Kapitel 21

Von Anfang an war klar, dass Lola ein gutes Herz hat.

Das bemerkt man auf den ersten Blick. Daran, wie sie den Kopf hält, so schüchtern und gleichzeitig so würdevoll. Daran, wie sie einen ansieht, bescheiden und dennoch auf der Suche nach Liebe. An ihrem hoffnungsfrohen Schwanzwedeln. Dellas Kinder nennen sie den nicht bellenden Hund, weil sie das nur selten tut.

Sie ist ein Hund aus dem Tierheim, ein Hund, der viel durchgemacht hat. Sie meidet fremde Menschen und begegnet sogar anderen Tieren mit Argwohn. Wenn jemand sie streicheln will, den sie nicht kennt, duckt sie sich flach hin, spreizt die Beine, presst den Körper gegen den Boden und bewegt den Kopf, als wolle sie sich unter einer Bettdecke verkriechen. Manchmal zittert sie auch.

Addie weiß nichts über Lolas Vergangenheit. Sie ist wie ein Flüchtling hier eingetroffen und an einem Sommerabend aus dem Kofferraum der Dame vom Tierheim gesprungen. Außer einem abgewetzten roten Halsband und einer Schlafmatte hatte sie nichts bei sich.

»Sie können ihren Namen ändern, wenn Sie wollen«, sagte die Dame, »aber wahrscheinlich lassen Sie das lieber.«

Sie hat Addie gewarnt, dass Lola nachts heulen könnte, aber sie hat weder geheult noch sonst einen Mucks von sich gegeben. Natürlich hat Addie kein Auge zugetan, sondern ist ständig in die Küche geschlichen, um nachzuschauen, ob Lola schlief. Und jedes Mal, wenn sie im Nachthemd auf der Schwelle stand, blickten ihr zwei schimmernde Augen aus der Dunkelheit entgegen.

Lola ist unruhig und zuckt beim leisesten Geräusch zusammen. Man braucht nur einen Topfdeckel fallen zu lassen, und schon ist sie unter dem Tisch verschwunden und späht verängstigt darunter hervor. Sie scheint darauf zu warten, dass ein Unglück geschieht.

Addie vermutet, dass sie in ihrem früheren Leben ein Jagdhund war. Wahrscheinlich hat man sie ins Tierheim gebracht, weil sie Angst vor Waffen hatte.

»Sie binden die Hunde an«, hatte ihr der Tierarzt beiläufig erklärt, »und versuchen, die Angst vor Waffen aus ihnen herauszuprügeln.«

Addie hatte ihn mit einer Handbewegung unterbrochen. »Bitte nicht«, sagte sie, »ich kann das nicht ertragen.«

Doch man konnte Gehörtes nicht mehr rückgängig machen. Wenn man einmal etwas gehört hatte, bekam man es nicht mehr aus dem Kopf. Jetzt hat Addie das Bild vor Augen, wie Lola irgendwo auf einem schmutzigen Hof an einen Zaun gekettet ist und von brutalen Männern umringt wird.

Wenigstens haben sie sie nicht einschläfern lassen, versucht Addie sich zu beruhigen. Sie haben sie zu der Dame vom Tierheim gebracht, die ihr Bild ins Internet gesetzt hat, und so hat Addie sie gefunden. Sobald sie das Foto sah, war sie sicher. Es war die Art, wie Lola den Kopf halb von der Kamera abwandte, und ihr erwartungsvoller Blick. Da wusste Addie, dass das der richtige Hund für sie war, so als kenne sie ihn bereits.

»Ich werde nie zulassen, dass dir etwas zustößt.« Das flüstert Addie Lola nachts stets als Letztes zu, wenn sie neben ihr auf dem Schlafzimmerfußboden kauert und mit ihren gewellten Ohren spielt. Sie streicht das stachelige Fell auf Lolas Stirn glatt und küsst das Grübchen auf ihrem samtweichen Kopf.

Ein unbeschreiblich sanfter und damenhafter Hund. Lola versteht, dass ihr Gegenüber Raum braucht, sie respektiert Grenzen. Sie ist ein liebesbedürftiger Hund und stupst Addie mit der Nase am Ellbogen an, wenn sie gestreichelt werden will. Als kluger Hund liegt sie am liebsten dort am Fenster, wo die Sonne hereinfällt. Wenn die Sonne wandert, wandert sie mit. Und sie heult nie. Nicht einmal, wenn sich ein ganzer Zweig eines Dornbuschs in ihrem Schwanz verfängt oder wenn sie sich eine Glasscherbe eintritt.

