Kapitel 20
Willst du mir nicht verraten, wohin wir fahren?«
»Nein.«
»Komm schon, du musst es mir sagen.«
»Nein, Ma’am. Das Ziel ist geheim. Du wirst es sehen, wenn wir dort sind.« Er klang wie ein US-Marine.
Die Strecke verhieß nichts Gutes. Die Kais entlang und durch den Phoenix Park. Aus der Stereoanlage dröhnte Bruce Springsteen.
Er ließ Addie nicht zu Wort kommen.
»Das ist ja wie auf einem Gefangenentransport. Ich fühle mich, als würde ich in ein Geheimgefängnis in Cavan gebracht.«
»Hör einfach zu«, erwiderte er. »Du musst der Sache eine Chance geben. Lass sie einfach wirken.« Als ob es eine Tablette sei.
So saß sie da wie ein Häftling und hatte keine andere Wahl, als zuzuhören.
»Ich kenne diese Musik«, überschrie sie den Lärm. »Ich mag sie nur einfach nicht.«
Aber Bruno achtete nicht auf sie, sondern sang lautlos mit, wippte beim Fahren mit dem Kopf und bewegte die Lippen zum Text.
Als sie den Kreisverkehr mitten im Park erreichten, sah Bruno vor sich die amerikanische Flagge. Sie wehte hoch über dem Tor der Residenz des amerikanischen Botschafters und hob sich strahlend vom blauen Himmel ab. Am anderen Torpfosten hing die irische Trikolore, die gute, alte unscheinbare Trikolore.
Bruce Springsteens rauhe Stimme dröhnte aus dem Autoradio, und Addie konnte nicht leugnen, dass der Moment etwas Erhabenes hatte.
Bruno drückte mit dem Handballen auf die Hupe und fing an, aus voller Kehle mitzusingen.
»Come on up for the rising«, sang er. »Come on up for the rising tonight.«
Seine Stimme war vor Rührung belegt. Es war beinahe ansteckend. Wenn Addie den Text gekannt hätte, wäre sie in Versuchung geraten mitzusingen.
Stattdessen lehnte sie den Kopf gegen den Sitz und schaute aus dem Fenster. Ein sonderbarer Nebelschleier hing dicht über dem Boden. Er lag auf dem Gras, ohne es zu berühren, wie ein Band aus statischem Knistern. Und aus diesem Nebel ragten die Geweihe Hunderter von Hirschen, deren Körper im Dunst verschwanden. Sie wirkten wie Geschöpfe, die gerade einer Zeitmaschine entstiegen.
Das hätte sie Bruno gern gesagt, doch sie konnte sich selbst nicht denken hören.
Vierzig Minuten und zehn Stücke auf der Bruce-Springsteen-Einführungs-CD später hatten sie die Grenze des Kreises Meath dreißig Kilometer hinter sich gelassen. Bruno stoppte den Wagen.
»Das ist unsere erste Station.«
»Was? Aber hier ist doch nichts.«
»Oh, doch.« Er wies auf das Haus neben ihnen, ein Bungalow mit einer schauderhaft mintgrün gestrichenen Fassade aus Sichtbeton. »Das Haus unserer Cousinen auf dem Land. Wir sind zum Tee eingeladen.«
Addies Augen weiteten sich vor Entsetzen.
»Oh, mein Gott. Das ist wirklich ein Gefangenentransport. Das ist Folter. Ich will meine Cousinen nicht besuchen. Du weißt, dass ich meine Cousinen nicht besuchen will.«
Sie wiederholte den Satz, weil sie es nicht fassen konnte. Sie fühlte sich wie in der Falle, so als sei sie hereingelegt worden, ausgetrickst, in die Ecke gedrängt. Wie sollte sie ihm erklären, dass sie überhaupt keine Lust hatte, ihre längst aus den Augen verlorenen Cousinen in einem Sichtbeton-Bungalow am Stadtrand von Navan zu sehen. Sie überlegte, ob sie im Auto warten oder zu Fuß in die nächste Stadt gehen sollte. Am liebsten wäre sie wieder ein Kind gewesen. Dann hätte sie einen Trotzanfall bekommen, weinen und schreien und mit den Fäusten trommeln können, um sich der Situation zu entziehen.
