Kapitel 25
Mitte November wurden Hughs Gipsverbände abgenommen.
Darunter kamen rosige, schwammige Hände zum Vorschein, die an Aas erinnerten. Die Haut war trocken und schuppig, die Härchen standen dicht und verfilzt. Hugh betrachtete sie voller Abscheu und fühlte sich an widerliche gründelnde Fische erinnert. Also entfernte er die Hände aus seinem Gesichtsfeld, indem er sie unter seine Oberschenkel schob. Er konnte den Anblick nicht ertragen.
Auf seine Hände war er immer so stolz gewesen.
»Die Hände eines Arztes«, pflegte Helen ehrfürchtig zu sagen. Dann bückte sie sich und küsste erst die eine und danach die andere.
Damals waren die Mädchen verrückt nach Ärzten, was einem als Medizinstudent einen klaren Wettbewerbsvorteil verschaffte. Alle wollten mit einem ausgehen, und zwar nicht nur die Krankenschwestern. Auch die anderen Mädchen standen auf Medizinstudenten.
Natürlich versuchten die Ingenieure ebenfalls abzusahnen. Bei Tanzveranstaltungen tupften sie sich TCP hinter die Ohren, um nach Desinfektionsmittel zu riechen. Bis sie erwischt wurden, hatten sie vielleicht schon einen Erfolg gelandet und einen Fuß in der Tür.
Hugh musste schmunzeln, als er sich daran erinnerte.
»Sie sind also Arzt«, hatte Helens Vater gesagt und auf einen Lehnsessel am Kamin seines Arbeitszimmers gewiesen. Ein köstlicher Bratenduft wehte durchs Haus, der samtige Geruch von Fleisch in der Pfanne. Man konnte die verschiedenen Bestandteile ausmachen. Die angebratene Oberfläche des Fleisches, das Blut, das in die heiße, fettige Sauce rann. Hugh knurrte der Magen, und er musste geräuschvoll im Sessel herumrutschen, damit Helens Vater es nicht hörte.
Bis zum heutigen Tag hat er diese erste Begegnung noch klar im Gedächtnis.
Im Auto unterwegs nach New Ross waren sie durch Ortschaften gekommen, die Hugh noch nie gesehen hatte. Ordentliche Städtchen mit buckeligen Brücken, Backsteinhäusern und gepflegten Gärten. Auf Hugh wirkten manche davon nicht irisch, sondern eher englisch. Nicht, dass er je in England gewesen wäre, aber so stellte er es sich wenigstens vor.
Er weiß noch, wie jung und mittellos er sich neben ihr gefühlt hat. Allerdings auch stolz auf seine Leistungen und beinahe gierig.
Sie besaß ein eigenes Auto, was absolut ungewöhnlich war. Einige seiner Freunde durften das Auto ihrer Eltern benutzen, doch dass ein Mädchen ein eigenes Auto hatte, kam eigentlich nicht vor. Sie war das einzige Kind eines Kleinstadtanwalts und wurde von ihren Eltern vergöttert. Sie war sogar schon in Paris und in Wien gewesen und sprach ein wenig Italienisch.
Ihre Eltern waren bei ihrer Geburt bereits über vierzig und hatten die Hoffnung auf ein Kind schon lange aufgegeben. Ihre Mutter hatte ihre Schwangerschaft erst im sechsten Monat bemerkt, und als sie schließlich zum Arzt ging, war es deshalb, weil sie befürchtete, an einer tödlichen Krankheit zu leiden. Sie hatte gedacht, dass ihr Bauch wegen eines Tumors so stark angeschwollen war. Aber der Arzt hatte bei der Untersuchung zu lächeln angefangen, und als er es ihr mitteilte, war sie ganz aus dem Häuschen gewesen. Sie war die Straße hinauf zu Eddies Kanzlei gelaufen, worauf er den restlichen Tag freigenommen hatte. Zum ersten Mal im Leben machte er früher Feierabend und ging mit ihr auf ein improvisiertes Mittagessen ins Hotel in Wexford.