Addie hat Lola jetzt drei Monate. Seit Ende Juli ist sie bei ihr. Allerdings hat es keine drei Monate, nein, nicht einmal drei Tage gedauert, sich ein Bild von ihr zu machen. Ein Blick und man weiß, dass sie durch und durch gut, treu und ehrlich ist.

Wenn das Deuten von Menschen nur auch so einfach wäre!

 

»Dürfen wir Lola zum Tiersegen mitnehmen?«

Elsa war am Telefon. Da sie Dellas Mobiltelefon benutzte, hatte Addie erst geglaubt, ihre Schwester am Apparat zu haben.

»Wann findet der denn statt?«

»Am Sonntag. Mum sagt, du kommst anschließend zu uns zum Mittagessen.«

»Gib mir mal deine Mum.«

Gedämpfte Geräusche, dann war Della in der Leitung.

»Ich fahre gerade Auto, also kann ich nicht lange reden.«

»Stimmt das wirklich mit dem Haustiersegen?«

»Oh, die versuchen so verzweifelt, die Kirche vollzukriegen, dass sie sogar Weihnachtsgeschenke segnen. Alles, damit der Laden nur nicht leer ist. Wir nehmen den Fisch mit. Aber wir finden, dass Lola auch dabei sein sollte.«

»Bist du sicher, dass es in Ordnung ist, einen Hund mitzubringen?«

»Letztes Jahr ist jemand mit einem Pferd gekommen.«

»Meinetwegen. Und das Mittagessen?«

»… wir dachten, wir laden euch anschließend zum Mittagessen ein. Moment, da ist ein Polizist, ich lege kurz das Telefon weg …«

»Mittagessen geht klar«, erwiderte Addie schicksalsergeben. Sie sprach ins Telefon, obwohl es auf Dellas Schoß lag. Bruno würde begeistert sein, denn er wollte unbedingt alle kennenlernen.

»Noch etwas«, meinte Della, als sie wieder frei sprechen konnte.

Addie hörte die Kinder auf dem Rücksitz streiten. »Seid ihr jetzt ruhig!«, brüllte Della. »Ich versuche, Auto zu fahren und gleichzeitig zu telefonieren.«

Stille.

»Das Krankenhaus hat die Untersuchung abgeschlossen«, sagte Della. »Simon hat Gerüchte aufgeschnappt. Das Ergebnis soll ziemlich unschön sein.«

»Oh, mein Gott. Weiß Hugh Bescheid?«

»Wahrscheinlich. Man hat es ihm sicher mitgeteilt.«

»Hat er dir gegenüber etwas erwähnt?«

»Nein.«

Sofort hatte Addie ein schlechtes Gewissen, weil sie nicht besser im Bilde war. Wenn sie mehr Zeit mit ihm verbracht hätte, hätte er es ihr vielleicht erzählt. Doch sie war jeden Abend mit Bruno zusammen. Sie machte Hugh lediglich das Essen und ließ ihn damit allein.

»Ich rede mit ihm«, entgegnete Addie. »Ich versuche, etwas herauszufinden.«

 

»Möchtest du die gute oder die schlechte Nachricht hören?«, so meldete sie sich bei Della, als sie sie später am Abend zurückrief.

Sie hatte Bruno für diesen Abend abgesagt, ihm alles erklärt und sich ausführlich entschuldigt.

»Ich habe ihn vernachlässigt«, meinte sie. »Und jetzt ist er beleidigt. Der alte Knabe ist nämlich ziemlich eifersüchtig.«

»Ist schon in Ordnung«, antwortete Bruno. »Dann wasche ich mir eben die Haare.«

Jetzt hatte Addie auch noch ein schlechtes Gewissen wegen Bruno. Man konnte einfach nicht gewinnen. Einen verrückten Moment lang spielte sie mit dem Gedanken, ihn einzuladen, doch sie verwarf ihn sofort wieder.

Also ging sie allein mit ihrer Einkaufstüte nach oben und bereitete ein Käsesoufflé zu, damit Hugh gute Laune hatte. Sein Lieblingsessen. Sie hat sich einmal beigebracht, wie es funktionierte, als Geburtstagsgeschenk für ihn. Das komplizierteste Gericht, das sie beherrscht. Sie kocht es, wenn er Aufmunterung nötig hat. Das hat inzwischen Tradition.

Sie verspeisten es am Küchentisch, dazu gab es einen grünen Salat und eine Flasche Bordeaux. Hugh musste den Wein zwar mit dem Strohhalm trinken, bestand aber darauf, ohne fremde Hilfe zu essen. Es war ein Trauerspiel, ihm dabei zuzuschauen, wie er versuchte, die Gabel mit den Fingerspitzen festzuhalten. Es dauerte eine Ewigkeit, bis jeder Bissen im Mund landete. Wahrscheinlich war das Soufflé eiskalt, als er damit fertig war.

