Kapitel 22
In seinem kleinen Pensionszimmer schreckte Bruno aus einem Alptraum hoch. Sein Herz klopfte so heftig, dass er es beinahe hören konnte. Außerdem bekam er kaum Luft und musste schlucken, um die in seiner Kehle aufsteigende Angst zurückzudrängen.
Da die Vorhänge zugezogen waren, war es stockdunkel im Zimmer. Bruno beugte sich vor und knipste die Nachttischlampe an. Dann ließ er sich wieder in die Kissen fallen und blickte sich argwöhnisch im Zimmer um, als hätte er es noch nie zuvor gesehen. Er hatte das Gefühl, in den letzten Stunden durch das Haus seiner Kindheit gestreift zu sein, und war vom Träumen noch ganz benommen.
Er hatte diesen Traum schon öfter. Jetzt fällt es ihm ein. Es ist ein immer wiederkehrender Alptraum. Er kommt vielleicht einmal im Jahr, und jedes Mal erkennt er ihn von früher. Doch in ein oder zwei Stunden wird er ihn wieder vergessen haben. Der Traum besitzt die eigenartige Gabe, sich zu tarnen. Ein Traum, der eigentlich kein Traum ist, denn er hat kein Drehbuch. Ein hinterhältiger Traum und so lebensecht, dass Bruno stets eine Weile braucht, um dahinterzukommen, dass er nur träumt.
Im Traum lebt seine Mutter noch und ist im Pflegeheim. Bruno hat sie schon seit Jahren nicht mehr besucht, und auch sonst war niemand von der Familie bei ihr. Die Mitarbeiter des Pflegeheims wundern sich, warum sich nie jemand blicken lässt. Seine Mutter fragt nach ihren Angehörigen, aber sie kommen nicht.
Wenn Bruno aufwacht, schwappt eine Welle des Grauens über ihn hinweg. So hat er sich nicht mehr gefühlt, seit er als Kind ins Bett gemacht hat. Es ist das Gefühl, etwas Schreckliches verbrochen zu haben, ohne es überhaupt zu bemerken. Etwas, das man nie wieder in Ordnung bringen kann.
Wenn Bruno ins Bett gemacht hatte, ging seine Mutter mit ihm nach unten ins Bad und zog ihm den nassen Pyjama aus. Dann säuberte sie ihn mit einem Schwamm und trocknete ihn mit einem Handtuch ab. Er erinnert sich noch daran, wie seine Haut beim Abtrocknen prickelte. An den angenehm sauberen Pyjama beim Anziehen. An die Erleichterung, wenn er sich wieder hinlegte, ein zusammengefaltetes Handtuch strategisch so plaziert, dass es den feuchten Fleck aufsaugte, und ein frisches Laken darüber gebreitet. Die Freude, wieder einschlafen zu können, weil das Problem gelöst war.
Und dasselbe Gefühl hat er jetzt, als es ihm endlich gelingt, sich zu überzeugen, dass der Traum nicht echt ist. Er braucht eine Weile, die Gründe aufzulisten und alles logisch zu durchdenken. Seine Mutter ist tot, und zwar schon seit fünf Jahren. Als sie noch lebte, hat er sie jede Woche besucht, und zwar bis zum Ende.
Er ist kein schlechter Mensch.
Er war jede Woche bei ihr, jedoch ohne es jemandem zu verraten. Nicht einmal seiner Freundin. Sie konnte das nicht verstehen. Bruno glaubt, dass sie es nicht verstehen wollte.
Sie waren nicht verheiratet, ja sie wohnten nicht einmal zusammen. Gleich am Anfang hatten sie beschlossen, dass von einer Ehe nicht die Rede sein würde. Sie waren beide gebrannte Kinder.
Eigentlich war es nicht seine Absicht gewesen, ihr zu verheimlichen, dass seine Mutter noch lebte. Er hatte es eben einfach nicht erzählt. Und als sie es schließlich doch herausfand, hatte sie viel Aufhebens darum veranstaltet. Sie solle es nicht persönlich nehmen, hatte er versucht, ihr begreiflich zu machen. Er habe sie nicht ausschließen, sondern schonen wollen. Es sei schwierig zu erklären.
»Es ist ja nicht so, als ob ich eine Affäre hätte«, hatte er verkündet.
Aber aus ihm unbekannten Gründen fand sie das sogar noch schlimmer.
