Kapitel 3
Er war nicht sicher, wie er sich verhalten sollte.
Inzwischen hatte er ihnen mehrere Nachrichten hinterlassen. Eine am ersten Tag, und gestern noch zwei weitere. Doch er hatte nichts von ihnen gehört, kein Sterbenswörtchen. Er wollte nicht noch einmal anrufen. Schließlich war er ja kein Stalker.
Vielleicht hörten sie ihre Nachrichten ja gar nicht ab? Viele Leute taten das nicht regelmäßig. Oder sie hatten versucht, ihn zurückzurufen, und keine Verbindung bekommen. Oder es gab ein Problem mit der Nummer. Es bestand natürlich auch die Möglichkeit, dass sie verreist waren.
Er wusste so wenig über sie. Er hatte seine Schwester zwar gründlich ins Verhör genommen, allerdings nur mit geringer Ausbeute. Das war vor fast dreißig Jahren, hatte Eileen sich gerechtfertigt. Damals war sie erst 22, inzwischen ist sie 51.
Zwei Monate hatte Eileen bei ihnen verbracht, und sie konnte sich nur an eine Sache erinnern: Da waren zwei kleine Mädchen, vielleicht mit einem guten Jahr Altersunterschied. Sie hatten Namen wie aus dem Märchenbuch – Imelda und Adeline. Ihre Mutter war tot. Man hatte Eileen nie verraten, woran sie gestorben war. Im Haus fehlte jede Spur von ihr; nichts wies darauf hin, dass es sie je gegeben hatte. Das Haus selbst stand direkt am Strand, das wusste sie noch genau. Aus dem Wohnzimmerfenster konnte man zwei große Schornsteine sehen.
Strand Road lautete die Adresse. Bruno hatte sie im Telefonbuch entdeckt und neben der Nummer auf einem Zettel notiert. Dann hatte er sich bei der Inhaberin der Pension erkundigt, ob es denn weit sei. Strand Road?, hatte sie wiederholt und ihn mit einem Blick bedacht, als sei er nicht ganz richtig im Kopf. Das ist doch gleich um die Ecke, fuhr sie fort. Am Tor links und dann wieder links.
Er beschloss, am Haus vorbeizugehen und Ausschau zu halten. Vielleicht konnte er ja irgendein Lebenszeichen entdecken. Nach dem Frühstück würde er einen Strandspaziergang unternehmen und dabei das Haus ausfindig machen. Nur um die Lage zu sondieren.
Der Strand ist ein Stadtstrand, der die östliche Grenze der Hauptstadt bildet.
Dazwischen liegt einer der exklusivsten Vororte, ein Gewirr aus teuren viktorianischen Backsteinhäusern und Villen im Regency-Stil, ein reizendes Mischmasch aus Häusern am Meer. Zu Boomzeiten hätte man hier schon für eine Gartenlaube eine Million Euro bezahlt. Der Grund war die Lage am Meer, wie die Immobilienmakler erklärten. Jeder wollte am Meer wohnen.
Bruno schlenderte den Fußweg entlang und ließ die gepflegten Einfahrten auf sich wirken. In den kleinen Vorgärten drängten sich mehrere deutsche Autos. Außerdem waren die Fensterrahmen frisch gestrichen. Da Bruno in einer Stadt am Meer aufgewachsen ist, weiß er, dass Fensterrahmen alle zwei Jahre gestrichen werden müssen, um so auszusehen.
Einige der Häuser tragen Nummern, andere nicht. Manche haben Namen wie »Vista Mar« oder »Rusheen«. Immer wenn Bruno zu einem numerierten Haus kommt, benutzt er es als Orientierungspunkt und schaut nach rechts und nach links, um festzustellen, welchem System diese Numerierung folgt. Dann zählt er die Häuser ab und versieht jedes numerierte Haus, an dem er vorbeikommt, mit einer Nummer. So zählt er immer weiter. Die Straße wird nur auf einer Seite von Häusern gesäumt. Als er das nächste numerierte Haus erreicht, erlebt er einen kurzen Moment der Genugtuung: Er hat sich nicht verrechnet.
