Kapitel 31

Seine Mutter war nicht verheiratet. Wusstest du das nicht?«

Sie saßen an Dellas Küchentisch vor einer Kanne Kamillentee. Della nahm die Kanne mit beiden Händen und goss die dampfende gelbe Flüssigkeit in ihre Tassen.

»Neue Tassen?«, erkundigte sich Addie.

»Weihnachtsgeschenk von Simons Mutter. Sie hat gehört, dass die Firma in Konkurs geht, und ist sofort in die Stadt gerast, um sämtliche Bestände aufzukaufen.«

»Und wir haben immer geglaubt, dass nur unsere Familie komisch ist.«

»Schon gut.«

»Also?«

»Also was?«

»Mich wundert, dass du nicht überrascht bist.«

»Ach, Addie, komm schon. Dass es in seiner Vergangenheit ein Geheimnis gibt, war doch immer klar. Er schämt sich seiner Herkunft. Warum, glaubst du, redet er nie über seine Familie und hat uns nie mitgenommen, um sie zu besuchen?«

Manchmal schlägt Della einen Tonfall an, als sei ihr Gegenüber geistig zurückgeblieben.

»Auf diesen Gedanken wäre ich nie gekommen«, meinte Addie erstaunt.

»Er hat einen Komplex so groß wie ein Haus.«

Addie wird schon vom Zuhören schwindelig. Woher hat Della diese Informationen?

Addie erinnert sich an den Sommer, als sie mit Interrail herumgereist ist. Mit ein paar Freundinnen aus dem College ist sie einen Monat lang mit dem Zug durch ganz Europa gefahren. Das taten damals alle. Ein überfrachteter Reiseplan, bei dem man versuchte, so viel zu sehen, dass man schließlich gar nichts sah. Die Fahrerei ermüdete Addie derart, dass sie ständig im Zug einnickte. Einmal wachte sie am späten Nachmittag auf, um festzustellen, dass sie Belgien verschlafen hatte. Ein ganzes Land war an ihr vorbeigeglitten, ohne dass sie es bemerkt hätte.

Jetzt fühlt sie sich wieder genauso.

»Warum hat er es uns nie gesagt, Della? Das kann ich einfach nicht verstehen.«

Della verdrehte die Augen zur Decke.

»Wahrscheinlich werden wir das nie erfahren.«

 

Warum hatte er es ihnen nie gesagt?

Hugh fand, dass das eigentlich gar nicht der springende Punkt war. Das Warum war offensichtlich. Viel interessanter war, was genau er ihnen verschwiegen hatte. Denn das Was war viel zu nebulös, um es jemandem zu erklären.

Er fürchtete sich in der Dunkelheit. Das hat er auch nie einem Menschen verraten. Mitten in der Nacht war er in ihr Schlafzimmer geschlichen, und er weiß noch, wie er auf den knarzenden Dielen stand und sie leise anflehte. Aber er durfte nie bleiben. Sie schickten ihn immer sofort wieder ins Bett. Licht machen durfte er auch nicht, da es angeblich zu viel Geld kostete.

Er erinnert sich, wie er stocksteif in seinem schmalen Bett lag und nicht zu atmen wagte. Zum Fenster drangen unheimliche Geräusche vom Bauernhof herein. Raschelnde Bäume und schnaufende Kühe. Etwas, das im Hof umfiel und scheppernd zu Boden stürzte. Der Schrei eines Tiers, der nach Schmerzen klang. Und am nächsten Morgen die Scham und der verletzte Stolz, weil er zu ihnen gekommen war.

Und dabei mochte er sie nicht einmal.

Sie hatte ihm immer das Gefühl vermittelt, dass er in diesem Haus ein Fremder war, und er verstand den Grund nicht. Dass sie ihn nie vergessen ließ, wie viel sie für seine Kleidung ausgab. Wie sie murrte, während sie seine Socken stopfte. Wenn sie einen Kuchen buk, durfte er sich nie ein Stück abschneiden, ohne vorher zu fragen.

Die Farm widerte ihn an. Er wollte nichts damit zu tun haben. Die Arbeiten, die man ihm auftrug, erledigte er widerwillig und schlampig. Seine Schulnoten waren ein weiterer Beweis dafür, dass er nicht auf der Farm arbeiten wollte. So, als schriebe er die guten Noten aus Trotz.

»Hoffentlich bringt es dich weiter im Leben.«

Das waren ihre Worte gewesen, als er ihr das Abschlusszeugnis zeigte. Dann hatte sie das kostbare Stück Papier wieder in den Umschlag gesteckt und ihm zurückgegeben. Mehr hatte er auch nicht von ihr erwartet.

In diesem Sommer hatte sie ihm reinen Wein eingeschenkt. Sie hatte nämlich befürchtet, er könne für die Anmeldung am College seine Geburtsurkunde brauchen.

»Ich muss dir etwas sagen«, hatte sie begonnen.