»Ich habe gedacht, sie sei tot! Eine vernünftige Schlussfolgerung, weil du immer nur in der Vergangenheitsform von ihr sprichst. Da du nie erwähnt hast, dass du sie besuchst, bin ich davon ausgegangen, dass sie nicht mehr lebt.«
Er hatte befürchtet, dass sie seine Mutter würde kennenlernen wollen. Deshalb hatte er geschwiegen. Niemand sollte sie in diesem Zustand erleben. Die verängstigten Augen in einem ausgezehrten Gesicht. Die langen, runzeligen Hände, die sich in die Bettwäsche krallten. Die übergroßen Knöchel. Das Heftpflaster, das verhinderte, dass ihr der Ehering vom mageren Finger rutschte. Darüber wollte er mit niemandem reden.
Es wäre ihr gegenüber unfair gewesen, sie mit einer wildfremden Frau zu konfrontieren. So zu tun, als würde sie die beiden einander vorstellen, und dann der Versuch, am Bett Konversation zu betreiben. Der Gedanke allein war unerträglich.
Er hatte sie wirklich nicht anlügen wollen. Allerdings war ihm klar, dass es auf das Gleiche hinauslief. Sie war gekränkt und glaubte, es liege an ihr. Bleich vor Empörung war sie aufgestanden und gegangen.
Zu Brunos Schrecken hatte er es nicht einmal bedauert.
Brunos Mutter stammte aus Deutschland. Ihre Familie war vor dem Krieg nach Amerika ausgewandert.
Bruno und seine Schwestern nahmen ihren deutschen Anteil kaum zur Kenntnis. Ihr gesamtes Umfeld bestand aus Iren, und sie waren auch welche. Sie hatten immer den Eindruck gehabt, dass ihr deutsches Blut sich weniger durchgesetzt hatte als das irische. Offenbar waren die irischen Gene dominant. Nur eines hatten Bruno und seine Schwestern von ihrer Mutter geerbt: ihre seelenvollen braunen Augen.
Sie war eine zurückhaltende Frau, und alle nahmen an, dass auch sie irische Vorfahren hatte. Nein, ich bin aus Deutschland, sagte sie dann. Und die Leute reagierten überrascht und erwiderten, darauf wären sie nie gekommen.
Zu Hause sprach sie nicht deutsch. Nur wenn sie die Großeltern besuchten, hörte Bruno die deutsche Sprache. Er erinnert sich, dass er auf einem Schemel in ihrem dunklen Wohnzimmer saß und seiner Mutter beim Reden zusah. Er weiß noch, wie er ihr Gesicht gemustert hat, in der Hoffnung, sie zu verstehen, indem er sie einfach beobachtete. Und auch, wie entsetzt er war, als er feststellte, dass er keine Ahnung hatte, wovon die Rede war. Er erinnert sich an die Panik und an das Bedürfnis, aufzuspringen und sie anzuschreien. Es war, als sei sie ein anderer Mensch geworden und nicht mehr seine Mutter. Erst als sie wieder wohlbehalten im Auto saßen und sie nur noch englisch sprach, fühlte Bruno sich geborgen.
In ihren letzten Lebensjahren verfiel sie immer häufiger in ihre Muttersprache, und zu guter Letzt sprach sie nur noch deutsch.
Jeden Montagabend nach der Arbeit verbrachte Bruno eine Stunde in dem Lehnsessel neben ihrem Bett und hörte zu, wie sie mit leiser Stimme von Menschen und Orten aus ihrer Vergangenheit erzählte. Er saß da und lauschte, ohne etwas zu verstehen, so wie damals als kleiner Junge. Nur, dass er diesmal keine Angst verspürte, sondern nur Staunen über die schönen Klänge, die aus ihrem Mund kamen. Er schloss die Augen und genoss die melodische Stimme, die angenehmen Laute, die für ihn keinen Sinn ergaben. Er hörte einfach zu, als wäre es Musik. Bruno wird nie begreifen, warum so viele Menschen Deutsch für eine hässliche Sprache halten.
Streng genommen sprach sie ja Schwäbisch. Ein reizender, weicher Dialekt, dessen Satzmelodie auch ihr Englisch beeinflusste, so dass ihre Stimme ein wenig nach oben wanderte, wenn man es am wenigsten erwartete. Es war ein Akzent, der gleichzeitig Sanftheit und Gewissheit ausstrahlte, was ausgezeichnet zur Persönlichkeit seiner Mutter passte.
Seit Bruno denken kann, hat seine Mutter ihm gesagt, er werde die Liebe erkennen, wenn er sie gefunden habe. Bruno hat das so gedeutet, dass die Liebe ihn finden und dass sie über ihn hereinbrechen würde, ohne Raum für Zweifel zu lassen. Jahrelang ist er durchs Leben gegangen und hat mit einem Blitz aus heiterem Himmel gerechnet, der niemals kam.