»Ich hätte dir nie helfen sollen«, sagte sie. »Ich hätte Hugh das dämliche Foto nicht zeigen und ihn nicht nach ihren Namen fragen dürfen.«
Die Arme dickköpfig vor der Brust verschränkt, verharrte sie auf dem Beifahrersitz. Wie gerne hätte sie alle Türen verriegelt und sich im Auto verschanzt.
Aber Bruno stieg bereits aus und öffnete die Heckklappe, um Lola herauszulassen.
»Sie haben sicher nichts dagegen, wenn Lola mitkommt.«
Später hatte Addie ein schrecklich schlechtes Gewissen.
Sie waren so nett. Und sie hatten sich sehr viel Mühe gemacht. Es gab selbstgebackenes Schwarzbrot und einen Rosinenkuchen. Der Küchentisch war mit einem frisch gebügelten Tischtuch und dem besten Porzellan gedeckt. Man merkte sofort, dass auch die Toilette gerade erst geputzt worden war. Am Waschbeckenrand lag ein nagelneues Stück Seife. Auf dem Teppich im Flur waren noch die Spuren des Staubsaugers zu sehen. Offenbar waren sie den ganzen Vormittag lang mit den Vorbereitungen für ihren amerikanischen Besuch beschäftigt gewesen.
Anfangs hatte Addie sich im Hintergrund gehalten. Sie hatte gedacht, dass sie nur eine Nebenrolle spielte. Wie sie die Dinge betrachtete, war sie nichts weiter als eine Statistin. Doch Bruno stellte sie vor, und sie waren begeistert. Sie freuten sich ja so, sie zu sehen! Sie umarmten sie, als sei sie ihr eigenes Kind. Dann traten sie zurück, um ihr Gesicht zu mustern.
»Sie ähnelt Tante May sehr, findest du nicht? Dass sie zu unserer Familie gehört, ist nicht zu leugnen.«
»Ich fasse es nicht. Was ist nur aus den Jahren geworden? Als du das letzte Mal hier warst, kannst du nicht älter als sechs oder sieben gewesen sein. Wir haben dir draußen die Welpen gezeigt. Unser Hund hatte gerade Welpen bekommen. Erinnerst du dich?«
Addie brachte es nicht über sich, ihnen zu sagen, dass sie sich an gar nichts mehr erinnerte. Sie hatte nicht einmal gewusst, dass es sie gab. Sie warf Bruno einen verzweifelten und hilfesuchenden Blick zu. Doch der kauerte gerade auf dem Boden und durchwühlte seine Tasche nach einem Geschenk, das er mitgebracht hatte. Addie drehte sich vom Ansturm ihrer Gefühle der Kopf. Sie fragte, wo die Toilette war.
Ich arrogantes Miststück, dachte sie, während sie sich die Hände wusch. Ich wollte diesen Leuten nicht begegnen, weil ich mich für etwas Besseres halte. Ich bin wirklich das Hinterletzte.
Langsam trocknete sie sich die Hände an dem schneeweißen Handtuch ab, bevor sie sich wieder nach draußen wagte.
Sie waren zu zweit, zwei Schwestern, Mary und Theresa. Da Addie nicht richtig zugehört hatte, vergaß sie sofort, wer wer war. Die eine wohnte, wie sie erklärte, eigentlich in Navan, war aber eigens hergekommen. Bei ihr klang es, als sei die Fahrt keine vier Kilometer weit, sondern vierhundert.
Sie waren die Töchter von einer der Frauen auf dem Foto, also Hughs Cousinen ersten Grades, war das richtig? Warum hatte Addie nie von ihnen gehört? Das ergab keinen Sinn.
»Du bist der einzige noch lebende Boylan«, sagte eine der Cousinen zu Bruno. »In unserem Zweig der Familie gab es nur Mädchen, nachdem unser Bruder starb. Also hat niemand den Familiennamen weitergegeben.«
»Auf diesen Gedanken bin ich noch nie gekommen«, erwiderte Bruno. »Du hast recht. Ich bin der letzte Boylan.«
Begeisterung malte sich auf seinem Gesicht.
»Wir verlassen uns darauf«, meinte die eine, »dass du den Namen weiterträgst.« Sie stießen einander an und nickten ihm zu.
»Aber, aber«, tadelte die andere.
Addie wand sich vor Verlegenheit. Doch Bruno genoss es. Er beugte sich über den Tisch und tat nichts, um seine Freude zu verhehlen.
Addie hielt Ausschau nach Lola.
