Kapitel 17

Bruno und Addie passen in vielerlei Hinsicht ganz und gar nicht zusammen. Insbesondere morgens.

»Reden alle amerikanischen Männer so?«

Bruno ist schon vor sieben aufgewacht, was heißt, dass sie auch schon so lange wach ist. Er hat das Radio aus der Küche ins Schlafzimmer geholt und Morning Ireland eingeschaltet. In den Meldungen ging es nur darum, dass Colin Powell Obamas Kandidatur unterstützt. Bruno lauschte gebannt. Immer wenn die Schlagzeilen verlesen wurden, forderte er Addie auf, still zu sein. Sie hatten denselben Bericht jetzt schon dreimal gehört.

»Pssst«, sagte er, als der Nachrichtensprecher die Acht-Uhr-Nachrichten ankündigte.

»Ich habe doch gar nicht geredet.« Sie wälzte sich auf den Bauch und vergrub das Gesicht im Kissen.

»Der ehemalige Außenminister der USA, Colin Powell, hat offiziell Barack Obamas Präsidentschaftskandidatur unterstützt. In der Nachrichtensendung Meet the Press des Senders NBC äußerte er außerdem, die Ernennung von Sarah Palin zur Vizepräsidentschaftskandidatin wecke Zweifel an McCains Urteilsvermögen.«

»Ja!«, rief Bruno aus und ballte dabei die Fäuste.

»Genau dasselbe haben sie um halb sieben und um sieben auch schon gesagt«, murmelte Addie ins Kissen.

»Ich weiß, ich weiß, ich kann es nur nicht oft genug hören. Das muss uns weiterbringen. Es muss einfach.«

Sie drehte sich auf die Seite.

»Bruno, darf ich dich etwas fragen? Reden alle amerikanischen Männer morgens so viel?«

»Klar, irische Männer nicht?«

»Oh, ganz bestimmt nicht«, erwiderte sie. »Irische Männer reden nur mit Frauen, wenn sie betrunken sind. Aber niemals morgens, unter gar keinen Umständen.«

Bruno ließ das mit zur Seite geneigtem Kopf auf sich wirken.

»Die Sache ist«, fuhr Addie fort, »dass ich diese Schweigsamkeit am Morgen gewohnt bin. Und deshalb finde ich es ein bisschen komisch, sich morgens zu unterhalten. Für mich ist es ganz seltsam, vor der ersten Tasse Kaffee mit jemandem zu reden.«

Seitdem bringt er ihr immer eine Tasse Kaffee ans Bett, sitzt da, sieht zu, wie sie sich aufsetzt und ihn trinkt, und dann fragt er sie, ob sie fertig ist. Wenn sie ja sagt, erwidert er »spitze, dann können wir jetzt reden«.

»Und ich habe mich gefragt, warum du mit 50 noch solo bist. Jetzt weiß ich es.«

»Ach, ja?«

»Hat dir nie jemand erklärt, was es heißt, einem anderen Menschen Raum zu lassen?«

Ihre Frage konnte ihn nicht aus dem Konzept bringen. Es war unmöglich, ihn zu kränken.

»Hey, ich wohne in New York. Was weiß ich schon von Raum?«

»Genau das meine ich. Die Sache ist«, fügte sie freundlich hinzu, »dass ich einen Tagesablauf habe. Erst kommt der Spaziergang, dann der Kaffee. Und vor dem Kaffee rede ich mit niemandem.«

»Also sprechen wir beim Spazierengehen nicht miteinander?«

»Das versuche ich dir doch gerade klarzumachen. Du bist bei dem Spaziergang nicht dabei.«

»Okay«, erwiderte er fröhlich. »Dann komme ich eben nicht mit.«

»Du bist nicht beleidigt?«

»Ich bin nicht beleidigt.«

Und das war er offenbar wirklich nicht. Er war bemerkenswert anpassungsfähig.

 

Bei Flut führt der Spaziergang Addie die Strand Road entlang zum Rand des Parks und hinaus nach Shelley Banks. Ein hübscher Name, Shelley Banks, viel schöner als die Örtlichkeit selbst.

Eigentlich handelt es sich nur um einen ausgetretenen Pfad, der sich die Küste entlangschlängelt. Auf der einen Seite befindet sich ein kleiner Hügel, auf der anderen das Meer. Eigentlich soll es ja ein Naturschutzgebiet sein, doch Addie sieht nichts als Unkraut, einige wilde Rosen und ein paar Seevögel. Hin und wieder fragt sie sich, was das für Vögel sind, und nimmt sich vor, es nachzuschlagen. Aber sie tut es nie.

