Kapitel 5

Sie bemerkte ihn, sobald sie die Straße überquerte, er war ja auch kaum zu übersehen. Ein kräftig gebauter Mann in einer dick wattierten Jacke und mit einer komischen Mütze auf dem Kopf. Er saß auf der letzten Bank, der, die gleich neben den Stufen stand.

So früh am Morgen sitzen die Leute normalerweise nicht auf den Bänken herum, sondern tun irgendetwas Produktives. Entweder führen sie ihre Hunde auf der Promenade herum, joggen oder betreiben Powerwalking. Schemenhafte Gestalten, die in der Dämmerung an einem vorbeiflitzen. Für gewöhnlich sind sie mit irgendeinem Gerät zum Abspielen von Musik verkabelt oder in dicke Schals gehüllt. Um diese Uhrzeit achtet niemand auf den anderen. Das ist eine stillschweigende Übereinkunft.

Vielleicht fiel er ja deshalb auf. Ein Mensch, der morgens auf einer Bank saß, verhielt sich eindeutig merkwürdig. Etwas stimmte nicht mit ihm.

Addie beschloss, ihn sich aus der Nähe anzusehen.

Sie überquerte an der üblichen Stelle die Straße, indem sie vom Gehweg auf die Fahrbahn trat und Ausschau nach einer Lücke im Verkehr hielt. Abzuwarten, bis die Ampel auf Rot umsprang, war ihr zu lästig. Auf der anderen Seite hob sie den Hund hoch, warf ihn über die Kaimauer, kletterte selbst hinauf, blieb einen Moment rittlings sitzen und schwang dann die Beine nacheinander hinüber.

Um zur Treppe zu kommen, musste sie an dem Mann vorbei. Sie achtete darauf, ihm nicht etwa einen Seitenblick zuzuwerfen, sondern marschierte einfach weiter und setzte sich wie immer auf die oberste Stufe. Sie ließ sich Zeit, als sie den Hund von der Leine nahm, und sprach dabei mit ihm.

Obwohl sie dem Mann den Rücken zukehrte, spürte sie seinen Blick.

»So, das hätten wir, braves Mädchen. Hör auf zu zappeln, sonst kriege ich die Leine nicht ab, du Dummerchen. Und jetzt lauf.«

Im nächsten Moment war der Hund verschwunden. Er rannte in einem weiten Bogen und schwanzwedelnd vor Glückseligkeit die Rampe hinunter zum Strand.

Addie verharrte noch eine Weile auf der Stufe. Sie zog die Knie an die Brust und genoss den Anblick des glücklichen kleinen Hundes und des Strandes und den schönen Morgen. Hie und da wies der Sand weiße Rauhreifflecken auf, was den Hund zu verwirren schien, denn er lief hin und her und schnupperte argwöhnisch daran. Dann sah er Addie hilfesuchend und verdattert an. Das war so komisch, dass man sich ein Schmunzeln nicht verkneifen konnte.

Von der Bank wehte ein Geräusch herüber, das wie ein Lachen klang.

Addie wandte sich um. Diese kleine Drehung war erlaubt. Also bewegte sie den Oberkörper und spähte über die Schulter. Kichernd beobachtete er den Hund. Sein Gesicht hatte den für Menschen in diesen Situationen typischen Ausdruck. Man hätte meinen können, dass es sein Hund wäre.

Um ihm keine Gelegenheit zu geben, sie anzusprechen, fuhr sie herum und betrachtete wieder das Meer. Dann sprang sie auf und lief zum Strand hinunter, wo sie das Ballwurfgerät hob und dem Tennisball einen kräftigen Schubs versetzte, so dass er hoch in den Himmel hineinschoss. Lola sauste sofort hinterher. Ihr Schwanz rotierte wie der Propeller eines Helikopters.

»Mann, war das ein Wurf«, rief er freundlich.

Addie tat, als hätte sie ihn nicht gehört, nahm den iPod aus der Tasche und blieb am Fuße der Treppe stehen, um die Kabel zu entwirren. Dann stöpselte sie die Kopfhörer ein, wickelte sich den Schal zweimal um den Hals und schob die Enden vorne in ihren Mantel, um die Kälte auszusperren. Anschließend wählte sie ein Lied aus, stellte die höchstmögliche Lautstärke ein, wandte sich zum Meer um, schloss die Augen und steuerte auf den Horizont zu.