»Sie möchte sicher hinaus in den Garten«, hatten sie bei Lolas Anblick gesagt.
Die beiden waren sich einig.
»Oh, ja, sie ist sicher lieber draußen.«
Das hieß, dass sie Lola nicht im Haus haben wollten. Für Addie eine Erleichterung, denn sobald man sich Wohnzimmer umsah und die zierliche Vitrine voller Porzellanfigürchen, die Spitzendecken auf den Beistelltischen und die Häkeldeckchen auf den Lehnen von Sofa und Sesseln auf sich wirken ließ, wusste man genau, dass es keine gute Idee war, Lola ins Haus zu lassen.
Inzwischen hatte Addie sie entdeckt. Durch die Glastür der Küche hatte sie Lola gut im Blick. Sie lief im Garten herum und schnupperte heftig an den Blumenbeeten. Sie rannte im Kreis wie ein Zirkuspferd in der Manege. Immer wieder, und die Kreise wurden dabei enger und enger. Und das konnte nur eines bedeuten. Nun wirbelte sie dreimal um die eigene Achse, kauerte sich hin und setzte einen riesigen Haufen mitten auf den Rasen.
Addie beugte sich vor, um sich noch ein Stück Kuchen zu nehmen, und tat, als hätte sie es nicht bemerkt. Sie versuchte, sich auf das Gespräch zu konzentrieren.
Alle beugten sich über das Foto, das Bruno mitgebracht hatte.
»Das muss kurz vor seiner Abreise nach Amerika entstanden sein«, stellte die Ältere der beiden fest.
»Dass er nicht zurückgekommen ist, hat ihnen das Herz gebrochen. Mammy und Tante May haben ihn vergöttert.«
»Ja«, stimmte die Jüngere zu. »Sie haben immer gehofft, dass er sie wenigstens besucht.«
»Das wollte er auch. Es war immer sein Traum«, meinte Bruno beschwichtigend.
»Nun, es hat nicht sollen sein. Trotzdem traurig, dass sie einander nie wiedergesehen haben.«
»Sie haben sicher geglaubt, alle Zeit der Welt zu haben. Glaubt das nicht jeder?«
»Tja, jetzt sind sie alle wieder in Gott vereint.«
Feierliche Stille entstand, als sie darüber nachdachten. Dann merkte eine der Cousinen auf und stieß einen Freudenschrei aus.
»Aber Nora war hier! Erinnerst du dich, Mary? Das war eine große Sache für sie. Die Geschenke! Wann könnte das gewesen sein?«
»Herrje, ich denke nach. Moment mal …«
»Ich habe irgendwo noch Briefe von ihr. Sie hat an Mammy geschrieben. Ich muss sie für dich heraussuchen.«
Addies Gedanken schweiften ab. Sie betrachtete die Bilder an der Wand. Ein Durcheinander aus gerahmten Fotos, von denen jedes einen anderen jungen Menschen mit der Kappe und dem Talar des Hochschulabsolventen vor dem buntscheckigen Hintergrund eines Fotostudios zeigte. Die Pergamentrolle steif in beiden Händen. Die Fotos wurden stolz zur Schau gestellt und hingen in der Küche, damit sie auch niemand übersah. Addie fiel ein, dass ihr eigenes Abschlussfoto irgendwo in einem Karton lag. Hugh hatte keine hohe Meinung von Architekten.
Mittlerweile lag der Familienstammbaum auf dem Tisch, und alle beugten sich darüber.
Mein Gott, ist das langweilig, schoss es Addie durch den Kopf. Sie fühlte sich wie in der Messe. In einer Messe auf Latein. Die Langeweile war fast körperlich spürbar.
Aus dem Augenwinkel sah sie, dass Lola den Rasen aufwühlte. Sie buddelte wie ein Zeichentrickhund, um ihre Spuren zu verwischen, so dass Grassoden und Erde zwischen ihren Hinterbeinen herausflogen.
»Genau«, verkündete eine der Schwestern. »Der Name deines Großvaters war James. Er war ein Bruder unseres Großvaters, John Boylan. Das hast du richtig eingetragen.« Sie tippte mit dem Zeigefinger auf die Seite.
»Ich brauche eure Hilfe«, sagte Bruno und konsultierte seine Notizen. »Euer Vater hieß Michael, oder?«
Die beiden nickten begeistert.