Offenbar nähert er sich seinem Ziel, er ist nur noch ein paar Häuser entfernt. Er kommt an einigen niedrigen Bungalows vorbei, die ein Stück von der Straße zurückversetzt sind. Die nächsten Häuser sind Reihenhäuser, bestehend aus vier Einheiten. Sie ragen hoch hinaus und sind anmutig proportioniert. Breite steinerne Vortreppen führen jeweils zu den Eingangstüren.
Das erste Reihenhaus ist blassrosa gestrichen, das nächste pastellblau. Es sind maritime Farben, die nebeneinander gut wirken und einen hübschen Kontrast bilden. Das dritte Haus hingegen ist ungestrichen und hat eine Fassade aus stumpfgrauem Stein. Es ist ein numeriertes Haus. An der Innenseite des Oberlichts über der Eingangstür kleben abblätternde weiße Zahlen.
Das ist das Haus seines Cousins.
Bruno verharrt eine Weile am Tor. Er bemerkt das Unkraut, das aus dem Kies in der Einfahrt hervorlugt, und auch den verbeulten Kleinwagen, der neben dem Kellerabgang parkt. Der schwarze Lack an den Geländern müsste erneuert werden, und auf den Stufen wuchern Flechten. Er betrachtet die undurchdringlich schwarzen Fenster, zwei oben und eines unten.
Während er so dasteht, bemerkt er, dass sich am unteren Fenster etwas bewegt. Also schaut er genauer hin, um festzustellen, ob da jemand ist oder ob es sich um eine optische Täuschung handelt. Doch er kann nichts erkennen, nur blindes Glas, aus dem ihm der Himmel unbeugsam entgegenfunkelt.
Im nächsten Moment kommt er wieder zur Vernunft. Ihm wird klar, dass er dasteht und ihr Haus anstarrt. Gaffen gehört sich nicht. Schließlich könnte ja doch jemand zu Hause sein und ihn beobachten. Also wendet er sich rasch ab und hastet den Gehweg entlang wie jemand, der vom Tatort eines Verbrechens flieht. Erst an der Ecke bleibt er stehen. Er schaut in beide Richtungen, um kein Auto zu übersehen, überquert die Straße und schlüpft durch eine Lücke in der Mauer hinaus auf die Promenade.
Er ist müde.
Erst als er sich auf eine Bank fallen lässt, wird ihm klar, wie hundemüde er ist. Er ist so müde, dass er sich an Ort und Stelle hinlegen und einschlafen könnte wie ein Obdachloser. Da ihn hier niemand kennt, wäre das durchaus eine Option.
Dennoch bringt er es nicht über sich, so groß die Versuchung auch sein mag. Also zwingt er sich, aufrecht sitzen zu bleiben, und kuschelt sich tief in seine wattierte Jacke. Es ist eine der seltsamsten Phasen seines Lebens, und er ist völlig ratlos. Er weiß nicht, was er mit sich anfangen soll.
Inzwischen schläft er auch tagsüber. Er kehrt in sein Zimmer in der Pension zurück, eigentlich, um ein paar Stunden zu lesen und sich auszuruhen. Doch schon eine Minute später findet er sich in einer Art Wachkoma wieder. So, als hätte man ihm ein Narkosemittel verabreicht, und er könne dennoch das Gespräch der Ärzte belauschen.
Er schläft und ist sich dabei dessen bewusst. Wie kann das sein? Wie kann man schlafen und gleichzeitig spüren, dass sich das eigene Gesicht unangenehm ins Kissen drückt, dass das harte Taillenbündchen der Jeans einem in die Hüfte schneidet, dass man friert und trotzdem nicht in der Lage ist, unter die Decke zu schlüpfen? Er nimmt wahr, dass irgendwo in den tieferen Etagen der Alltag weitergeht. Ein Staubsauger springt an und verstummt wieder. Ein Telefon läutet und läutet. Bruno liegt da, hört und fühlt das alles, kann sich jedoch nicht rühren.