»So gut bekommt man es in keinem Restaurant«, das sagte er immer, wenn es Käsesoufflé gab. »Nicht einmal im Shelbourne.«

Erst bei der zweiten Flasche Wein gelang es ihr, ihn dazu zu bringen, über den Prozess zu sprechen.

»Hast du schon einen Termin?«, erkundigte sie sich mit Unschuldsmiene.

»Ach, irgendwann im neuen Jahr«, erwiderte er. »Die Mühlen der Justiz mahlen langsam. Aber zerbrich dir nicht den Kopf darüber.« Er war ausgezeichneter Stimmung, das Soufflé hatte gewirkt. »Ich bin voller Vertrauen, dass wir gewinnen werden.

Sie suchen nur einen Sündenbock«, fuhr er fort. »Da man sie nicht mehr lebendig machen kann, brauchen sie einen Schuldigen. Ich hätte ja nichts dagegen, aber ich habe wirklich mein Möglichstes getan, um diese Frau zu retten.«

»Wer sind sie?«

»Die Eltern.«

»Ich dachte, der Ehemann hätte dich verklagt.«

»Ja, doch die treibende Kraft ist der Vater. Er ist Taxifahrer.«

Als ob das eine Erklärung gewesen wäre.

»Geld. Darauf läuft es letztlich hinaus. Diese ganze hässliche Geschichte wird nur deshalb veranstaltet, um so viel Geld wie möglich aus der Versicherung herauszupressen. Mit jedem Anklagepunkt wächst die Summe.«

Er war ziemlich offen und schilderte den Fall ausführlich, während sie die zweite Flasche leerten.

»Die Frau war ein Fass. Keine Ahnung, warum ich das nicht sagen soll. Schließlich ist es keine Ansichtssache, sondern steht in ihrer gottverdammten Krankenakte. Klinisch adipös. Wenn sie nicht so verdammt dick gewesen wäre, wäre sie nicht gestorben. Ich habe sie gewarnt und ihr geraten, erst ein paar Kilo abzunehmen. Doch sie hat sich geweigert. Sie wollte die Operation rechtzeitig hinter sich bringen, um zu einer Hochzeitsfeier gehen zu können. Versuch du mal, jemanden zu operieren, der mehr Fettschichten hat als ein Wal, so dass man die dämliche Gallenblase kaum findet.«

Ein leichter Zweifel überkam Addie. Sie spürte ihn lautlos wie eine Wolke über sich hinwegziehen.

»Aber so hast du es doch nicht ausgedrückt?«

Er hatte sich auf seinem Holzstuhl mit Armlehnen zusammengerollt. Als er sich nun aufrichtete, hatte es etwas Bedrohliches an sich.

»Verzeihung?«

Addie zuckte zusammen.

»Erzähl mir nicht, dass du das so zu der Familie gesagt hast.«

»Natürlich nicht. Wofür hältst du mich?«

Jetzt hatte sie auch noch ein schlechtes Gewissen, weil sie an seinen Worten zweifelte. Wenn seine eigene Tochter ihm nicht glaubte, wer dann?

Sie beugte sich vor und schenkte den letzten Rest Wein ein, in der Hoffnung, das Schlimmste hinter sich zu haben. Aber Hugh sprach weiter.

»Natürlich geht das Krankenhaus nun in Deckung. Offenbar will man die Gelegenheit nutzen, mich aufs Altenteil zu schicken. Doch das war zu erwarten. Anscheinend hat man einige jüngere Kollegen dazu gebracht, diese Drecksarbeit zu übernehmen. Ebenfalls zu erwarten, wie ich fürchte, mein Kind. Manche Menschen genießen es eben, jemanden zu treten, der schon am Boden liegt.«

Er machte ihr Angst. Die Angelegenheit gewann völlig neue Dimensionen wie ein düsterer Schatten, der über eine Wand gleitet. Allmählich bereute sie, das Thema überhaupt angeschnitten zu haben. Doch jetzt gab es kein Zurück mehr.

»Was soll das heißen?«, fragte sie. Ihre Stimme zitterte.

Er antwortete genüsslich und in einem melodiösen Ton.

»Oh, soweit mir zu Ohren gekommen ist, haben sie eine Dienstaufsichtsbeschwerde gegen mich gestrickt. Eine kleine Verschwörung. Sie haben die Köpfe zusammengesteckt und sich eine Geschichte ausgedacht, um ihren Hals zu retten.«

Wie ein Boxer reckte er die Gipsverbände hoch.