Shelley Banks ist ein Paradies für Lola, nur hohes Schilf, Gräser und Felsen. Hier ist Lola in ihrem Element. Sie rast die Hügel hinauf und, das Fell voller Kletten, wieder hinunter. Sie klettert die Felsen hinab und springt ins Meer. Wenn sie dann vor Addie steht, ist sie schlammig und ganz zerzaust und wedelt voller Glückseligkeit mit dem Schwanz.

Es kommen zwar andere Hunde vorbei, aber Lola achtet nicht auf sie. Sie hat kein Interesse an ihrer eigenen Art; darin gleicht sie ihrer Besitzerin.

Natürlich kennt Addie die anderen Hundebesitzer vom Sehen und grüßt sie jeden Morgen.

Da ist der Mann mit den beiden schwarzen Labradoren; er hat einen Bypass und muss jeden Tag fünfzehn Kilometer zu Fuß gehen. Ein anderer Mann bringt sein kleines Enkelkind mit, wenn er seinen Hund ausführt, und zieht den Kinderwagen hinter sich her wie einen Golfkarren. Angeblich ist es so besser für seinen Rücken. Da sind die Mütter im Trainingsanzug, die sich beim Spazierengehen unterhalten, während ihre Hunde vor ihnen herumtollen. Und da ist eine uralte Dame mit Augen, so hell wie der Himmel. Sie singt ihren Hunden mit einer wunderschönen dunklen Stimme etwas vor und trägt das ganze Jahr über offene Sandalen. Addie hat sie am liebsten.

Unter den Hundebesitzern gelten feste Verhaltensregeln, von denen sie, wie Addie feststellt, niemals abweichen. Sie begrüßen sich mit einem Nicken und erkundigen sich nach dem Befinden ihrer Hunde.

»Wie geht es Rambo heute Morgen?« – »Wie geht es Lola?« »War Rambo im Hundesalon?« – »Oh, ja, das war er. Aber Lolas Fell ist viel zu schön zum Stutzen. Das dürfen Sie auf keinen Fall tun.« – »Die Damen bewundern Lolas Fell sehr.«

Sie sprechen einander nie beim Namen an, sondern kommunizieren nur über ihre Hunde. Sie bleiben auch nicht stehen, sondern tauschen lediglich im Vorbeigehen ein paar Höflichkeiten aus. Keine Grußformel, keine Verabschiedung.

Für Addie ist das die optimale Methode, zwischenmenschlichen Kontakt zu pflegen.

 

»Was für ein Morgen.«

»Erstaunlich.«

»Die Entschädigung für den letzten Sommer.«

»Wollen wir hoffen, dass es anhält.«

Addie bog in den Park ein. Lola lief vor ihr her und zog an der Leine. Addie lehnte sich zurück wie beim Wasserski.

Der ganze Park war lichtdurchflutet wie auf den Hare-Krishna-Postern, die in Bioläden an der Wand hängen. Eine seltsame Landschaft und in einen übernatürlichen Schein getaucht, so dass man fast die einzelnen Sonnenstrahlen wahrnehmen konnte. Aus dem Augenwinkel bemerkte Addie einen Vogelschwarm, der eng zusammengerückt mitten im Park auf dem Rasen saß. Es waren traurig wirkende Geschöpfe mit elegant geschwungenen Hälsen und seltsam unförmigen Körpern; sie drängten sich aneinander wie Einwanderer, die gerade das Schiff verlassen haben. Lola drehte sich, den ganzen Körper sprungbereit, zu ihnen um. Addie schlang sich die Leine fester um die Hand und zerrte Lola an den Vögeln vorbei.

Da es für diese Jahreszeit sehr warm war, fing Addie an zu schwitzen. Also zog sie den Pulli aus und wickelte ihn sich um die Taille. Zu spät bemerkte sie, dass sie vergessen hatte, einen BH anzuziehen. Ihre Brüste waren durch das T-Shirt deutlich zu sehen, ihre Brustwarzen standen aufreizend ab. Deshalb nahm sie den Pulli von der Taille und legte ihn so über die Schultern, dass die Ärmel die Brust verdeckten. Damit war Sitte und Anstand wieder Genüge getan.

