Kapitel 1
An einem regnerischen Montagmorgen mitten im Herbst betrat Bruno Boylan zum ersten Mal das Land seiner Vorfahren – endlich.
Er war mit einem Rückflugticket für vierhundert Dollar unterwegs, das er erst wenige Tage zuvor bequem von zu Hause aus erworben hatte. Nur ein paar Mausklicks und eine sechzehnstellige Kreditkartennummer waren nötig gewesen. Eigentlich war es gar kein richtiges Ticket, sondern eine ausgedruckte E-Mail mit einem Zaubercode. Keine Verzögerungen, keine Zwischenlandungen, keine widrigen Wetterverhältnisse. Er war wach geblieben, bis die Stewardess mit dem Getränkewagen und dem Essen kam, und hatte anschließend noch ein wenig in seinem Buch gelesen. Dann hatte er eine Xanax eingeworfen, was die Flugzeit im Nu drastisch verkürzte. Er hatte nur wenig Gepäck bei sich, nichts weiter als einen kleinen Rucksack und eine Reisetasche im Frachtraum. Keinerlei Hinweis darauf, dass es sich um eine Reise von historischer Bedeutung handelte.
Er wurde vom Signal der Bordsprechanlage geweckt. Als er die Augen aufschlug, stellte er fest, dass er kläglich zusammengekrümmt an der Flugzeugwand lehnte und sein Gesicht am Fensterrollo platt drückte. Also richtete er sich mühsam auf und presste seinen Kopf an die Kopfstütze. Mit geschlossenen Augen saß er da, reglos, und wartete darauf, dass eine Stimme erklang.
Allmählich wurde er sich seiner körperlichen Missempfindungen bewusst. Sein Rücken schmerzte, und seine Knie waren so verkrampft, dass sie knackten, als er sie auszustrecken versuchte. Außerdem tat ihm vom langen Sitzen der Hintern weh, und er musste pinkeln. Um ihn herum waren verschiedene Reiseutensilien verstreut. Eine dünne Decke lag über seinen Knien, der verhedderte Kopfhörer auf seinem Schoß. Das Buch hatte sich irgendwo unter ihm verkeilt, doch sein Körper war so taub, dass er es nicht einmal spürte. Seine Schuhe waren unter dem Sitz verschwunden. Bald würde er sie suchen und seine Füße hineinzwängen müssen. Er gestattete sich noch einen Moment lang den Luxus, den Teppichboden durch die Socken zu fühlen.
Wieder ein Signal, und die Stimme des Piloten hallte durch die Kabine. Bruno konnte nur Wortfetzen verstehen, sich den Inhalt der Durchsage allerdings denken, indem er die Lücken füllte. Bald würde der Landeanflug beginnen. Etwas über das Wetter in Dublin, das Bruno rätselhaft blieb. Er schob das Rollo hoch und hatte eine dicke weiße Wolke vor sich. Sonst sah er nur die eigenartig reglose Tragfläche des Flugzeugs.
Er wandte sich dem kleinen blauen Bildschirm auf der Rückseite seines Vordersitzes zu und blickte auf eine bewegliche Karte, die nichts als die groben Umrisse der amerikanischen Ostküste, den gewaltigen Atlantik und in der oberen rechten Ecke die Silhouetten von Irland und England zeigte. Ein Bogen zeichnete die Flugroute nach. Das Flugzeugsymbol befand sich inzwischen beinahe über Irland. Es war nicht maßstabsgetreu, so dass es fast das gesamte Land abdeckte.
In Bruno schaltete etwas um. Eine plötzliche Panik ergriff ihn, ein kurzes, mulmiges Gefühl, dass er sich besser auf die Ankunft hätte vorbereiten sollen. Er war noch nicht so weit. Er hätte nicht schlafen, sondern die ganze Zeit über wach bleiben und die Reise bewusst erleben sollen. Ihm fiel eine Geschichte ein, die er einmal gehört hatte: Indianer blieben nach der Landung erst einmal am Flughafen sitzen, um ihrer Seele die Gelegenheit zu geben, den Körper einzuholen. Plötzlich erschien Bruno diese Vorgehensweise sehr einleuchtend. Sein Körper hatte seine Seele abgehängt; es brauchte Zeit, damit sie wieder miteinander ins Lot kamen.
Der Bildschirm vor ihm änderte sich und zeigte nun eine Liste von Zahlen. Zeit bis zur Landung: 0:23 Minuten.