Hugh hatte Helen diese Geschichte so oft erzählen hören. Ihr Gesicht leuchtete, weil sie um das glückliche Ende wusste. Sie besaß die arglose Gewissheit und Selbstsicherheit eines Lieblingskindes. Ihr war klar, welches Glück sie in das Leben ihrer Eltern gebracht hatte, und sie nahm es als selbstverständlich, ohne es in Frage zu stellen. Solange die beiden lebten, brauchten sie Helen nur anzusehen, um glücklich zu sein.
Sie waren freundliche Menschen, höflich und gütig, und hießen Hugh in ihrem Haus willkommen, als gehöre er zur Familie. Wie den Sohn, den sie nie gehabt hatten. Helens Mutter bemutterte ihn wie eine Glucke, während ihr Vater mit ihm ein Gespräch von Mann zu Mann führte.
Erstaunlich, wie deutlich die Erinnerung noch war. Dabei hatte er sonst so viel vergessen. Er wusste noch genau, dass ihn ihre großzügige Gastfreundschaft verlegen gemacht hatte. Auch das luxuriöse Haus, verglichen mit seiner Studentenbude. Der üppige Geruch nach Möbelpolitur in der dunklen Vorhalle. Der fremde Geschmack des teuren Whiskeys. Die scharfen Kanten des Kristallglases in seiner Hand. Die Lautlosigkeit, wenn man das Glas auf dem mit Leder bezogenen Beistelltisch absetzte.
In diesem Moment, als er gegenüber von Helens Vater am knisternden Kaminfeuer saß und der Whiskey brennend seine Kehle hinunterrann, war seine Entscheidung gefallen. Das alles möchte ich auch haben, hatte er sich gesagt.
Niemals würde er in das muffige Bauernhaus in Navan zurückkehren. Nie wieder die stickige Luft einatmen. Die unzähligen Tassen Tee. Die hinterhältigen Fragen. Die Sticheleien aus ihren schlaffen Mündern. Er hatte es satt und wollte nichts mehr damit zu tun haben.
Das hier war das Leben, das er sich wünschte. Diese unausgesprochene Übereinkunft, dass es der Normalzustand war.
Die Erinnerung brach abrupt ab, und er sah sich im Zimmer um.
Es war wie im Kino. Der Film war aus, und die Lichter gingen an. Er ertappte sich dabei, dass er seine Umgebung musterte, schob die Gedanken an damals beiseite und kehrte langsam in die Gegenwart zurück.
Ein schönes Zimmer.
Das sagte er sich, als er den Blick durch den Raum schweifen ließ. Es enthielt alles, was er immer hatte besitzen wollen. Die Möbel aus Mahagoni, die antiken vergoldeten Spiegel, die abgewetzten Orientteppiche. Das Bett störte ihn, es musste endlich hier raus. Es wurde allmählich Zeit, dass wieder Normalität einkehrte. Seine Augen wanderten in die entlegenste Zimmerecke. Auf dem Sideboard stand ein silbernes Tablett mit einer Whiskeykaraffe aus Kristall und einigen Kristallgläsern.
Ich habe bekommen, was ich wollte, dachte er. Und heute bin ich der alte Knacker, der in seinem Arbeitszimmer sitzt und Whiskey aus einem Kristallglas trinkt.
Und dennoch.
Schatten stiegen in seinem Verstand auf, eine schemenhafte Masse, die am Rande seines Bewusstseins lauerte. Etwas, das ihn daran hinderte, mit dem, was er geleistet hatte, zufrieden zu sein. Eine Düsternis wie ein böser Geist. Er hatte den Eindruck, dass er eine Botschaft für ihn hatte.
Gerade wollte er sich eingehender damit beschäftigen und saß da, den Kopf zur Seite geneigt, während ihm die vielen Fragen Tränen in die Augen trieben, als ein Geräusch von draußen ihn ablenkte.
Es war Addie, die vom Strand zurückkehrte. Das Geräusch war das hinter ihr ins Schloss fallende Tor gewesen. Sie lief die Treppe hinauf und nahm zwei Stufen auf einmal. Ihr schwarzer Mantel wehte hinter ihr her, als sie in langen Sätzen die Stufen hinaufeilte. Der kleine Hund folgte ihr unbeholfen. Treppensteigen war nicht einfach, wenn man vier Beine hatte.