Ihr Blick war unstet, und sie fingerte an einigen Besteckteilen herum, als wolle sie sie polieren. Dabei konnte sie ihm nicht in die Augen schauen, und sie hob erst den Kopf, als sie geendet hatte. Er würde auf seiner Geburtsurkunde einen anderen Familiennamen vorfinden. Sein Name sei nicht Lynch, sondern Murphy. Er habe schon immer Murphy gelautet. Sie erklärte ihm den Grund.

Etwas in ihm richtete sich aus wie ein Stein, der seinen Platz im Flussbett findet. Seine erste Reaktion war Erleichterung. Er war froh, dass sie nicht seine Mutter war. Also brauchte er auch kein schlechtes Gewissen mehr zu haben, weil er sie nicht liebte.

Er dachte an die englischen Briefmarken auf den Briefen, die sie von ihrer Schwester bekam, seit er denken konnte. Er hatte sich nie die Mühe gemacht, sie zu lesen, sondern nur mit Wasserdampf die Marken für seine Sammlung abgelöst. Meistens waren es nur die üblichen Briefmarken mit dem Konterfei der Königin darauf. Doch manchmal, um die Weihnachtszeit, waren sie dekorativer. Hin und wieder gab es sogar Sondermarken für irgendein Jubiläum des Königshauses.

Hugh hatte all diese Marken in sein Album geklebt, ohne zu ahnen, wofür sie standen. Er hatte die Poststempel untersucht. Die Briefe waren stets in Reading abgeschickt worden.

Eine Tante, die weggezogen war und über die nur selten gesprochen wurde. Kitty hieß sie und lebte schon seit Jahren in England. Er wusste nur, dass sie in einem Krankenhaus arbeitete. Es gab keinen Grund, sich für sie zu interessieren. Er war ihr nur einmal begegnet, als sie zur Beerdigung ihres Vaters gekommen war. Sie hatte ihn vor der Kirche umarmt. Die Umarmung war ihm peinlich gewesen. Sie hatte ihn so lange festgehalten, dass er sich nur noch hatte befreien wollen.

»Ist sie Krankenschwester?«, hatte er später gefragt.

Die beiden hatten ihn ausgelacht. Nein, sie sei keine Krankenschwester, hatten sie geantwortet, sondern nur Putzfrau. Waren sie absichtlich so grausam gewesen? Ob ja oder nein, das spielte keine Rolle, zumindest hatte er es so empfunden.

Sie war gestorben, als Hugh im vierten Jahr die höhere Schule besuchte, und wurde, offenbar auf eigenen Wunsch, zur Beerdigung nach Hause überführt. Erst viele Jahre später hatte er die mitleidigen Blicke der anderen Trauergäste verstanden.

Damals hatte er sie nicht deuten können.

 

Er hat sie nie wieder besucht.

Inzwischen erscheint ihm das unglaublich, und er grübelt darüber nach, welchen Grund sein Verhalten gehabt haben mag. Doch er kann keinen entdecken. Er versucht, zu fassen zu bekommen, was sie ihm denn so Schreckliches angetan haben könnten. Doch ihm fällt beim besten Willen nichts ein.

Sie haben ihn bei sich aufgenommen und ihm ein Dach über dem Kopf gegeben. Als kinderloses Paar hatten sie sich vielleicht eigene Kinder gewünscht und gehofft, ihr Neffe könne diese Lücke füllen. Sicher waren sie enttäuscht gewesen, als es fehlschlug. Selbst ihre Lüge war vermutlich gut gemeint gewesen. Ihnen war sie bestimmt als die beste Lösung für alle erschienen. Er stellte sich vor, wie sie am Küchentisch gesessen und alles besprochen hatten. May und Seamus bekamen das ersehnte Kind, und Kitty konnte ein neues Leben anfangen, frei von der Schande, die sie über sich gebracht hatte. Ihr Kind würde in einer Ehe aufwachsen. Über seine fragwürdige Herkunft würde man zwar im Umkreis von mehreren Kilometern tuscheln, es ihm jedoch niemals ins Gesicht sagen. Das Kind würde von alldem nichts ahnen. Der Weg zur Hölle ist mit wohlmeinenden Absichten gepflastert.

Helen hatte alles getan, um ihn zu einem Besuch zu überreden. Nach der Hochzeit hatte sie es einige Male vorgeschlagen. Anfangs zartfühlend. Doch nach Dellas Geburt wurde sie hartnäckiger. Und zu guter Letzt gab sie es auf und fuhr allein mit den Mädchen hin. Sie hatten nie mehr darüber gesprochen.

Helen hatte es gewusst, davon war er überzeugt. Sie hatte es früher verstanden als er selbst, weil sie ihn so gut kannte. Es war nicht Zorn, der ihn daran hinderte. Auch keine Kränkung. Nein, Snobismus, der reine Snobismus.