Diese Zeit musste er nutzen, um seine Gedanken zu ordnen.
Drei Wochen war es nun her, dass er seinen Arbeitsplatz verloren hatte. Drei Wochen, die ihm wie drei Jahre vorkamen. Oder drei Tage. Oder drei Stunden. Es war einfach absurd! Seitdem schien ein ganzes Leben vergangen zu sein. Und dennoch war alles noch frisch, die Wunde noch offen.
Noch einen Monat bis zur Wahl. Die Warterei war unerträglich. Man musste sich regelrecht einreden, dass die Zeit in derselben Geschwindigkeit wie immer verstrich. Bald würde der Tag da sein, an dem das Ergebnis feststand. Dennoch hielt er es vor Ungeduld kaum aus.
Und hier war Bruno nun, in der Luft schwebend zwischen zwei Punkten. 0:21 Minuten bis zur Landung. Er stellte sich vor, er wäre ein kleines Männchen auf der beweglichen Karte, ein schemenhafter Lebkuchenmann, der entlang der Flugroute über den Ozean reiste. Gerade fuhr er die Linie mit dem Finger nach, als der Bildschirm unvermittelt schwarz wurde.
Wieder sprang der Lautsprecher an, und die Kabinenbeleuchtung wurde heller. Die »Bitte-anschnallen-Zeichen« leuchteten auf, und die Flugbegleiterinnen verteilten Einreiseformulare. Bruno blinzelte ins grelle Licht und füllte sein Formular ordentlich mit dem Kugelschreiber aus, den man ihm gegeben hatte. Als er fertig war, wusste er nicht, wohin damit. Schließlich steckte er ihn in sein Buch, das zugeklappt auf seinem Schoß lag.
Während die Maschine langsam durch die Wolken sank, starrte Bruno aus dem Fenster und spähte voller Hoffnung hinaus ins Nichts. Er konnte nur sehen, dass Regen an der Scheibe herabströmte und dass die gewaltige graue Tragfläche des Flugzeugs durch dichte weiße Luft pflügte. Wie viele Meter sie noch vom Boden trennten, war nicht festzustellen.
Plötzlich tauchte etwas Grünes vor dem Fenster auf. Nasses Gras raste vorbei, dazu ein rot-weiß gestreifter Windsack und ein niedriges graues Gebäude. Ein scheußliches Geräusch entstand, als das Fahrwerk kurz den Boden berührte und wieder hochsprang. Eine holperige Landung, denn der Rumpf des Flugzeugs wurde kräftig hin und her geschleudert, bis die Bremsen endlich griffen und die Maschine sich ausrichtete. Bruno umklammerte mit beiden Händen die Lehne des Vordersitzes, um nicht nach vorne zu kippen.
Als das Flugzeug in Richtung Terminal rollte, wurde er von einem berauschenden Hochgefühl ergriffen. Nach all den Jahren hatte er es endlich getan. Dreißig Jahre nach seinem Versprechen am Totenbett, das ihn seitdem verfolgte. Nun war es vollbracht. Kurz überlegte er, ob er einfach an Bord bleiben und wieder umkehren sollte. Doch da fiel ihm ein, dass es nichts mehr gab, wofür sich das Umkehren lohnte.
Sein Rückgrat protestierte, als er sich vorbeugte, um nach seinen Schuhen zu tasten. Er stopfte die Kopfhörer in die Tasche an der Rückseite des Sitzes. Dann öffnete er seinen Sicherheitsgurt, saß da und sehnte sich nach einer Zahnbürste.
Das Flugzeug stoppte ruckartig, und die Türen öffneten sich mit einem gewaltigen Keuchen. Sofort sprangen die Leute auf und durchwühlten die Gepäckfächer nach ihrer Habe, warteten auf die Anweisung, sich in Bewegung zu setzen, und schlurften gesenkten Kopfes los wie Sträflinge in einer Arbeitsbrigade. Bruno rutschte auf den Gangplatz hinüber, wuchtete sich auf die Füße und streckte sich, um sein Bordgepäck herunterzuholen. Er reihte sich in die Schlange zur Tür ein, nickte der Stewardess zu, trat in die Schleuse, die das Flugzeug mit dem Terminal verband, und folgte den anderen einen Gang mit leichter Steigung entlang. Es war merkwürdig beruhigend, Teil dieser geordneten Prozession zu sein, so als befände man sich auf einer Pilgerfahrt.