Wenn es ihm endlich gelingt, sich aus diesem seltsamen Dämmerzustand zu reißen, stellt er fest, dass er zittert und dass sein Blutdruck abgesackt ist. Er friert von innen heraus wie ein Proband in einem wissenschaftlichen Experiment. Um sich wieder einigermaßen normal zu fühlen, muss er sich ins Dorf schleppen und noch eine Tasse Kaffee trinken. Er schläft, und wenn er aufwacht, trinkt er wieder einen Kaffee. Und dann fragt er sich, ob er deshalb nachts an Schlafstörungen leidet.
Es könnte am Jetlag liegen, denkt er, an der Zeitumstellung. Es könnte auch eine Depression sein, eine posttraumatische Belastungsstörung. Nur, dass er sich nicht depressiv fühlt. Eigentlich fühlt er sich einfach nur müde.
Er hält sich vor Augen, dass eine Menge geschehen ist.
Erst vor drei Wochen hat er, einen Pappkarton mit all seinen Sachen darin unter dem Arm, das Lehman-Gebäude verlassen. Draußen auf dem Bürgersteig machten die Touristen Fotos, während Polizisten versuchten, sie hinter die Barrikaden zurückzudrängen. Es gibt hier nichts zu sehen, sagten sie. Sie werden keine Promis zu Gesicht kriegen, nur Leute, die gerade arbeitslos geworden sind.
Auf der anderen Straßenseite hatten sich Fernsehreporter in einem großen Bogen aufgestellt. Ihre Übertragungswagen summten. Im Vorbeigehen fragte sich Bruno, warum sie sich in Formation angeordnet hatten wie ein Vogelschwarm, der irgendeiner unausgesprochenen Regel des Universums folgt. Erst als er sich zu Hause durch die Kanäle schaltete, hatte er den Grund verstanden. Auf diese Weise kam nämlich das Firmenschild der Bank hinter der Schulter des jeweiligen Reporters ins Bild. Beim Sprechen rutschte er ein wenig zum Bildschirmrand und beugte sich zur Seite. »Hinter mir sehen Sie, wie die Mitarbeiter der Bank mit ihrer persönlichen Habe aus dem Gebäude kommen. Viele von ihnen haben den Großteil des Wochenendes im Büro verbracht und auf Nachrichten gewartet. Ich habe heute Morgen mit einigen von ihnen gesprochen, und aus ihren Äußerungen schlug mir das blanke Entsetzen entgegen. Man spricht von einem finanziellen Tsunami.«
Die anderen gingen ins Bobby Van’s, um ihre Sorgen zu ertränken, und wollten Bruno zum Mitkommen überreden. Doch Bruno war zu erschöpft. Stattdessen fuhr er nach Hause und setzte sich aufs Sofa, um live im Fernsehen mitzuerleben, wie sich sein Leben in eine Trümmerwüste verwandelte. Er schaltete zwischen den Sendern hin und her und ließ die Beiträge auf sich wirken; Stunde um Stunde brandeten immer wieder die gleichen Phrasen über ihn hinweg. Die Sache folgte eindeutig einem Drehbuch, das er vielleicht irgendwann begreifen würde, wenn er es nur oft genug hörte.
Er war ja nicht nur seinen Job los, sondern auch den Großteil seiner Ersparnisse. Die Hälfte seines Gehalts der letzten knapp sechs Jahre hatte sich mit einem Schlag und unwiederbringlich in Luft aufgelöst. Das Eigenartige war, dass ihn die Sache so gar nicht berührte. Er empfand sogar eine seltsame Erleichterung, eine Art Adrenalinrausch, wie ein Mann, der beim Heimkommen feststellt, dass sein Haus brennt, und der einfach nur froh ist, den alten Kram endlich los zu sein.
Kaum zu glauben, dass das erst drei Wochen zurückliegt. Wenn er jetzt darüber nachdenkt, ist es, als sei es jemand anderem passiert.