Als ein Radfahrer erschien, lief Lola über den Pfad und stellte sich ihm in den Weg. Der Radfahrer wich auf den Rasen aus, um den kleinen Hund nicht zu überfahren, und schaffte es mit knapper Not, das Gleichgewicht zu halten. Addie beobachtete alles wie in Zeitlupe. Dem Radfahrer zuliebe schimpfte sie lautstark, aber sie hatte sich inzwischen damit abgefunden, dass Lola eines Tages einen Radfahrer zu Fall bringen würde. Es war nur eine Frage der Zeit.

Heute Morgen bereitete ihr das Gehen Mühe. Sie schleppte sich vorwärts, der Rücken tat ihr weh, und ihr Becken fühlte sich so bleischwer an, als hätte sie sich Felssteine um die Taille gebunden. Einige Meter voraus bemerkte sie eine Bank. Sie würde dort Rast machen und Lola währenddessen frei laufen lassen. Sie hatte bereits ein schlechtes Gewissen, weil sie den Spaziergang abkürzte.

Als sie die Bank erreichte, konnte sie sich unter dem Druck der Schmerzen kaum noch aufrecht halten und drückte beide Hände in den Rücken, als müsse sie sich selbst stützen. Ganz vorsichtig ließ sie sich auf die Bank sinken. Ihre Wirbelsäule fühlte sich an, als bestünde sie aus Glas. Sie schloss die Augen und beugte sich unglaublich langsam vor.

Eine Weile konzentrierte sie sich nur auf ihre Atmung, sog lautstark Luft durch die Nase ein und ließ sie langsam durch fast geschlossene Lippen wieder entweichen. Dabei biss sie die Zähne zusammen. Sie kam sich vor wie ein verwundetes Pferd. Kurz dachte sie daran, dass sie sicher keinen sehr eleganten Anblick bot. Doch dann sagte sie sich, dass ja niemand da war, der sie sehen konnte.

Die Schmerzen machten ihr Angst. Sie kamen so entsetzlich ungelegen. Nicht jetzt, dachte sie, bitte nicht jetzt.

 

»Haben Sie sich in letzter Zeit überanstrengt?« So lautete die Frage der Masseurin im Schwimmbad. Addie hatte schon seit Wochen zur Massage gehen wollen, es aber vor sich hergeschoben.

»Oder sonst etwas Ungewöhnliches getan?«

»Nun, ich hatte ziemlich viel Sex«, murmelte Addie. »Das ist bei mir ungewöhnlich.«

Sie lag auf dem Bauch, das Gesicht in dem gesichtsförmigen Loch, das Massagetische üblicherweise haben. Also sprach sie gewissermaßen mit dem Fußboden.

»Meinen Sie damit besonders herausfordernde Praktiken?«, erkundigte sich Jessica.

»Du meine Güte, nein«, erwiderte Addie. Sie spürte, wie sich das Blut unter ihrer Haut ansammelte und ihre Augen hervortraten. »Er ist fast fünfzig«, fügte sie der Erklärung halber hinzu.

Die Masseurin drückte sanft auf Addies Lendenwirbelregion und tastete sich mit der flachen Hand weiter.

»Mich kann nichts mehr überraschen«, antwortete sie fröhlich.

Sie drückte und tastete, entdeckte aber kein Problem, das Auslöser der Schmerzen hätte sein können.

»Achten Sie auf Ihre Haltung«, sagte sie. »Nehmen Sie die Schultern zurück. Und machen Sie die Übungen, die ich Ihnen gezeigt habe. Ich glaube, die helfen.«

Und Addie nickte folgsam, obwohl sie bereits wusste, dass sie die Übungen nicht machen würde.

»Ganz gleich, was Sie sonst tun, hören Sie nicht mit dem Sex auf. Das ist gut für Sie!«

Konnte etwas noch peinlicher sein? Ich werde es nie wieder schaffen, ihr gegenüberzutreten, dachte Addie.

Aber eigentlich störte es sie nicht.

Sie war so glücklich.

 

Allein die Erinnerung brachte sie noch immer zum Lächeln.

Die Schmerzen ließen nach. Nur ihre Aura blieb zurück, ein vager Überrest. Mit den Schmerzen verschwand auch die Angst. Wenn es einfach so wieder wegging, konnte es ja nichts Ernstes sein. Also kein Grund, sich Sorgen zu machen. Damit musste man sich als Frau eben abfinden, das war Addies Theorie.

