh legte sofort ein Geständnis ab und zeigte nicht die Spur von Reue. »Ich habe ihm eine kleine Lektion erteilt, mehr nicht«, verkündete er. »Das hat er sich selbst zuzuschreiben.«
»Der Bursche ist ein Halunke«, fügte er der Erklärung halber hinzu. »Ein Halunke und ein Taugenichts.« Die Polizisten amüsierten sich über die altmodische Ausdrucksweise. Überhaupt fanden sie die Angelegenheit urkomisch, eine willkommene Abwechslung zwischen all den Säufern und Fixern, mit denen sie sich sonst herumschlagen mussten. Also schüttelten sie Hugh die Hand, steckten ihre Notizbücher in die Brusttasche und trollten sich.
Sie würden die Sache nicht weiter verfolgen. Man konnte ja nie wissen, wann man einmal einen Arzt brauchte.
David ward nie wieder gesehen. Er wagte es nicht mehr, sich blicken zu lassen.
Als Addie aus dem Krankenhaus nach Hause kam, sammelte sie seine Sachen ein und verstaute sie in einem Karton. Es gab nicht viel zu packen, ein paar T-Shirts, einige schwarze Jeans und abgetragene Socken. Da ihr sein dünner Wollschal immer so gefallen hatte, behielt sie ihn. Dann nahm sie das selbstgemalte Bild von der Wand, das er ihr zu Weihnachten geschenkt hatte, wickelte es in Luftpolsterfolie und legte es in den Kofferraum. Sie überlegte kurz, ob sie es ihm zurückgeben sollte. Aber vielleicht war es ja das Einfachste, es einer Wohltätigkeitsorganisation zu spenden.
Einige Wochen lang fuhr sie mit dem Bild im Kofferraum herum. Und dann, eines Tages, hielt sie an und warf es in einen Müllcontainer am Straßenrand. Sie tat es nicht aus Wut, Verbitterung oder Trauer, sondern war einfach nur zu dem Schluss gekommen, dass ihr das Bild ohnehin nie gefallen hatte. Sie hatte es nur aus Höflichkeit aufgehängt. Außerdem war sie absolut sicher, dass es nie etwas wert sein würde.
»Gut, dass du den miesen Kerl los bist«, sagte Della jedes Mal, wenn die Sprache auf ihn kam.
»David, wer war das noch mal?«, versuchte Simon, sie aufzumuntern.
»Ich habe ihn in die Wüste geschickt«, verkündete Hugh dann stolz. »Da hatte er die Rechnung ohne den Wirt gemacht.«
Addie bedauerte wirklich nicht, dass er fort war. Sie wusste, dass er nichts taugte und dass er die Prüfung nicht bestanden hatte. Die Sache war nur, dass niemand sie gefragt hatte, was sie eigentlich wollte.
Es war keiner auch nur auf den Gedanken gekommen.
Hatte sie David je geliebt? Rückblickend betrachtet, eher nicht. Ja, sie hatte sich von ihm angezogen gefühlt, denn er war genau ihr Typ: langhaarig, schlaksig und mit dem Äußeren eines Luftikus. Als er sich mit ihr verabreden wollte, hatte sie sich geschmeichelt gefühlt. Sie war sich nicht sicher gewesen, was er an ihr fand, doch der Gedanke, dass da wohl etwas sein musste, war beruhigend.
Es fiel ihr leicht, sich an seinen Lebensstil zu gewöhnen, und so lösten Vernissagen und Nachtclubbesuche einander ab. Sie gingen zu Abendeinladungen, wo die Gäste bei Tisch offen ihre Joints zückten, und tranken literweise Rotwein. An den Wochenenden hingen sie herum und pflegten ihren Kater. Sie ernährten sich hauptsächlich vom Heimservice und sahen viel fern. Und zwischen all den Feten und den Katern gelang es ihnen sogar, hin und wieder ein wenig zu arbeiten. Keiner erwartete viel vom anderen, was eine angenehme Geborgenheit vermittelte. Aber nein, sie hatte sich keinen Moment lang in dem Irrglauben gewiegt, dass sie ihn liebte.