Er betrachtet sich mit den Augen eines Fremden. Ein glatt rasierter, teuer gekleideter Mann steigt die Treppen des U-Bahnhofs hinauf zur Seventh Avenue. An der Ecke bleibt er stehen, um sich bei dem Iraner am Imbisswagen einen Kaffee zu holen. Das Kleingeld hat er schon parat. Ein kurzes lockeres Geplänkel, dann macht Bruno kehrt, um, den Kaffeebecher in der Hand, durch die Türen in seinem Büro zu verschwinden.
Hoch über seinem Kopf gleitet eine Weltkarte über die Glasfassade des Gebäudes wie eine Wolke über den Himmel. Inseln und Meere bewegen sich lautlos über die Scheibe, gefolgt vom Logo von Lehman Brothers in kühner Fettschrift. Er hat es immer beeindruckend gefunden. Mit stolzgeschwellter Brust ist er durch diese Türen getreten. Inzwischen erscheint ihm diese aufgesetzte Zurschaustellung von globaler Überlegenheit eher wie ein schwerer Fall von Größenwahn.
Er sieht sich an seinem Schreibtisch im ersten Stock vor mehreren Bildschirmen sitzen. Er behält die Aktienkurse der Fluggesellschaften im Auge, überprüft die flackernden Zahlenreihen und hält Ausschau nach ungewöhnlichen Entwicklungen. Hinter ihm befindet sich eine Glasfront. Wenn er seinen Stuhl umdreht, kann er mitten in den Trog der Seventh Avenue hinabschauen. Unter ihm: dichter Verkehr, Abgase und Menschenmassen. Auf seiner Augenhöhe: sich ständig verändernde Werbeflächen und Neonreklamen. Auf der anderen Straßenseite: gewaltige Kolosse aus Beton, Stahl und Glas. Und über allem, schutzlos, der Himmel von New York.
Inzwischen ist ihm klar, womit er sich die letzten Jahre beschäftigt hat. Er hat dagesessen und darauf gewartet, dass wieder ein Flugzeug am Horizont erscheint und genau auf sein Bürogebäude zusteuert.
Und in gewisser Weise ist es ja auch so gekommen.
Später am Tag wird Bruno auf der Suche nach kleinen Buchläden durch die Straßen schlendern und nur große finden. Er wird in einem Café sämtliche Lokalzeitungen lesen, um sich über die Wahl zu informieren. Wegen des Mindestumsatzes wird er gezwungen sein, etwas zu bestellen, auf das er keinen Appetit hat. Danach wird er einen Platz überqueren und stehen bleiben, um Vorschulkindern in reizend altmodischen Uniformen beim Sammeln von Herbstlaub zuzuschauen. Er wird sich auf einer Bank an einem von Schilf überwucherten Kanal niederlassen und den Betrunkenen zulächeln, die sich am anderen Ufer versammeln. Und dabei wird er sich fragen, was er überhaupt hier tut.
Später wird er in die Pension zurückkehren und in dem winzigen Badezimmer duschen. Er wird wieder ins Dorf gehen und in einem belebten Restaurant allein sein Abendessen verspeisen. Anschließend wird er nach Hause gehen und sich ins Bett legen, nur um festzustellen, dass er nicht schlafen kann. Und noch einmal wird er sich bei der Frage ertappen, was er hier soll.
Das ist der Tag, der ihm bevorsteht. Er erstreckt sich vor ihm wie ein Pfad. Allerdings hat er keine Eile, ihn in Angriff zu nehmen. Stattdessen bleibt er einfach auf der Bank am Strand sitzen und schaut aufs Meer hinaus. Er lässt den Blick über seine Vergangenheit schweifen wie über ein gerade durchquertes Feld. Zurück will er nicht, doch er ist auch noch nicht bereit voranzuschreiten.
Er fühlt sich wie ein Schiffbrüchiger, angeschwemmt an den Strand einer einsamen Insel, der seine Kleider von der Luft trocknen lässt und sich freut, dass ihm noch einmal das Leben geschenkt worden ist.
Er ist nur nicht sicher, was er damit anfangen soll.