 

Das Mädchen und der kleine Hund am Strand gaben ein hübsches Bild ab. Sie einfach nur zu beobachten machte ihn glücklich.

Es war ein atemberaubend schöner Tag. Der Himmel war klar, so weit das Auge reichte, das Wasser schimmerte blau. Die gefrorenen Stellen am Strand erinnerten an die Scherben eines Spiegels. Bruno spürte die warme Sonne auf dem Gesicht. Seine Jacke war ihm beinahe zu warm, doch er wollte sie nicht ausziehen. Um diese Jahreszeit war es ein Geschenk, wenn man schwitzte.

Das Mädchen war inzwischen so weit draußen, dass sie wie ein Strichmännchen wirkte. Ein schwarzer Mantel mit schwarzen Stöckchen als Arme und Beine.

Bruno sah zu, wie sie den Arm über den Kopf nach hinten schwang und das Ballwurfgerät betätigte, so dass der Tennisball in einem makellosen Bogen viel weiter flog, als man es für möglich gehalten hätte. Jedes Mal stürmte der Hund platschend ins seichte Wasser, um ihn zu holen. Sie musste den Ball etwa hundertmal geworfen haben. Bruno hatte nicht mitgezählt.

Hinter ihr war der Himmel von grell rosafarbenen Streifen durchzogen. Das Mädchen war wie ein Schattenriss vor einem strahlenden Hintergrund.

Inzwischen stand sie, reglos wie eine Statue, am Wasser. Sie verharrte dort eine lange Zeit, und Bruno konnte sich die Frage nach dem Warum nicht verkneifen.

Er ertappte sich bei dem Wunsch, sie möge sich umdrehen.

 

Es war kalt am Strand. Ein beißender Wind fegte darüber hinweg. Addies Wangen brannten, und ihre Nase war taub. Doch ihr Körper war warm, wenn auch das Innere ihres Schals vom Hineinatmen ein wenig feucht geworden war.

Sie hörte Tom Waits.

And those were the days of roses,

Poetry and prose. And Martha

All I had was you and all you had was me.

Eigentlich wäre sie jetzt gerne nach Hause gegangen, aber das war unmöglich, weil sie warten musste, bis der Mann verschwunden war. Schließlich konnte er nicht den ganzen Tag dort sitzen. Immer wieder wandte sie sich um und warf einen Blick auf die Promenade, in der Erwartung, die Bank leer vorzufinden. Aber er war immer noch da, als ob er auf sie wartete.

Mist, dachte sie. Wenn ich noch länger hier herumstehe, erfriere ich.

 

Er saß da und sah zu, wie sie zurückkam.

Sie hüpfte hin und her. Er vermutete – irrtümlicherweise, wie sich herausstellte –, dass sie den Pfützen ausweichen wollte.

Anfangs dachte er, dass sie Selbstgespräche führte. Sie hatte den Kopf gesenkt und redete im Gehen. Ob sie mit dem Hund sprach? Doch der war gar nicht in der Nähe, sondern umkreiste sie in weiten Bogen. Da fiel es ihm wie Schuppen von den Augen. Sie redete nicht, sie sang.

Der Wind trug Musikfetzen zu ihm hinüber, als drehe man auf der Suche nach dem richtigen Sender am Radio herum. Als er endlich klaren Empfang hatte, erkannte er das Lied nicht, so falsch sang sie.

Man musste die Melodie ausblenden und sich stattdessen auf den Text konzentrieren. Schließlich hatte er das Lied identifiziert und konnte sich ein Schmunzeln nicht verkneifen. Unwillkürlich sang er mit.

And a little rain never hurt no one.

Bei jedem Schritt konnte er sie deutlicher erkennen. Sie trug einen dicken schwarzen Mantel und einen riesigen bunten Schal, den sie mehrmals um die Schultern geschlungen hatte. Inzwischen hatte sie auch eine Mütze auf. Er war sicher, dass die dunkelblaue Baskenmütze vorher nicht da gewesen war. Hinter den Ohren lugten honigblonde Haarsträhnen hervor.