»Eine sehr unschöne Sache. Und dass ich nicht vor Ort bin, um mich zu verteidigen, ist wirklich ein Pech.«

Addie starrte ihn entgeistert an. Sie versuchte, den Sinn seiner Worte zu erfassen.

»Das könnte ein ganz großes Ding werden«, sagte er. Seine Augen hinter den Brillengläsern blitzten und funkelten. »Mein letzter Kampf.«

 

Sobald sie wieder in ihrer Souterrainwohnung war, rief sie Della an.

»Das war nur ein Scherz«, meinte sie. »Es gibt keine guten Nachrichten. Man wirft ihm vor, Kollegen unter Druck gesetzt zu haben.«

»Was! Zusätzlich zu der Kunstfehlersache?«

»Offenbar. Laut Hugh ist es während der Untersuchung ans Licht gekommen. Sie haben jeden befragt, der an diesem Tag anwesend war. Einer der Assistenzärzte wirft Hugh vor, er hätte ihn unter Druck gesetzt. Die Schwestern bestätigen das. Hugh bezeichnet es als Verschwörung, um ihn loszuwerden.«

»Ach, du meine Güte.«

»Ich weiß, dass es lächerlich ist!«

»Moment mal. Ist es das wirklich?«

»Natürlich! Er ist zwar direkt und nimmt kein Blatt vor den Mund, aber das ist ja kein Verbrechen.«

»Addie, du kennst ihn doch. Er sagt einfach das Erste, was ihm einfällt, und er kann ziemlich gemein und gehässig werden. Das weißt du.«

»Aber er meint es nicht so. Er meint dieses Gerede nicht ernst.«

»Ob er es ernst meint oder nicht, spielt keine Rolle. Heutzutage darf man sich nicht mehr so aufführen.«

»Die Familie macht beim Schadensersatz erhöhende Umstände geltend«, sagte Addie mit einer Stimme, die eher wie ein Wimmern klang. »Die Angehörigen der Toten behaupten, er hätte ihnen Angst gemacht. Er hätte die Beherrschung verloren, und sie hätten befürchtet, er könnte gewalttätig werden.«

»Das kann ich mir gut vorstellen.« Dellas Stimme klang hart und schneidend.

»Oh, Della.« Inzwischen flüsterte Addie ins Telefon. »Du hältst Daddy doch nicht für einen Bösewicht, oder?«

Della ließ sich mit ihrer Antwort Zeit, was mehr verriet als tausend Worte.

»Er gehört eben noch zur alten Schule, Ad. Und in unseren Zeiten macht das einen Menschen zum Bösewicht. Die Leute erwarten Verständnis und Einfühlungsvermögen. Sie erwarten, dass man sich an die Regeln hält. Und darauf haben sie auch ein Recht, verdammt.«

»Ich weiß, Dell, aber er ist ein guter Arzt, du weißt, dass er ein guter Arzt ist.«

»Es reicht nicht, wenn man ein guter Arzt ist. Man muss auch ein guter Mensch sein.«

»Er ist ein guter Mensch.«

»Das wissen wir beide, Ad. Doch die anderen nicht. Und du musst zugeben, dass der äußere Eindruck eher für das Gegenteil spricht.«

 

Nach dem Telefonat ging Addie ins Bad, um sich die Zähne zu putzen. Die Stille in der Wohnung hüllte sie ein.

Das Gespräch mit Della überschlug sich wild in ihrem Kopf. Sie hatte keinen Einfluss darauf. Es versuchte, sich in ihren Gedanken neu zu ordnen. Satzfetzen aus ihrem und Dellas Mund kämpften um die Vorherrschaft.

Sie wollte sich dagegen wehren und eine Verteidigungsstrategie entwickeln. Doch der Vertrauensverlust war so gewaltig und beängstigend, dass es ihr körperliche Übelkeit verursachte.

Ihr ganzes Leben lang hatte Addie sich fest an die Überzeugung geklammert, dass Hugh ein guter Mensch war, und sich geweigert, eine Alternative in Erwägung zu ziehen. Sie hatte ihn gegen die ganze Welt verteidigt und ihn zum Zentrum ihrer Weltanschauung gemacht. Nun fühlte sie sich wie eine Närrin.

Sie legte sich ins Bett, drehte sich zur Seite und rollte sich zusammen. Es war, als kauere sie am Rande einer steilen Klippe. Wenn sie sich auch nur einen Zentimeter bewegte, würde sie in die Tiefe stürzen. Sie war starr vor Angst und wusste nicht, wie sie die Nacht überstehen sollte.