»Unser Daddy hieß Michael Daly«, bestätigte eine der beiden. »Und der Name von Mays Mann war Lynch, Seamus Lynch.«
Bruno hielt all das in seinem Notizbuch fest.
»Und der Vorname von Kittys Mann, kennt ihr den zufällig auch?«
Die beiden Schwestern wechselten einen Blick, was Addie sofort auffiel.
»Kittys Mann«, wiederholte eine von ihnen tonlos.
»Ja. Sein Nachname lautete Murphy. Hughs Vater.«
Die beiden sahen Addie verlegen an und starrten dann wieder auf den Familienstammbaum. Von ihrer Sitzposition aus konnte Addie erkennen, dass Bruno ein Fragezeichen neben den Nachnamen ihres Großvaters gemalt hatte.
»Seinen Vornamen habe ich vergessen. Weißt du ihn noch, Theresa?«
»Nein, ich habe nicht die leiseste Ahnung.«
Brunos Stift schwebte über der Seite. Während sie weitersprachen, ertappte er sich dabei, dass er das Fragezeichen nachfuhr. Nun wirkte es wie fett gedruckt. Es fiel unangenehm auf.
»Er ist schon lange tot.«
»Ich bin mir nicht einmal sicher, ob wir ihn überhaupt je kennengelernt haben.«
Bruno betrachtete die beiden Schwestern.
»Mein Vater hat viel von ihnen erzählt. Er hat oft über sie geredet.«
»Sie waren so stolz auf ihn und haben allen Leuten gesagt, dass ihr Cousin Patrick nach Amerika ausgewandert sei und dort viel Erfolg gehabt habe.«
Sie wandte sich an Addie.
»Auf deinen Vater waren sie auch sehr stolz. Ein Arzt in der Familie. Wünscht sich das nicht jeder?«
Etwas lag in der Luft. Eine Spannung, die Addie nicht zu fassen bekam.
»Es hat Mammy sehr viel bedeutet, dass er zur Beerdigung gekommen ist.«
Nun verstand Addie gar nichts mehr. Sie hatte keine Ahnung, wovon die Rede war. Offenbar bemerkten sie ihre Verwirrung.
»Tante Mays Beerdigung. Es war allen sehr wichtig, dass dein Vater dabei war.«
Ihre Schwester nickte.
»Sie war wie eine Mutter zu ihm, die einzige Mutter, die er je gekannt hat.«
Und Addie nickte, als wisse sie, was gemeint war. Sie nickte und lächelte, während in ihrem Verstand immer mehr Fragen aufstiegen.
»Deine Mutter hat sie regelmäßig besucht. Sie war häufig hier und hat immer euch Mädchen mitgebracht. Es hat Tante May so gefreut, euch aufwachsen zu sehen.«
Kurz huscht Addie der Anflug einer Erinnerung durch den Kopf. Bonbons in einer runden Dose. Eine Spange in ihrem Haar. Der weiche, rosige Geruch von Gesichtspuder, wenn man sich vorbeugte, um sich küssen zu lassen.
»Deine Mutter war eine reizende Frau. Wir hatten sie alle sehr gern.«
Zu ihrem Entsetzen stiegen Addie die Tränen in die Augen. Es überwältigte sie, dass diese Frauen anscheinend so viel mehr über sie wussten als sie selbst. Sie erinnerte sich an gar nicht mehr und fühlte sich, als habe sie ein Zimmer betreten, in dem plötzlich Menschen hinter Sofas und Vorhängen hervorsprangen und »Überraschung!« riefen. Am liebsten hätte sie die Flucht ergriffen.
Offenbar spürte Bruno ihre Verlegenheit, denn er kam ihr zu Hilfe.
»Wenn ich schon einmal hier bin, würde ich gerne den Friedhof besuchen und mir das Familiengrab ansehen.«
Die beiden Schwestern überschlugen sich förmlich.
»Oh, ja«, jubelten sie, »das musst du unbedingt. Wir beschreiben dir den Weg.«
»Wenn man noch nie dort war, ist er nicht leicht zu finden. Wir schreiben es für dich auf.«
Bruno öffnete wieder das Notizbuch.
»Hoffentlich ist nicht alles voller Unkraut. Wir waren schon wochenlang nicht mehr dort.«
Darauf folgte eine endlose Wegbeschreibung. Als Addie und Bruno aufstanden, um zu gehen, dauerten die Erklärungen noch an.