Sie erhob sich, überquerte den Pfad und spähte die Felsen hinunter, doch von Lola keine Spur.

Sie stand da und blickte über die Bucht. An einem klaren Tag wie heute konnte man alle Häuser in der Strand Road deutlich erkennen. Sie sahen aus wie eine ebenmäßige Zahnreihe. Selbst aus dieser Entfernung wirkte Hughs Haus verfärbt und heruntergekommen. Der Anblick machte Addie traurig.

Früher einmal war es Addie wie ein Wunder erschienen, in einem solchen Haus zu wohnen. Ein schöneres und prachtvolleres Haus konnte es gar nicht geben. Sie hatte sich für den größten Glückspilz der Welt gehalten, weil sie dort leben durfte.

Das Haus war voller Antiquitäten. Hugh liebte Antiquitäten, blätterte ständig in Auktionskatalogen und knickte die Seite ein, wenn er etwas gefunden hatte, das ihm gefiel. Nach der Auktion standen neben den Posten Zahlen in blauer Kugelschreiberschrift.

»Der arme Hugh«, meinte Tante Maura einmal. »Nicht die Spur von Geschmack.«

Maura hatte eine sehr kritische Einstellung zu Hugh. »Der Mist, den er da kauft, ist absolut wertlos. Offenbar kennen die Händler ihn schon. Aber verratet ihm um Himmels willen nicht, dass ich das gesagt habe. So ist er wenigstens beschäftigt.«

Maura ist nicht ihre richtige Tante. Sie war die beste Freundin ihrer Mutter und ihre Brautjungfer. Außerdem ist sie Dellas Taufpatin. Eigentlich ist sie die Patentante für sie beide.

»Die Patentantenfee«, höhnt Hugh. Der Ausdruck geht auf sein Konto und amüsiert ihn immer wieder. Inzwischen sprechen die Mädchen sie sogar so an.

»Sauertöpfische alte Lesbe«, lästert Hugh. »Die hat solche Haare auf den Zähnen, dass die Männer einen Bogen um sie machen.«

Nach dem Tod ihrer Mutter hat Hugh die Mädchen zum Antiquitätenbummel mitgenommen. Am Sonntagmorgen, wenn alle anderen die Messe besuchten, spazierten die drei die Francis Street entlang und gingen in einen schäbigen Laden nach dem anderen. Addie erinnert sich noch an den süßlichen Geruch der Möbelpolitur, daran, wie es die Augen anstrengte, sich nach dem hellen Sonnenschein draußen an die Dunkelheit in den Läden zu gewöhnen, und an den scharfen Schmerz am Schienbein, wenn man sich in einem vollgestellten Keller irgendwo anstieß.

Der Gedanke versetzt ihr einen Stich ins Herz. Wie sehr hat Hugh sich bemüht, das Haus in ein Zuhause zu verwandeln und Addie und Della in diese Häuslichkeit einzubeziehen.

Es waren glückliche Zeiten zu dritt. Sie kauften einen alten Apothekerschrank mit Glastür, den Addie und Della mit am Strand gefundenen Muscheln und Steinen füllten. Sie kauften Rollpulte mit Abteilen zum Einsortieren und Geheimfächern, einen Globus zum Aufklappen, in dessen Innerem sich eine Hausbar verbarg, und eine ausgestopfte Maus in einer Glaskuppel.

Doch Addies Lieblingsstück, in das sie sich sofort vernarrt hat, war eine riesige Meerjungfrau aus Holz. Addie hat sich auf Anhieb in die Meerjungfrau verliebt und musste sie einfach haben.

»Sie kommt vom Bug eines Schiffs«, erklärte der Mann im Laden, weshalb Addie sie nur umso mehr liebte. Sie stellte sich bereits vor, wie die Meerjungfrau von der Wand ihres Zimmers aus auf sie herunterblickte.

»Sie ist viel zu groß«, wandte Hugh ein. »Wo sollen wir sie denn unterbringen?«

»In meinem Zimmer«, erwiderte Addie, als ob das die selbstverständlichste Sache der Welt wäre.

Sie mussten beide den Kopf in den Nacken legen, um sie anzuschauen.

»Sie ist ein Ungeheuer«, protestierte Hugh. »Da würde der Putz von der Wand fallen.«

Doch Addie ließ sich nicht beirren. Sie war fest entschlossen, die Meerjungfrau zu kaufen.