Sie hatte ein fröhliches Gesicht, so wie ein kleines Kind es malen würde. Kreisrund mit ebenfalls runden großen Augen und leuchtend rosigen Wangen.

Bruno mochte sie auf Anhieb. Später würde es ihm erscheinen wie Liebe auf den ersten Blick.

 

Sie spürte, dass er sie beobachtete. Er machte nicht den geringsten Hehl daraus.

Sie senkte den Kopf, um ihn nicht ansehen zu müssen, und betrachtete beim Gehen ihre Turnschuhe.

Dabei versuchte sie, sich auf die Musik zu konzentrieren. Sie durfte nicht vergessen, nicht mitzusingen. Selbst so weit draußen war es nicht sicher. Manchmal trug der Wind Geräusche direkt ans Ufer.

Sie hüpfte im Sand hin und her und wählte jeden Sprung mit Bedacht, um genau auf der Schale einer Scheidenmuschel zu landen. Sie liebte das satte Knirschen unter ihren Füßen.

Etwa hundert Meter vor der Promenade blickte sie rasch auf, um festzustellen, wo er war. Dann plante sie ihre Route. Sie würde bis zum anderen Ende des Strandes marschieren, die Treppe am Martello Tower nehmen, die Straße an der Ampel überqueren und dann auf dem Gehweg zurückkehren. Auf diese Weise musste sie nicht an ihm vorbei; sie konnte einen Bogen um ihn machen und sich unbemerkt ins Haus schleichen.

Das war zwar nicht sehr nett, aber unvermeidlich.

Sie nahm die Hundeleine, die um ihren Hals hing, und wandte sich suchend nach Lola um. Sie war spurlos verschwunden. Addie drehte sich um die eigene Achse, um festzustellen, ob sie hinter ihr war. Fehlanzeige. Erst als sie wieder zum Ufer sah, entdeckte sie sie.

Natürlich stand sie schwanzwedelnd ausgerechnet am Fuße der Treppe und wartete auf Addie. Also blieb ihr nichts anderes übrig, als ihr zu folgen.

Den Kopf gesenkt und die Hände tief in den Taschen, setzte Addie sich in Bewegung. Sie spürte zwar, dass er sie beobachtete, war aber fest entschlossen, ihn nicht anzusehen. Sie würde den Hund anleinen und schnurstracks an ihm vorbeimarschieren. Obwohl es schon ziemlich spät dafür war, wollte sie auf keinen Fall mit ihm sprechen.

Als sie sich der Treppe näherte, fing Lola an, im Kreis herumzuwirbeln. Im nächsten Moment kauerte sie sich auf die Hinterbeine und machte ein riesiges Häufchen in den Sand. Spitze, dachte Addie, das hat mir gerade noch gefehlt. Sie überlegte, ob sie den Kot einfach liegenlassen sollte. Doch das war unmöglich, solange er dasaß und ihr dabei zuschaute.

Also wühlte sie in ihrer Tasche nach einem Tütchen und stieß stattdessen auf ihre Schlüssel. Sie holte sie heraus, nahm sie in die andere Hand und tastete weiter, bis sie die Rolle mit den Tütchen fand. Sie klemmte sich das lose Ende der Rolle zwischen die Zähne und zog, bis ihr ein Tütchen aus dem Mund baumelte. Dabei sah sie ihn aus dem Augenwinkel an.

Dann ging sie zu der Stelle, wo Lola ihr Geschäft gemacht hatte, und bückte sich so anmutig wie möglich. Sie benutzte das Tütchen wie einen Handschuh, um Hautkontakt zu vermeiden, hob Lolas Hinterlassenschaft auf, drehte das Tütchen um, knotete es zu und hielt es mit zwei Fingern so weit wie möglich von sich weg.

Die Schlüssel in der einen, das Tütchen in der anderen Hand, ging sie langsam und so würdevoll, wie es unter den gegebenen Umständen möglich war, die Treppe hinauf.