»Komm uns wieder besuchen, wenn du das nächste Mal hier bist«, sagte die Ältere bei der Verabschiedung zu Bruno.
»Und es wird ein nächstes Mal geben«, fügte die andere mit Nachdruck hinzu.
Sie küssten Addie und umarmten sie. Allerdings baten sie sie nicht, ihrem Vater Grüße auszurichten. Und sie drängten sie auch nicht wiederzukommen. Das wurde ihr erst klar, als sie ins Auto stieg.
Bruno ließ den Motor an, und Addie winkte den beiden Frauen zu, die, ebenfalls winkend, am Tor standen. Sobald sie um die Ecke waren, lehnte Addie sich mit einem tiefen Aufseufzen zurück. Alles drehte sich, und ihr Verstand bemühte sich, etwas zu verstehen, was immer außerhalb ihrer Reichweite blieb.
»Schau dir diese Bäume an!«, rief er aus. »Hast du so etwas schon mal gesehen?«
Die Bäume waren so hoch und standen so dicht, dass sie ein Dach über der Straße bildeten. Es stimmte einen friedlich, darunter hindurchzufahren. Es war, als schlendere man den Mittelgang einer gewaltigen Kathedrale entlang. Es war ein Gefühl, als wache eine höhere Macht über einen.
Seit der Abfahrt hatte Addie kein Wort gesprochen. Bruno schien ihr Schweigen nicht aufgefallen zu sein.
»Ich habe gar nicht gewusst, dass dieses Land so wunderschön ist«, stellte er fest und starrte fasziniert aus dem Fenster. »So ein Land! Keine Ahnung, warum, aber ich habe es mir immer karger vorgestellt.«
Addie betrachtete die geschwungenen Felder. Heiße Tränen brannten in ihren Augen.
Sie war verärgert über ihn, allerdings konnte sie nicht sicher sagen, warum. Außerdem ärgerte sie sich über sich selbst und fühlte sich so unbehaglich, dass es beinahe weh tat. Es war ein teuflisches Gebräu aus Schulmädchengefühlen, ein hartnäckiges Band aus Trotz, das sich immer fester um ihr Herz legte. Je gereizter sie wurde, desto weniger schien Bruno es wahrzunehmen und desto wütender machte es sie, wie gut ihm dieser Ausflug gefiel.
»Stell dir nur vor!«, sagte er. »Mein Vater und dein Vater sind als junge Männer auf dieser Straße gefahren und kannten die Strecke sicher sehr gut.«
Mein Gott, er klang so amerikanisch.
Er stoppte das Auto an einer Lücke in der Hecke, beugte sich über das Lenkrad und sah voller Begeisterung über die Felder zu dem reißenden Fluss hinüber, der dahinter floss.
»Wie sehr mein Vater sich gefreut hätte, heute hier dabei sein zu können«, meinte er wehmütig.
Plötzlich bekam sie ein schlechtes Gewissen, weil sie ihm seine Familiengeschichte nicht gönnte. Sie verstand nun, wie viel sie ihm bedeutete. Doch für sie war es etwas anderes. Die Sache war schwierig und kompliziert, und seine Gegenwart hatte die negativen Gefühle in ihr wieder zum Leben erweckt.
Sie schloss die Augen, um die Tränen zu verbergen, die ihr die Wangen hinunterzulaufen drohten. Heiße Wuttränen und mit ihnen Widerwillen.
Sie hätte auf Hugh hören sollen. Das alles brachte niemanden weiter. Und es würde kein gutes Ende nehmen.
Bevor er gekommen war, hatte sie versucht, glücklich zu sein. Sie griff nach diesem Gedanken und versuchte, sich daran zu klammern. So, als wäre er ein Ast, der über einem reißenden Fluss hing. Doch es war zwecklos. Sie musste zugeben, dass sie sich etwas vormachte. Also gut, dann war sie eben nicht glücklich gewesen, aber dafür wenigstens in Sicherheit. Bevor er gekommen war, hatte ihr Elend ihr Geborgenheit vermittelt.
Addies Wissenslücken erschreckten Bruno. Es war schwierig, nicht darüber zu erschrecken, zum Beispiel, als er sich in aller Unschuld nach ihrer Familie erkundigte.
»Aus welchem Teil des Landes kam deine Mutter?«
Eigentlich eine ganz einfache Frage. Nur, dass Addie die Antwort nicht kannte.