Das Schlimme war nur, dass sie sechs Jahre ihres Lebens an ihn verschwendet hatte.
Nach der Trennung von David hatte sich Addie in die Arbeit gestürzt. Rund um die Uhr zu schuften war ihre Methode, der Misere zu entfliehen.
Anbauten waren momentan der letzte Schrei. Offenbar wollte die ganze Welt plötzlich einen Anbau haben. Und allen schwebte der gleiche Anbau vor, eine lichtdurchflutete Küche im amerikanischen Stil mit Küchenblock und Glastüren, die in den kläglichen Überrest ihres Gartens führten. Sie forderten Veluxfenster, Pastelltöne und Designerfliesen. Und Addie las ihnen jeden Wunsch von den Augen ab.
Und dann, beinahe über Nacht, blieben die Aufträge aus.
Als das Telefon in der ersten Augustwoche zu läuten aufhörte, schob Addie das zunächst auf die Urlaubszeit. Doch der September kam, ohne dass sich etwas daran geändert hätte. Addie überwachte die Fertigstellung der noch offenen Projekte, hakte die Mängellisten ab – und dann hatte sie nichts mehr zu tun.
Zu ihrem Erstaunen stellte sie fest, dass sie das überhaupt nicht störte. So wie immer setzte sie sich jeden Morgen an den Zeichentisch, nur dass sie nicht mehr ständig vom Telefon gestört wurde. Sie musste keine grässlichen Beratungsgespräche, endlosen Tassen Kaffee oder ausführlichen Debatten über die Eignung von Travertin als Belag für den Küchenfußboden über sich ergehen lassen. Und auch das ewige Brüten über Farbkarten von Farrow and Ball blieb ihr erspart. Es hatte sie unglaubliche Selbstbeherrschung gekostet, stillzusitzen und zu nicken, als ob sie dieser Mist interessierte. Am liebsten wäre sie nämlich laut schreiend aufgesprungen. Das ist doch scheißegal, du blöde Kuh! Sie hatte Mühe gehabt, es sich zu verkneifen.
Auf das Geld dieser Leute war sie nicht angewiesen, was es noch schwieriger machte, sie zu ertragen. Ihre Wohnung war abbezahlt, sie brauchte keinen Kredit zu tilgen. Außerdem war noch genug Geld von ihrer Mum übrig, um ihr Auskommen zu sichern. Sie gab ohnehin kaum etwas aus.
Also hatte Addie kein Problem damit, dass die Aufträge ausblieben. Sie nahm die Farbkarten aus ihrem Aktenkoffer und hängte sie über ihrem Schreibtisch an die Wand. Wenn man sie von ihrer Zweckgebundenheit befreite und ihnen eine eigenständige Existenz gestattete, waren sie wunderschön.
Ihre kleinen Tintenfässer hat sie auf das Fensterbrett neben ihrem Schreibtisch gestellt, wo sich jetzt das Licht in ihnen fängt. Am frühen Abend, wenn die Sonne sie bescheint, leuchten sie wie Buntglas, jede Farbe von atemberaubender Schönheit. Addie kann sich nicht entscheiden, welche Farbe sie am liebsten hat. Also sitzt sie da und versucht, eine auszuwählen. Apfelgrün oder Kobaltblau. Das Violett, auf dessen Etikett eine Pflaume abgebildet ist. Sonnengelb. Kanariengelb. Scharlachrot. Ocker. Manche mag sie wegen ihrer Namen. Karminrot. Viridiangrün. Zinnoberrot. Bei anderen begeistern sie die Etikette. Die langbeinige Spinne auf der schwarzen Tinte und der Frosch auf dem Brillantgrün. Sie liebt diese Tinten und braucht sie nur anzusehen, um glücklich zu sein.