Oben angekommen, richtete sie sich auf. Er betrachtete sie mit einem belustigten Funkeln in den Augen, als hätte sie gerade etwas Komisches getan. Dann hob er die Hand und winkte ihr zu, eine vertraute Geste, wie unter Bekannten.

Sie lächelte verkniffen und nickte kurz, um seinen Gruß zu erwidern. Im nächsten Moment richtete sie sich kerzengerade auf und marschierte zum Hundeeimer, um das Tütchen hineinzuwerfen. Nachdem sie den Deckel kräftig zugeknallt hatte, machte sie kehrt, ging die Promenade entlang, ohne ihn noch einmal anzusehen, und rief dabei nach ihrem kleinen Hund.

 

Addie traute ihren Ohren nicht, als sie seine Stimme hörte. Sie konnte es nicht fassen und brauchte sich nicht einmal umzudrehen, um zu wissen, dass er es war. Plötzlich stieg Wut in ihr auf.

Ich will nicht, zischte sie. Ich will nicht. Sie beschleunigte ihren Schritt und hastete auf die Lücke in der Mauer zu.

Hey!

Trotz Musik und Verkehrslärm konnte sie ihn hören.

Vom Rand des Fußwegs aus konnte sie ihn aus dem Augenwinkel erkennen. Er stand neben der Bank, eine lächerlich wirkende Gestalt mit Bart und alberner Mütze, hob einen Arm wie zum Gruß und rief ihr etwas nach.

»Warten Sie!«

Sie tat, als habe sie ihn nicht bemerkt, stand weiter am Randstein und hielt Ausschau nach einer Lücke im Verkehr.

Ein Wagen stoppte, und der Fahrer gab ihr ein Zeichen, worauf sie losrannte. Lola rannte ebenfalls, offenbar ohne die Situation merkwürdig zu finden.

Inzwischen war ihr klar, dass er ihr folgte. Eine Autohupe ertönte, und sie hörte ihn rufen. Allerdings konnte sie ihn in ihrer Aufregung nicht verstehen. Mittlerweile war er so dicht hinter ihr, dass es kein Entrinnen gab.

Also blieb sie unvermittelt stehen, drehte sich um und versuchte, Erstaunen vorzutäuschen. Nacheinander nahm sie die Kopfhörer heraus und legte sie auf die rechte Handfläche wie Würfel, die man gleich werfen möchte.

»Verzeihung«, sagte sie so kühl wie möglich. »Ich habe Sie nicht gehört.«

Er war vor ihr stehen geblieben, beugte sich vor und stützte keuchend die Hände auf die Oberschenkel. Die Ohrenklappen seiner Mütze baumelten zu beiden Seiten seines Gesichts wie Hundeohren. Wortlos hob er die rechte Hand. Zwischen Daumen und Zeigefinger baumelte etwas.

Ein Schlüsselbund, der ihr sehr bekannt vorkam.

Sie starrte auf die Schlüssel. Ihre Gedanken überschlugen sich, als sie versuchte zu verstehen, was sie da sah. Ihr Blick wanderte zu ihrer Hand, wo der Schlüsselbund hätte sein sollen, doch da war nur das Tütchen mit dem Hundekot. Plötzlich dämmerte ihr, was geschehen war, und sie sah ihn voller Entsetzen an.

Mit einem Mal wirkte er überhaupt nicht mehr bedrohlich. Er stand da, krümmte sich noch immer japsend nach der Verfolgungsjagd, musterte sie aus braunen Augen und hielt ihr die Schlüssel hin wie eine Friedensgabe.

Addie lehnte sich an den Torpfosten und warf lachend den Kopf zurück.

Und so fing alles an.

 

Später zog er die Sache natürlich ins Lächerliche.

Was ich alles veranstaltet habe, damit diese Frau auf mich aufmerksam wurde. Stell dir vor, ich musste sogar in Scheiße wühlen!

Addie lachte dann stets, machte gute Miene zum bösen Spiel und ließ ihn die Geschichte erzählen.

»Eigentlich blieb mir gar nichts anderes übrig, als mit ihm zu schlafen«, sagte sie danach zu ihrer Schwester. »Ich hatte mich so schlecht benommen, dass er eine Entschuldigung verdient hatte.«