Als er den Faltenbalg überquerte, wackelte dieser unter seinen Füßen wie ein schwimmender Bootssteg. Bruno spürte die Erschütterung im Magen und fühlte sich so leicht wie ein Ballon. Er nahm die Tasche von der Schulter, ließ sie seitlich herunterbaumeln und klammerte sich daran. Ohne dieses Stück Ballast wäre er sicher davongeflogen.
Die Maschinen steuern Dublin über Howth an.
An klaren Tagen hat man bei der Landung Aussicht auf die Dublin Bay. Links liegt der Hafen von Dún Laoghaire, rechts Portmarnock. Dazwischen erstreckt sich die gewaltige freie Fläche des Strands von Sandymount.
Vom Strand aus kann man die eintreffenden Flugzeuge beobachten, die wie ein steter Strom lautlos über den Himmel ziehen. Sie kommen weit draußen über dem Meer in Sicht, beschreiben über Howth Head einen sanften Bogen abwärts und gleiten die südlichen Klippen entlang. Dann verschwinden sie ohne ein Geräusch in der Stadt.
Die Flugzeuge gehören so sehr zur Landschaft, dass Addie sie kaum noch wahrnimmt. Dasselbe gilt für den Rauch aus den Schornsteinen in Poolbeg und die Autofähren, die am Horizont entlang nach Dún Laoghaire tuckern. Genauso ist es mit den Wolken, den Seevögeln und dem Meer selbst. Addie bemerkt keines dieser Dinge. Sie ist so in ihre Gedankenwelt versunken, dass sie sonst nichts registriert.
Hier am Strand ist sie zur Welt gekommen. Mehr oder weniger.
Sie war fünf Tage alt, als sie sie nach Hause brachten. In den Armen ihrer Mutter verließ sie das Auto, ein winziges Bündel, in eine violette Angoradecke gewickelt und eine Wollmütze tief über Ohren und Stirn gezogen. Ihre Mutter ging die Vortreppe hinauf. Oben blieb sie stehen und drehte sich zum Meer um.
Ihr Vater hatte die Tür bereits geöffnet und war in den Flur getreten. Er winkte ihre Mutter heran. »Herrje, so komm schon endlich rein«, sagte er. »Bei dieser Kälte holst du dir ja den Tod.«
Aber ihre Mutter verharrte noch einen Moment mit Addie in den Armen auf der Vortreppe und atmete tief die kalte Meeresluft ein. Nach dem stickigen, überheizten Krankenhaus war es himmlisch, und sie konnte gar nicht genug davon kriegen. Dabei dachte sie gar nicht daran, dass ihre neugeborene Tochter ebenfalls diese salzige Luft einsog, die bis tief hinunter in ihre schwammige kleine Lunge drang. Und so war ein Teil davon wahrscheinlich auch in ihre Seele geraten.
Genauso fühlt Addie sich jetzt, nämlich als ob der Strand ein Teil von ihr wäre. Er ist ein ganz besonderer Ort für sie und vermutlich das, was verhindert, dass sie den Verstand verliert.
So früh am Morgen ist der Strand menschenleer. Niemand ist hier, außer ihr und dem kleinen Hund. Es herrscht Ebbe. Die Wolken hängen so tief über dem Sand, dass man fast spüren kann, wie sie einem auf den Kopf drücken. Der Wetterbericht sagt Regen voraus, doch bis jetzt ist noch nichts davon zu spüren.
Addie steuert schnurstracks aufs Wasser zu. Inzwischen ist sie schon fast einen Kilometer weit gekommen, ohne dass das Meer näher gerückt wäre. Offenbar hat die Ebbe ihren Höhepunkt erreicht. Da sie mittlerweile auf immer mehr Pfützen stößt, geht sie nicht weiter; schließlich will sie keine nassen Füße bekommen. Allmählich wird es kalt. Sie hätte besser ihre Stiefel anziehen sollen. Doch sie hat es nicht getan. Sie trägt lieber Turnschuhe. So kann sie die Wellen im Sand durch die Sohlen spüren. Der harte Sand unter ihren Füßen sorgt dafür, dass sie sich geerdet fühlt.