Selbst als im Laufe der Jahre eine Ehe nach der anderen scheiterte, geriet die Gewissheit seiner Mutter nicht ins Wanken. »Du hast einfach noch nicht die Richtige getroffen«, beharrte sie. Wenn seine Mutter sprach, kehrte das Ende jedes Satzes zum Anfang zurück, als ob Worte gegen ewige Wahrheiten nichts auszurichten vermochten. »Wenn du sie triffst, wirst du es wissen.«
Inzwischen glaubt Bruno zu verstehen, was sie gemeint hat.
Addie war ihm auf den ersten Blick vertraut erschienen. Obwohl er sie noch nie zuvor gesehen hatte, war es, als ob er sie kannte, ja, als ob er ihr schon einmal begegnet sei. Selbst wenn er sie jetzt betrachtet, hat er dieses eigenartige Gefühl der Vertrautheit. Er kennt ihr Gesicht.
Vielleicht liegt es ja daran, dass wir verwandt sind, denkt er, nimmt das Familienfoto aus dem Notizbuch und betrachtet es noch einmal. Das könnte eine Erklärung sein. Er mustert die Gesichter und hält Ausschau nach einer Ähnlichkeit mit Addie, kann aber keine entdecken. Sie hat nichts mit diesen Frauen gemeinsam.
Die Vertrautheit, die er empfindet, hat ihren Grund nicht in der Vergangenheit, sondern in der Zukunft.
Seltsam, wie rasch man sich daran gewöhnte, neben jemandem zu schlafen.
Ständig streckte er im Bett die Hand nach ihr aus und wachte jedes Mal auf, wenn er feststellte, dass sie nicht da war.
Beim dritten Mal fällte er eine Entscheidung. Er stand auf, zog sich rasch an, schlich wie ein Dieb die dunkle, knarzende Treppe der Pension hinunter, schob den Riegel an der Vordertür zurück und trat in die eiskalte Nacht hinaus.
Der Himmel war klar. Der Halbmond sah aus wie im Märchen. Das silbrig schimmernde Meer kroch über den Strand. Bruno war klar, dass er sich verhielt wie ein hoffnungsloser Romantiker, der mitten in der Nacht von Liebe getrieben durch die Straßen wanderte.
Da er sie nicht erschrecken wollte, beschloss er, nicht an die Tür zu klopfen. Außerdem befürchtete er, nicht sie zu wecken, sondern ihren Vater. Also pirschte er sich ums Haus herum zu ihrem Schlafzimmerfenster, streckte die Hand aus und tippte mit einer Münze dagegen, die er zufällig in der Tasche hatte. Keine Reaktion. Tipp, tipp, tipp. Plötzlich erschien ihr blasses, verdattertes Gesicht hinter der Scheibe. Sie kniff die Augen zusammen. Offenbar konnte sie ihn in der Dunkelheit nicht richtig erkennen.
»Ich bin es«, flüsterte er. »Lass mich rein. Es ist eisig hier draußen.«
Er kehrte zur Vorderseite des Hauses zurück, um auf sie zu warten. Als sie die Tür öffnete, stellte er fest, dass sie sein Bruce-Springsteen-T-Shirt trug. Er wollte sie schon deswegen aufziehen, als sie sich ihm in die Arme warf. Sie fiel ihm um den Hals und lehnte sich mit ihrem ganzen Gewicht an ihn. Er musste einen Schritt rückwärts machen, um nicht zu stolpern. Es rührte ihn, dass sie sich so freute, ihn zu sehen. Für gewöhnlich war sie zurückhaltender. Er legte die Arme um sie und drückte sie an sich.
Sie hob den Kopf, um ihm etwas ins Ohr zu flüstern.
»Ich kann mich nicht erinnern, wann ein Junge zum letzten Mal Steinchen gegen mein Fenster geworfen hat.«
»Ich habe dich vermisst«, erwiderte er nur. »Ich konnte nicht schlafen.«
Sie nahm seine Hand, drehte sich um und zog ihn in die Wohnung.
Im Halbschlaf vertraute er ihr seine größte Befürchtung an.
»Addie«, sagte er. »Du musst mich beruhigen. Ich habe Angst, dass McCain gewinnen könnte.«
»Der gewinnt nicht«, erwiderte Addie mit vor Schläfrigkeit schwerer Zunge. »Obama gewinnt. Das spüre ich einfach.«
Den nächsten Satz, der in ihrem Kopf entstand, sprach sie nicht aus.
Obama gewinnt, dachte sie. Und du fliegst wieder nach Hause.
Mit diesem Gedanken im Kopf schlief sie in seinen Armen ein.