Hugh spürte, wie es ihm allein von dem Anblick warm ums Herz wurde. Er bemerkte, dass seine Stimmung plötzlich umschlug. Die Schatten verschwanden in Sekundenschnelle. Addie hatte immer diese Wirkung auf ihn. Sobald er sie sah, waren seine Sorgen wie weggeblasen.
Er hörte, wie sich ihr Schlüssel im Schloss drehte. Dann ein Keuchen, als sich die Tür öffnete, und das Klicken von Hundekrallen auf dem Fliesenboden in der Vorhalle.
Hugh richtete sich auf und wandte sich zur Tür um. Er straffte die Schultern und setzte eine leutselige Miene auf, seine Maske, Humor als Verteidigungsstrategie. Er zog einen Schleier über seine Liebe, ohne es selbst zu bemerken.
»Der Gips ist ab!«
Er saß am Schreibtisch vor dem Fenster, ballte die Finger zur Faust und öffnete sie wieder. Wie er die Finger spreizte, sah es aus, als wolle er bis zehn zählen.
»Oh, ja, heute Morgen ist er entfernt worden. Habe ich dir das nicht erzählt?«
Sie schüttelte den Kopf. Dabei fragte sie sich bereits, ob er es ihr nicht vielleicht doch gesagt hatte. Vielleicht hatte sie ja nicht richtig zugehört. Vielleicht hatte sie es auch vergessen.
Nun ließ er die Hände an den Handgelenken kreisen und malte damit Kringel in die Luft. Dabei drehte er den Kopf hin und her, um seine Hände zu beobachten, als schaue er einem Tennisspiel zu. So, als seien es gar nicht seine Hände, die sich da bewegten.
»Erstaunlich schwierig, diese Übungen, die sie mir aufgebrummt haben. Als müsste ich auf einem Bein stehen und gleichzeitig mit dem Finger die Nase berühren.«
Er musste immer wieder von vorne anfangen, da seine Hände aus dem Takt gerieten. Eine drehte sich schneller als die andere, oder er stellte fest, dass die andere plötzlich in Gegenrichtung rotierte. Er war fest dazu entschlossen, sie zu koordinieren. Ein gutes Training fürs Gehirn.
»Lass mal sehen«, meinte sie und ließ sich in den Sessel neben seinem Schreibtisch fallen. Sie streckte die Hände aus, damit er seine darauflegen konnte.
Widerstrebend tat er es.
Sie betrachtete sie eine Weile und streichelte sie mit den Daumen. Dann beugte sie sich vor, um sie zu küssen.
»Die armen Hände«, sagte sie in zärtlichem Ton.
Er musste sich beherrschen, um nicht zurückzuzucken.
»So«, fuhr sie fort und hielt sie weiter fest. »Wann kannst du wieder arbeiten?«
Sie blickte zu ihm auf. Ihr Gesicht war offen und strahlte. Zum wohl hundertsten Mal fiel ihm auf, was für schöne Augen sie hatte. Das Weiße war makellos weiß, die Iris dunkelgrau wie das Meer an einem stürmischen Tag. Er liebte ihre Augen, obwohl er ihr das nur über seine Leiche verraten hätte.
Sanft entzog er ihr seine Hände und legte sie auf die Oberschenkel, wo er sich ein paarmal damit über die Hosenbeine fuhr und das Gefühl genoss, dass sie wieder ihm gehörten.
»Oh, ich glaube, das wird noch eine Weile dauern«, erwiderte er lässig. »Ich habe ja gerade erst mit der Physiotherapie angefangen.«
Er begann, in den Papieren auf seinem Schreibtisch zu kramen, und tat, als suche er etwas.
»Was schätzt du?«
»Meinst du die Physiotherapie?«
Er blickte sie immer noch nicht an.
»Nein, bis du wieder zur Arbeit kannst.«
Er schlug einen beiläufigen Tonfall an.
»Oh, das ist sicher nur eine Frage von Wochen. Die Entscheidung liegt ganz bei mir.«
Im nächsten Moment begann er, leise vor sich hin zu summen. Alles war ihm recht, um die Stille zu füllen. Wenn er log, war er wie ein kleiner Junge.