Schon ihr ganzes Leben lang hat Addie den Eindruck, dass eine schwarze Wolke sie verfolgt. Inzwischen glaubt sie, dass diese Wolke sie endlich eingeholt hat. Nur am Strand hat sie die Möglichkeit, schneller zu laufen als die Wolke.
Am Strand kann sie auch Selbstgespräche führen. Sie kann die Lieder auf ihrem iPod mitsingen, ohne dass sie jemand hört. Sie kann auch schreien, wenn sie will, und manchmal tut sie es. Sie schreit, und dann lacht sie sich deshalb selbst aus. Am Strand kann sie über alles nachdenken, was geschehen ist. Sie kann die Ereignisse in ihrem Kopf hin und her schieben und heiße Tränen des Selbstmitleids vergießen. Sie hat zwar ein schlechtes Gewissen, weil sie in Gegenwart des Hundes weint, aber anschließend geht es ihr viel besser. Sie ist beinahe zufrieden.
Der Hund gräbt vor ihr im Sand nach etwas, das gar nicht da ist. Er schaufelt den nassen Sand mit den Vorderpfoten hoch und wirft ihn zwischen den Hinterbeinen hindurch. Hinter ihm hat sich ein großer Haufen gebildet, und sein ganzer Bauch ist schmutzig, doch das scheint ihn nicht zu stören. Addie steht da und beobachtet, wie sich der Hund vergebens abmüht. Soll er doch, sagt sie sich. Wenn es ihn glücklich macht!
Addie legt den Kopf in den Nacken und betrachtet den Himmel. Sie mustert ihn, als suche sie etwas dort oben. Sie denkt, dass sie gerne ins Weltall fliegen und sich die Erde von dort aus anschauen würde. Wenn sie die Möglichkeit hätte, die Welt von außen zu sehen, könnte sie sich vielleicht ein besseres Bild von ihrer eigenen Lage machen.
Sie dreht sich zum Ufer um. Selbst von hier kann sie das Haus ausmachen. Es ist das beigegraue in der Mitte einer blass pastellfarbenen Häuserzeile. Drei große Fenster mit Meerblick, zwei oben, eins unten.
Sicher sitzt er am unteren Fenster. Sie kann ihn zwar von hier aus nicht sehen, weiß aber, dass er da ist und sie beobachtet. Deshalb hat sie keine Lust, wieder hineinzugehen.
Sie nimmt den iPod aus der Tasche und blättert das Menü durch. Es dauert eine Weile, das Gesuchte zu finden. Nachdem sie ein Stück ausgewählt hat, sichert sie das Gerät, damit sich nichts verstellt, bevor sie es wieder einsteckt. Dann strafft sie die Schultern, hält das Gesicht in den Wind und wartet darauf, dass die Musik anfängt.
Es ist eine Sopranarie, und Addie ist alles andere als ein Sopran. Das hindert sie jedoch nicht daran, einzustimmen. Sie singt kräftig mit und stellt sich vor, dass jeder Ton sitzt.
»I know that my redeemer liveth …«
Sie hat zwar Textlücken, aber das macht nichts. Das Singen fühlt sich einfach so gut an. In den Stücken, die sie kennt, gibt es viele Wiederholungen.
»I know that my redeemer liveth …«
Beim Singen legt sie den Kopf in den Nacken und schließt die Augen. Hier hört sie ja niemand, und außerdem wäre es ihr auch egal. Den Hund kümmert der Gesang nicht. Er ist daran gewöhnt.
Nun geht Addie zurück zum Ufer. Der kleine Hund wimmelt um ihre Beine herum. Der Himmel hinter ihr ist schwarz und zornig. Bald wird es zu regnen anfangen. Ein klobiger Frachter unterbricht die Linie des Horizonts. Er verharrt einfach auf der Stelle und versperrt die Sicht. Seine Schornsteine pusten noch Rauch in die Luft, der sich blass vom dunklen Himmel abhebt. Immer wieder blinken die Flugzeug-Warnleuchten auf.
Draußen über Howth Head erscheint das nächste Flugzeug aus den Wolken und setzt zum sanften Landeanflug auf den Flughafen von Dublin an.
Als Bruno an der Passkontrolle stand, fühlte er sich plötzlich zu alt für so ein Unterfangen.
Er war so lange nicht mehr verreist, dass er ganz vergessen hatte, wie körperlich anstrengend es war. Die weichen Knie, die ausgedörrte Kehle, das Rumpeln in seinem Darm.