»Wir wollen darüber schlafen«, hatte Hugh vorgeschlagen, in der Hoffnung, ihr die Sache ausreden zu können.

Sie hatte verhandelt, gebettelt und Versprechungen gemacht. Sie hatte geschmollt und gefleht. Sie hatte tagelang nicht lockergelassen, bis er schließlich nachgegeben hatte. Aber als sie wieder in den Laden gingen, war die Meerjungfrau fort. Jemand anderer hatte sie gekauft. Addie hatte das Hugh noch lange vorgehalten.

Der arme Hugh. Inzwischen konnte sie nicht anders, als ihn zu bedauern. Da saß er nun in seinem großen Haus, gestrandet inmitten seiner seltsamen Schätze. Inzwischen war der alte Knabe selbst eine Kuriosität. Ein menschlicher Anachronismus, der langsam am Fenster versteinerte, während draußen das Leben ohne ihn weiterging.

So erschien es wenigstens Addie, als sie dastand, über die ruhige Wasserfläche blickte und das triste alte Haus auf der anderen Seite der Bucht betrachtete. Seltsam, was einem mit ein wenig Abstand so alles klarwurde.

 

»Lola!«

Addie rief ihren Namen und wartete darauf, dass sie erschien.

»Lola!«

Noch immer keine Spur von ihr. Addie drehte sich in Richtung Hügel um. Ihr Blick fiel auf eine große Informationstafel, genau vor ihrer Nase. Der Stadtrat von Dublin hatte sie aufgestellt, und es war das Foto, das ihr ins Auge stach. Es stellte einen Vogelschwarm dar, der das Gras abweidete.

Sie trat näher an das Schild heran und beugte sich vor, um die Vögel genauer unter die Lupe zu nehmen. Sie hatten alle den gleichen schwarzen geschwungenen Hals, den gleichen gedrungenen grauen Leib und die gleiche unbeholfene Körperhaltung. Hellbäuchige Ringelgans, hieß es auf der Tafel, Branta bernicla hrota.

Eine Landkarte zeigte ihre Wanderroute. Eine gezackte gelbe Linie zeichnete ihre Reise vom nordwestlichen Kanada über Grönland und Island bis nach Irland nach.

 

Die Ringelgans pflanzt sich im kurzen arktischen Sommer in Kanada fort. Sie verbringt den Winter an den Buchten und Flussmündungen der Ostküste Irlands. Im Frühjahr bricht sie zu ihrer 8000 Kilometer langen Rückreise auf und macht dabei kurz in Island Station.

 

Addie starrte auf das Schild. Wie oft war sie schon hier spazieren gegangen und hatte auf dieser Bank eine Rast eingelegt? Und sie hatte es noch nie zuvor bemerkt!

Sie stand da, las den kurzen Text ganz langsam noch einmal durch und dachte gründlich über jedes Wort nach. Dann studierte sie die Karte und las anschließend den Text ein drittes Mal. Sie ließ die Informationen über die Route auf sich wirken und stellte sich jahreszeitbedingte Wanderungsbewegungen vor. Sie machte sich klar, dass die Heimreise feststand. Und sie hatte das Gefühl, dass die Tafel ihr etwas mitteilen wollte.

Bruno würde nach Hause zurückkehren.

 

In seinem Pensionszimmer nahm Bruno die E-Mail, die seine Flugdaten enthielt, aus seinem Rucksack.

Ein paar Papiere, die er selbst auf dem Tintenstrahldrucker in seiner Wohnung ausgedruckt hatte und die überhaupt nicht aussahen wie ein Flugticket. Es fiel ihm schwer, sie ernst zu nehmen. Es stand ein alberner Code darauf, eine magische Kombination aus Zahlen und Buchstaben, die man beim Check-in vorweisen musste, um mitfliegen zu dürfen. Die Liste der Einschränkungen und Verbote, was das Gepäck betraf, erstreckte sich über vier kleingedruckte Seiten.

Bruno sah nach dem Rückflugdatum, obwohl er es bereits auswendig kannte. Er sah auch nach der Abflugzeit, obwohl es noch zu früh war, um sich über solche Einzelheiten Gedanken zu machen. Dann faltete er die Papiere zusammen und verstaute sie wieder in der Innentasche seines Rucksacks.

