Kapitel 9
Oh, so ein Leben möchte ich auch führen«, meinte Della. »Die Freiheit zu haben, mit einem wildfremden Mann in die Kiste zu steigen!«
»Er ist kein wildfremder Mann, Dell, das ist ja das Problem. Er ist unser Cousin.«
»Ich dachte, es ist verboten, mit dem eigenen Cousin zu schlafen. Braucht man da nicht eine Sondererlaubnis vom Papst oder so?«
»Cousin zweiten Grades. Ich glaube, der Papst dürfte damit kein Problem haben.«
Della prustete.
»Ist er verheiratet? Wie viele Kinder hat er?«
»Keine, soweit ich weiß.« Addie bemerkte, wie ausweichend ihr Tonfall klang – ein erfolgloser Versuch, nicht naiv zu klingen. »Ich habe ihn nicht danach gefragt.«
Della prustete wieder lautstark, was Addie absichtlich überhörte.
»Er ist Banker.«
»Beeindruckend«, erwiderte Della, bemüht, sich ihre Überraschung nicht anmerken zu lassen.
»Sein Spezialgebiet sind Beteiligungen an Fluglinien. Leider hat er gerade seinen Job verloren. Er hat bei Lehman Brothers gearbeitet.«
Das wundert mich nicht, dachte Della. Addie hat ein Talent dafür, an Versager zu geraten. Also ist dieser Typ sicher keine Ausnahme.
Addie konnte die Gedanken ihrer Schwester lesen und zog die Sache sofort ins Lächerliche.
»Ich bin eben ein Pechvogel. Da lerne ich endlich einen netten Banker kennen, und ausgerechnet jetzt brechen weltweit die Finanzmärkte zusammen.«
»Nun, ja«, seufzte Della. »Mitten in einer Rezession darf man nicht allzu wählerisch sein.«
Früher einmal hätte Addie einen Banker noch weniger in Betracht gezogen als einen Serienmörder. Banker, Steuerberater, Anwälte, alles dieselbe Bande! Solche Typen hätte sie keines Blickes gewürdigt. Sie doch nicht.
Wie sich die Zeiten ändern. Inzwischen erscheint einem ein Banker wie ein Traummann.
»Und da wäre noch etwas«, fügt Addie hinzu. »Er ist alt.«
»Addie, wir sind alle alt.«
»Mag sein.«
»Wie alt ist er denn genau?«
»Neunundvierzig.«
»Simon Sheridan wird dieses Jahr vierundvierzig.«
Sie hat die Angewohnheit, ihren Mann beim Nachnamen zu nennen, wenn sie von ihm spricht. Alles ist ihr recht, um ein wenig Abstand zu ihrem Leben zu gewinnen.
»Ich weiß, ich weiß«, entgegnet Addie, »aber neunundvierzig ist nur ein Jahr weniger als fünfzig. Ich vögle mit einem Fünfzigjährigen. Das ist doch ein bisschen schräg, oder?«
»Das ist die Zukunft, mehr nicht«, antwortete Imelda. »Hast du ihn schon mit Hugh bekannt gemacht?«
»Herrje, Della. Er ist Amerikaner. Er ist ein Verwandter. Und er trägt einen Bart. Da ist die Katastrophe vorprogrammiert.«
»Ach, aber vergiss nicht, er ist Banker.«
Die Sache ist nur, dass Bruno sich mittlerweile nicht mehr als Banker versteht.
Er ist nicht einmal sicher, ob er überhaupt je einer war. Es hat sich eben einfach so ergeben. In der Schule war er gut in Mathe, und dann hat er sich treiben lassen. Nun fühlt er sich wie der Passagier eines Zuges, der gerade entgleist ist. Er entfernt sich vom Unfallort und denkt sich, welches Glück er doch hatte, aus dem Waggon geschleudert worden zu sein.
Wenn man ihn so, ein offenes Notizbuch auf dem Tisch, bei Starbucks sitzen sieht, könnte man ihn für einen Schriftsteller oder Journalisten halten. Er blickt sich mit aufmerksam funkelnden Augen um und beugt sich immer wieder über sein Notizbuch, um etwas aufzuschreiben.
Es ist Samstagnachmittag, und das Lokal wimmelt von Paaren. Schicke junge Leute in Jeans und Kaschmir. Auf den Tischen liegen Mobiltelefone und Autoschlüssel zwischen dampfenden Milchkaffeebechern und teuren Gebäckteilchen. Überall wird die Samstagszeitung in Sektionen aufgeteilt. Bruno überfliegt die Schlagzeilen. Ganz gleich, wohin er auch schaut, immer springen ihm dieselben Phrasen entgegen: Haushaltsdefizit, globale Krise, Zusammenbruch der Finanzmärkte.
Seltsamerweise wirkt niemand sonderlich besorgt. Alle lesen ihre Zeitung, trinken Kaffee und machen Pläne für den Samstagabend. Bruno hört sie in ihre Telefone sprechen. Sie schildern ihren Kater. Bruno ist fasziniert, wie sehr sie dabei ins Detail gehen. Sie haben sogar ein eigenes Vokabular dafür. Er hört, wie sie sich in diesem oder jenem Pub verabreden. Dann werden die Restauranttische reserviert. »Ich muss noch zum Friseur, aber wir können uns anschließend treffen.« Sie verhalten sich, als ginge sie die ganze Sache nichts an.
Bruno interessiert sich für die Entwicklungen. Wie könnte es auch anders sein? Schließlich ist er Insider. Er weiß, wie das System funktioniert. Er kann die Banken einschätzen, die Pleite machen. Er kann beurteilen, welche Auswirkungen das jeweils haben wird. Wie ein Meteorologe, der einen Orkan auf einer Wetterkarte betrachtet, oder wie ein Bergsteiger beim Anblick eines Steinschlags kennt Bruno das Gewicht und den Umfang der Felsbrocken, die da gerade den Abhang hinunterstürzen, ganz genau – und er ist sich darüber im Klaren, dass sie alles zermalmen werden, was sich ihnen in den Weg stellt.