»Grund Ihres Besuchs?«
»Politisches Asyl«, erwiderte Bruno in einer Anwandlung von Wahnwitz.
Der Mann zog die Augenbrauen hoch und blickte ihn an. Er konnte doch unmöglich schon alt genug sein, um bei der Polizei zu arbeiten; er sah aus wie ein Schuljunge. Außerdem hatte er leuchtend karottenrotes Haar. Also war es doch kein Klischee.
Bruno kam wieder zur Vernunft.
»War nur ein Scherz«, sagte er. Er bemühte sich um eine charmante Miene und beugte sich verschwörerisch über den Schalter. Inzwischen bemerkte er, dass sich hinter ihm eine Schlange gebildet hatte.
»Da wollte ich wohl wieder besonders witzig sein«, fuhr er fort. »Eigentlich möchte ich hier Urlaub machen, bis die Wahl vorbei ist. Schauen Sie, bis zum 5. November.«
Er hielt den Ausdruck seines Tickets hoch, doch der Mann würdigte es keines Blickes, sondern musterte stattdessen Brunos Gesicht.
»Nachvollziehbar«, erwiderte er.
Er hob den Stempel, ließ ihn mit einem leisen Plopp auf die Seite niedersausen, klappte den Pass zu und reichte ihn Bruno so gemächlich, als habe er alle Zeit der Welt.
»Ich sag Ihnen was«, meinte er. »Falls diese Brüder nach der Wahl noch immer an der Macht sind, melden Sie sich bei mir. Dann kriegen Sie von uns Asyl.«
Bruno traute seinen Ohren nicht.
»Nehmen Sie es nicht persönlich«, fügte der junge Polizist hinzu, plötzlich besorgt, zu weit gegangen zu sein.
»Kein Problem.«
Bruno war versucht, noch etwas nachzulegen, verkniff es sich aber. Er steckte den Pass in die Jackentasche, nahm seine Tasche und trollte sich.
Während er am Gepäckband wartete, schmunzelte er noch immer in sich hinein. Nicht zu fassen, dachte er. Zu Hause hätte es wahrscheinlich üble Folgen gehabt, einen Grenzpolizisten auf den Arm zu nehmen.
Außerdem hatte ihn der Mann auf einen Gedanken gebracht. Als er seine Tasche entdeckte, die sich langsam auf ihn zubewegte, hatte er einen Entschluss gefasst.
Wenn die Republikaner gewinnen, kehre ich nicht zurück.
Der Regen setzte ein, als sie gerade den Schlüssel in der Kellertür umdrehte. Ein plötzlicher, kräftiger Schauer. Sie hastete hinein und schlug eilends die Tür hinter sich zu. Dem Hund gelang es gerade noch, durch den Türspalt zu schlüpfen.
»Knapp geschafft, Lola. Sonst wären wir klatschnass geworden!«
In letzter Zeit spricht sie immer häufiger mit dem Hund und ertappt sich manchmal sogar bei richtiggehenden Unterhaltungen. Das ist bestimmt kein gutes Zeichen.
Lola verharrte vor dem leeren Wassernapf und wedelte auffordernd mit dem Schwanz. Nachdem Addie den Napf am Wasserhahn gefüllt hatte, trank Lola schlürfend und hatte ihn innerhalb von Sekunden geleert.
Dann ließ Addie Wasser in den Teekessel laufen, schaltete ihn ein, lehnte sich an die Arbeitsfläche und wartete, bis es kochte.
Ein Blick auf die Wanduhr verriet ihr, dass es erst kurz vor zehn war. Also hatte sie noch den ganzen Tag vor sich, den ganzen Vormittag und den ganzen Nachmittag und danach den Abend. Plötzlich konnte sie die Vorstellung nicht ertragen. Sie hatte beim besten Willen keine Ahnung, wie sie das durchhalten sollte.
Während sie weiter an der Arbeitsfläche stand, keimte ein Funke Zuversicht in ihr auf. Sie spielte mit dem Gedanken, Della zu besuchen. Am besten war es, ihr eine SMS mit dem Vorschlag zu schicken, sich zum Kaffee zu treffen. Eine positive Nachricht, damit sie nicht als bedürftig wahrgenommen wurde. Im nächsten Moment fiel ihr ein, dass heute Dellas Bibliothekstag war. Sie half ehrenamtlich in der Schulbibliothek aus. Also würde sie keine Zeit zum Kaffeetrinken haben. Addie spürte, wie sich ihre Kehle zusammenschnürte und Tränen hochstiegen. Wieder einmal hatte sie das Gefühl, in ein schwarzes Loch hinunterzublicken.