Plötzlich bekam er Sehnsucht nach den Flugtickets, wie sie in der guten alten Zeit ausgestellt wurden. Tickets, dick wie Scheckbücher, mit dem Logo der Fluggesellschaft vorne drauf und einem Stapel Kohlepapierdurchschläge, die von Schicht zu Schicht verblassten und erst schwarz, dann rosa, dann grau wurden.

Mit einem solchen Ticket war man ein Reisender, ein Passagier einer Fluglinie. Man konnte überall auf der Welt im Büro der Fluggesellschaft vorsprechen und wurde »Sir« genannt. Man konnte über eine Umbuchung verhandeln und sich ein neues Ticket ausstellen lassen. Und wenn man wieder zu Hause war, hatte man eine Erinnerung an seine Reise, die man in einem Karton aufheben und Jahre später wiederentdecken konnte.

Es gab Zeiten, in denen Bruno viel gereist ist. Für seinen vorletzten Arbeitgeber war er regelmäßig in China. In Japan, Korea, Malaysia und Thailand kannte er sich aus. Er hat ein wenig Mandarin gelernt. Ein paar Brocken Japanisch, genug, um Höflichkeiten auszutauschen. Er ließ sich Sommeranzüge nach Maß anfertigen. Er hatte ein Vielfliegerkonto. Und einen vollgestempelten Pass.

»Stimmt es, dass nur ein Prozent aller Amerikaner einen Pass hat?«

Interessiert blickte Bruno von seiner Zeitung auf. Er schien sich für alles zu interessieren, was sie sagte.

»Das ist mir neu.«

»Ach, nimm es nicht weiter ernst«, erwiderte Addie. »Keine Ahnung, woher ich das habe. Wahrscheinlich stimmt es nicht.«

Ganz sicher nicht. Bestimmt handelt es sich um eines dieser miesen kleinen Vorurteile gegen Amerikaner, wie sie im Pub die Runde machten. Zum Glück nahm Bruno es nicht persönlich.

»Schon möglich«, meinte er nachdenklich. »Viele Amerikaner haben noch nie das Meer gesehen.«

Addie betrachtete ihn zweifelnd und versuchte, sich das vorzustellen. Aber sie konnte es nicht.

»Warst du schon mal in Berlin?«, fragte er. »Wir könnten für neun Euro nach Berlin fliegen!«

Er hatte Ryanair entdeckt und weidete sich an der ganzseitigen Zeitungsanzeige, berauscht von dem Gedanken, so billig reisen zu können. Alle Städte Europas, so leicht zu erreichen.

»Oder Venedig?«, schlug er vor. »Wir könnten übers Wochenende nach Venedig fliegen. Neunzehn Euro, steht hier.«

»Ich dachte, Venedig sei überschwemmt. Ich habe ein Foto in der Zeitung gesehen. Die Stadt versinkt im Wasser.«

»Umso mehr Grund, hinzufliegen. Wir sollten es tun, bevor sie ganz verschwindet.«

»Diese Anzeigen sind ein wenig irreführend. Es kostet viel mehr, wenn man die ganzen Steuern dazurechnet.«

Doch alle ihre Einwände stießen auf taube Ohren.

»Nach Paris kostet es nur neunundneunzig Cent!«

Sie wollte ihm seine Begeisterung nur ungern nehmen.

»Die Sache ist«, antwortete sie freundlich, »dass ich Lola nur ungern allein lasse.«

Er klappte die Zeitung zu und legte sie auf seinen Schoß. Da die Anzeige nun nicht mehr sichtbar war, erschien ihm das viele Herumfliegen plötzlich nicht mehr verlockend.

»Offen gestanden, macht mir das Fliegen keinen Spaß mehr«, sagte Bruno. »Ich finde es immer anstrengender. Früher hat es mich nicht gestört, aber inzwischen schon. Muss was mit dem Älterwerden zu tun haben.

Außerdem«, fügte er hinzu, »habe ich ja noch nichts von Irland gesehen. Ich würde mir gerne Irland anschauen, bevor ich anderswo hinfliege.«

Und so redete er sich das Vorhaben wieder aus.

Es war nicht der richtige Zeitpunkt zum Reisen, das wussten sie beide, sondern Wartezeit. Eine Zeit, erfüllt von der zerbrechlichen Magie einer Möglichkeit und gleichzeitig von Gefahr. Es war, als wären sie sich gerade im Transitbereich eines Flughafens begegnet. Beide gefangen zwischen zwei Welten, hatten sie nur diesen einen Moment, um ihn miteinander zu teilen.