Er sieht sich das Ganze an wie einen Film, der ihn nicht betrifft.
Hier ist er nun, ein Mann von neunundvierzig Jahren und an nichts in der Welt gebunden. Ein arbeitsloser, ein wenig unmodern aussehender Mann in Freizeitkleidung, der auf einem gepolsterten Stuhl in einer Filiale einer Kaffeehauskette in Dublin sitzt. Während die Welt um ihn herum zusammenbricht, sitzt Bruno bei Starbucks, isst Valencia-Orangenkuchen mit einer Plastikgabel, trinkt seinen Americano und denkt sich, welches Glück es doch war, dass ihn das System ausgespuckt hat!
Die Sache mit Bruno ist, dass er sich für alles interessiert, nur nicht für sich selbst. Er kann sich nicht vorstellen, was jemanden an ihm reizen könnte. Das ist eine Marotte, auf die er schon mehrfach hingewiesen worden ist.
»Du bist ein verschlossenes Buch«, pflegte Laura zu sagen. »Du verrätst nichts.« Und dann flehte sie ihn an, Tränen der Verzweiflung in den Augen, etwas von sich preiszugeben. In Bruno haben Gespräche wie diese stets Ratlosigkeit ausgelöst, da er nicht wusste, was es da zu offenbaren gab.
Eigentlich hatte er sich immer für einen offenen Menschen gehalten. Anscheinend ein Irrtum.
»Nach vier Jahren Ehe habe ich noch immer das Gefühl, dich nicht zu kennen«, hatte Sara einmal gemeint und hinzugefügt: »Findest du das etwa normal?«
Er ist zweimal verheiratet gewesen, und zweimal hat er die Ehe hinter sich gelassen wie eine Schlange, die aus ihrer Haut schlüpft. Bei der dritten Beziehung ist es ihm gelungen, eine Hochzeit zu vermeiden, nur für den Fall, dass die Institution Ehe an sich das Problem war.
Diese Beziehung hat zwar am längsten gedauert, aber auch das blutigste Ende gefunden.
»Es ist doch schließlich nicht so, als ob ich eine Affäre gehabt hätte«, hat er gesagt.
»Eine Affäre könnte ich ja noch verstehen!«
Selbst dann hat er noch einen Erklärungsversuch unternommen und sich standhaft geweigert anzuerkennen, dass er etwas falsch gemacht habe.
»Dir ist doch sicher bekannt, dass man auch lügt, wenn man etwas verschweigt.«
Dabei hat sie denselben Tonfall angeschlagen, wie sie es im Gerichtssaal tat. Und in diesem Moment hat er gewusst, dass es aus war.
Drei Beziehungen, eine pro Jahrzehnt seines Erwachsenenlebens. Inzwischen verschwimmen sie alle miteinander. Es ist schwierig, sie in Gedanken voneinander zu trennen. Die Beziehungen, wenn nicht sogar die Frauen selbst, ähnelten sich zum Verwechseln. Die ewig gleichen Streitereien, die sich im Kreis drehten, die gleichen teuflischen Sackgassen.
Beziehungen, die ihn an eine endlose Autofahrt erinnern, bei der man ständig die Ausfahrt verpasst, bis man irgendwann auf dem Seitenstreifen hält, einfach aussteigt und davongeht.
Das hatte Bruno gegenüber Addie mit keinem Wort erwähnt. Den ganzen Tag hatten sie miteinander geredet, ohne dass er die wichtigsten Aspekte seines Lebens aufs Tapet gebracht hätte.
Er hatte ihr von seinem Vater erzählt, von dessen Traum, hierher zurückzukehren, selbst als er schon Pfefferminzbonbons lutschte, um den Geschmack des Todes zu vertreiben. Er hatte von seinen Schwestern und deren Kindern berichtet und ihr in einfachen Worten ihre Erfolge und Niederlagen geschildert. Er hatte über Bruce Springsteen, Ashbury Park und »Darkness on the Edge of Town« gesprochen. Bis heute werde er von Stolz ergriffen, wenn er nur Bruces Stimme hörte, meinte er zu ihr. Dem Stolz, dazu zu gehören. All das hatte er ihr anvertraut und ihr dennoch die beiden Ehen und die letzte katastrophale Beinahe-Ehe verschwiegen.
Andererseits hatte sie ihn, wie ihm jetzt auffiel, auch nicht danach gefragt. Sie hatte nicht versucht, ihn zu sezieren; sie hatte auch nicht in seiner Vergangenheit gewühlt. Keine Spur von dem sanften Nachbohren, den Fangfragen oder den ungeschickt getarnten Aushorchmanövern, die er inzwischen bei Frauen erwartete.
Auch nicht das prahlerische Auftreten, die Überheblichkeit, die kessen Sprüche, deren einziger Zweck es war, das Gegenüber davon abzulenken, dass bereits Fährtensucher ausgeschickt wurden, um die Lage zu sondieren, seine Lebensgeschichte zu kartographieren und sein Gepäck abzuwiegen, um es mit ihrem eigenen zu vergleichen.
Ihre mangelnde Neugier war beinahe eine Beleidigung. Rückblickend betrachtet, schien sie überhaupt kein Interesse an seiner Vergangenheit zu haben. Das faszinierte ihn. Sie war so anders als die Frauen, denen er bis jetzt begegnet war.
Offenbar hatte das Leben Bruno die ultimative Trumpfkarte in Gestalt von Addie gegeben.