»Haben Sie manchmal den Wunsch, sich etwas anzutun?« Das war das Einzige, was die Therapeutin interessiert hatte. Sie wollte sich nur selbst absichern und hatte schreckliche Angst, dass Addie sich umbringen könnte und dass man sie dafür zur Rechenschaft ziehen würde. Also fragte sie immer wieder, ob Addie je an Selbstmord dachte. Addie hatte verneint, obwohl das eine unverfrorene Lüge war.
Wie oft am Tag spielt Addie mit diesem Gedanken? Öfter als zweimal, seltener als fünfmal, die Finger an einer Hand. Erst denkt sie daran und dann an die Gründe, es lieber zu lassen. Lola. Ihr Dad. Della und die Mädchen. Die Möglichkeit, dass sich die Lage bessern wird.
Der Gedanke huscht ihr durch den Kopf und verschwindet wieder, denn ihr ist klar, dass es nicht in Frage kommt. Sie rüttelt nur an einer Tür, wohl wissend, dass sie verschlossen ist.
Lola saß vor ihr auf dem Boden, den Kopf anmutig erhoben, die traurigen Spanielaugen auf Addie gerichtet.
»Nicht«, flehte Addie mit zitternder Stimme. »Sonst muss ich weinen. Bitte bring mich nicht zum Weinen.«
Sie ging in die Hocke, schlang die Arme zärtlich um den nassen kleinen Hund und vergrub das Gesicht in sein Nackenfell. Mit geschlossenen Augen ließ sie sich Trost suchend gegen den Hund sinken. Lola taumelte unter Addies Gewicht, schaffte es aber, die Balance zu halten. Der Geruch nach feuchtem Sand, salzigen Muscheln und den winzigen Lebewesen darin war so übermächtig, dass Addie sich losmachen musste. Als sie sich aufrichtete, fing das Wasser im Kessel gerade zu kochen an und schaltete sich selbsttätig ab.
Ein kleiner Sieg, denn es war ihr gelungen, sich wieder zu fangen. Sie machte Kaffee und erhitzte Milch in der Mikrowelle. Es war noch genug für eine zweite Tasse übrig, weiter wollte sie nicht in die Zukunft planen. Addie setzte sich mit der Tasse an den Tisch. Sie trank den heißen Milchkaffee und blickte durch die Terrassentüren hinaus auf den verregneten Garten. Sie konzentrierte sich ganz auf den Kaffee und den Garten, fest entschlossen, an nichts anderes zu denken.
Sie wollte aufstehen und ihre Tasse nachfüllen, als über ihr an die Decke geklopft wurde. Ein, zwei, drei kurze Polterer, das Zeichen, dass er etwas brauchte.
Sie zwang sich, noch eine Minute sitzen zu bleiben, bevor sie zu ihm nach oben ging.
Vor dem Terminal standen die Leute Schlange und warteten auf ein Taxi. Menschengruppen in Sommerkleidung und mit sonnenverbrannter Haut schoben Gepäckwagen, auf denen sich die Koffer türmten. Offenbar waren die Raucher in der Überzahl. Bruno fühlte sich fehl am Platz und sehr allein.
Als er vorne in der Schlange angelangt war, winkte ein Ordner ihn zu sich.
»Wie viele Personen?«
»Nur eine«, erwiderte Bruno entschuldigend.
Er öffnete die Taxitür, warf seine Taschen hinein und kletterte hinterher. Erleichtert, dass die Reise fast vorüber war, lehnte er sich zurück. Es dauerte eine Weile, bis er bemerkte, dass der Fahrer sich umgedreht hatte und ihn erwartungsvoll anblickte.
Der Fahrer sagte etwas zu ihm, aber Bruno konnte kein Wort verstehen, da er Mühe mit dem Akzent hatte.
»Verzeihung?«
»Ich sagte, dass ich kein Hellseher bin. Sie müssen mir schon verraten, wo Sie hinwollen.«
»Oh«, antwortete Bruno gut gelaunt. »Ich möchte nach Sandymount. Können Sie mich bitte nach Sandymount bringen?«
Kaum hatte er die Worte ausgesprochen, als der Mann schon losfuhr.