Sie hat auch Freude daran, ihre Buntstifte zu sortieren und die blauen, grünen und violetten zusammen in ein Marmeladenglas zu stellen. Die sonnigen Farben wie Gelb, Rot und Orange kommen in ein anderes Glas und bilden eine wundervolle Farbenpracht.
Sie weiß zwar, dass es albern ist, seine Zeit mit solchen Dingen zu verbringen, aber es macht ihr Spaß und schadet niemandem. Ein harmloses Vergnügen, sagt sie sich. Endlich entdecke ich die Freuden harmloser Vergnügungen.
Manchmal fragt sich Della, ob Addie vielleicht ein kleines bisschen autistisch ist. In einer ganz leichten Ausprägung, ohne dass es jemals diagnostiziert worden wäre. Zum Beispiel stellt sie ihre Kaffeetassen umgedreht in Reih und Glied so ins Regal, dass die Henkel alle in dieselbe Richtung zeigen. Wenn die Kinder ihre Stifte durcheinanderbringen, lacht sie zwar darüber, aber es ist klar, dass sie sich am Abend damit beschäftigen wird, sie wieder zu sortieren.
»Es gefällt mir, wie du das Wort leicht verwendest«, sagt Hugh schnaubend.
Della zieht sie deshalb auf. »Monica«, meint sie, »du verhältst dich wieder wie Monica.« Dann lacht Addie und tut so, als wäre sie beleidigt. Aber eigentlich stört es Addie nicht, Monica zu sein. Sie war eben schon immer ein ordentlicher Mensch. Inzwischen grenzt es ans Pathologische. Ein harmloses Vergnügen, denkt sie, wenn sie alle ihre Schuhe mit Schuhspannern versieht und sie in einem Ständer am Boden ihres Schrankes aufreiht.
Manchmal hat sie das Gefühl, dass sie ihre Angelegenheiten wegen eines bevorstehenden Abschieds ordnet. Sie stellt sich vor, dass ihr Leben zur Neige geht, dass sie nur die Zeit totschlägt.
Jeder kennt die Situation: Man ist auf einer Hochzeit oder Abendeinladung mit Tanz und sehnt deren Ende herbei, damit man nach Hause gehen kann.
Der Stehempfang war nett, das Essen war gut. Doch nun ist die Mahlzeit vorbei, und die Tische sind beiseitegeschoben, um Platz zum Tanzen zu schaffen. Man sitzt noch am letzten Glas Wein. Beim Essen hat man sich mit jemandem unterhalten, aber jetzt sind alle zum Rauchen nach draußen verschwunden und haben einen allein gelassen. Es ist noch zu früh, um sich zu verdrücken; es wäre auch unhöflich. Doch sobald die Band zu spielen anfängt und die Leute auf der Tanzfläche sind, kann man sich unauffällig aus dem Staub machen. Man kann sich noch leise von den Gastgebern verabschieden. Oder man steht einfach auf, um zur Toilette zu gehen, und kommt nicht zurück. Es bemerkt sowieso niemand.
Die Band stimmt ein Beach-Boys-Medley an. Die Männer legen die Jacken ab, die Frauen ziehen die Schuhe aus, um in Strümpfen zu tanzen.
Man steht, den Mantel über dem Arm, in der Tür und lässt den Blick durch den Raum schweifen, um festzustellen, ob man sich bei jemandem abmelden muss. Doch es scheint kein Mensch mitbekommen zu haben, dass man gehen möchte.
Gerade will man verschwinden, aber in diesem Moment spielt die Band das Lied, das einem am besten gefällt. Das, bei dem man schon immer Lust zum Tanzen gekriegt hat. Bei dem man alle Probleme vergisst und wieder Spaß am Leben bekommt. Man verharrt in der Tür und weiß nicht, was man tun soll. Bleiben oder gehen?
Und in dieser Phase befand sich Addie, als sie Bruno begegnete.