Bruno beugte sich in die Lücke zwischen den beiden Vordersitzen.
»Können Sie mir vielleicht ein Hotel oder eine Pension in Sandymount empfehlen?«, fragte er. »Ich brauche eine Unterkunft.«
»Haben Sie an etwas Bestimmtes gedacht?«
»Gibt es dort einen Strand? Vielleicht finden wir ja etwas in Strandnähe.«
Der Fahrer musterte ihn. »Geht in Ordnung«, erwiderte er zweifelnd.
»Ich habe Verwandtschaft dort«, fügte Bruno hinzu, doch der Fahrer schien nicht interessiert.
Sandymount. An mehr hatte sich seine Schwester nicht erinnern können. Sie hatte es ihm auf einen Zettel notiert, und er hatte es auf die Innenseite des Umschlags seines Reiseführers geschrieben. Doch alles andere hatte sie vergessen. Also gab es keine Garantie, dass sie noch dort wohnten.
Als Erstes würde er sie im Telefonbuch nachschlagen. Falls sie eine Geheimnummer hatten, musste er sich eben umhören. Irgendjemand musste sie ja kennen. Selbst wenn sie umgezogen waren, gab es vielleicht eine Nachsendeadresse und jemand wusste, wo man sie finden konnte. Während das Taxi durch die Stadt sauste, arbeitete Bruno im Geiste sämtliche Szenarien durch. Er ging dabei methodisch vor und kam jedes Mal zu einer Lösung. Das Einzige, was er nicht in Betracht zog, war die Möglichkeit, dass sie ihn vielleicht nicht sehen wollten. Auf diesen Gedanken kam er gar nicht erst.
Das Taxi umrundete eine schmale Verkehrsinsel. Dann überquerten sie eine breite, hässliche Brücke. Zu Brunos Linker schnitt der Fluss eine Schneise durch die ganze Stadt. Niedrige graue Gebäude säumten die Kais auf beiden Seiten des ebenfalls grauen und ruhigen Wassers. Als Bruno sich nach links wandte, sah er Schiffe. Kreuzfahrtschiffe und Frachter waren an der Kaimauer verankert. Kleine Jachten schwankten mitten im Fluss. Dahinter begann, wie er vermutete, das Meer.
Das Taxi hielt in der Warteschlange vor einer Mautstation. Da es plötzlich still wurde, konnte Bruno das Radio hören. Die Nachrichtensprecherin hatte einen wunderhübschen Akzent. Für Bruno klang sie wie eine Stimme aus der Vergangenheit.
»Nach den jüngsten Umfragen in den Vereinigten Staaten holt der demokratische Kandidat Barack Obama gegenüber seinem republikanischen Rivalen John McCain in den Schlüsselstaaten auf. In Ohio, wo sich die Wähler in den letzten elf Wahlen für den Sieger entschieden haben, liegt Senator Obama nun drei Prozent vor Senator McCain. Die beiden Kandidaten werden heute Abend in einem zweiten Fernsehduell erneut aufeinandertreffen.«
Bruno schmunzelte.
So viel zum Thema Abstand gewinnen.
Selbstverständlich ist es rückblickend betrachtet völlig klar und nur schwer vorstellbar, dass es auch anders hätte ausgehen können.
Wenn man sieht, wie dieser Mann an seinem Schreibtisch im Oval Office sitzt, den langen Arm vor sich liegend, um seine berühmte Linkshänderunterschrift zu leisten. Wenn man beobachtet, wie dieser schlaksige Mann, die Handflächen den Kameras entgegengereckt, mit seiner reizenden Frau den Eingeweiden der Air Force One entsteigt und sich dabei so wohl zu fühlen scheint wie ein Fisch im Wasser. Kaum auszudenken, dass jemand anderer seinen Posten hätte bekommen können!
Doch wenn man die Nachrichten einschaltet und zum hundertsten Mal hört, dass sich der Immobilienmarkt im freien Fall befindet, und wenn man den Vorhersagen glaubt, die Rezession werde noch folgenschwerer und kostspieliger werden als erwartet, ist man nicht wirklich überrascht. Schließlich war es von Anfang an ziemlich klar, dass sich die Dinge in diese Richtung entwickeln würden. Offenbar hat sich der Kreis geschlossen.
Was man jedoch nicht vergessen darf, ist, dass das damals noch niemand wissen konnte.