Sie gingen zwischen den Grabsteinen auf dem Friedhof von Navan umher. Anscheinend waren sie die einzigen Fußgänger. Die anderen Besucher waren mit dem Auto da. Sie bogen langsam an den Toren ab, rollten die Pfade entlang und blieben am Zielort stehen. Ein oder zwei Minuten Pause, den Arm ins offene Autofenster gestützt. Genug Zeit, um eine Zigarette zu rauchen. Dann fuhren sie im Schneckentempo weiter und krochen durch die offenen Tore auf die Straße hinaus.
»Ein Drive-in-Friedhofsbesuch«, stellte Bruno fasziniert fest. Er fand, dass es etwas Mafiaartiges an sich hatte, gleichzeitig lässig und bedrohlich.
Addie führte Lola an der Leine, weil sie es ungehörig fand, sie frei zwischen den Gräbern herumlaufen zu lassen. Nun zog sie an Addies Arm und schlich dahin wie ein Schnabeltier, so dass ihre Ohren den Boden streiften.
Addie grübelte noch immer über Brunos Frage nach.
»Ich glaube, sie kam aus Wexford, wahrscheinlich irgendwo aus der Nähe von New Ross. Sie war Einzelkind und ist nach der Schule nach Dublin gezogen, um aufs College zu gehen.«
»Aber fährst du nie nach New Ross? Besuchst du nie deine Verwandten?«
»Ich glaube, da gibt es niemanden mehr zum Besuchen. Soweit ich weiß, sind alle tot. Meine Großeltern sind schon vor meiner Geburt gestorben. Außerdem glaube ich nur, dass sie aus New Ross waren. Ich bin nicht sicher. Vielleicht war es auch Enniscorthy. Jedenfalls irgendwo in Wexford.«
Sie merkte Bruno an, dass ihre Ungenauigkeit ihn verwunderte. Offenbar wusste er sie nicht einzuordnen.
»Wo haben deine Eltern sich kennengelernt?« Er schlenderte eine Reihe von Grabsteinen entlang und beugte sich vor, um die Namen zu lesen. Dabei hatte er sein Notizbuch in der Hand und studierte die Wegbeschreibung.
Inzwischen war Addie selbst schockiert.
»Weißt du was? Ich habe keine Ahnung. Nicht die geringste. Mein Dad spricht kaum über sie.«
Das erschien ihr seltsam. Aus Brunos Perspektive war es sogar ausgesprochen schräg.
»Da wären wir!«, verkündete Bruno triumphierend.
Sie standen vor einem großen, quadratischen Stück Land. Ringsherum verlief ein niedriger Eisenzaun, der an einigen Stellen eingesackt war. Der Boden war lückenhaft mit Kies bedeckt, zwischendurch lugte hie und da eine gewellte Schicht aus Plastiksäcken hervor. Der schlichte Grabstein war mit Moos und Flechten bewachsen, die Schrift schwer leserlich. In den Stein hatte man eine lange, kaum zu entziffernde Liste von Namen eingemeißelt. Boylans und noch mehr Boylans. James und John und noch ein John, das kleine Kind, das gestorben war. Der arme Wurm war erst zwei gewesen, das konnte man anhand der Daten ausrechnen. Es gab auch eine Catherine. War das vielleicht ihre Großmutter gewesen? Aber die war doch sicher neben ihrem Mann beerdigt worden. Addie wusste es nicht, sie hatte keine Antworten auf die Fragen. Inzwischen fand sie es selbst eigenartig, dass sie noch nie hier gewesen war.
Bruno schrieb etwas in sein Notizbuch. Er balancierte auf den Fußballen, das Buch ruhte auf einem hochgezogenen Knie. Sorgfältig notierte er sich alles, was auf dem Grabstein stand.
Addie verharrte am Rand des Grabes, las die Inschriften und wartete darauf, dass sich irgendein Gefühl meldete. Aber nichts geschah. Sie fühlte nichts und sie dachte nichts, außer dass sie eigentlich etwas denken sollte.
Ich werde ein Gebet sprechen, sagte sie sich. Sie kam sich zwar vor wie eine miese Betrügerin, glaubte aber, etwas tun zu müssen. Also sagte sie in Gedanken das Ave-Maria auf. Doch das Gebet war so schnell vorbei, dass sie den Verdacht hatte, sie könnte in der Mitte etwas vergessen haben. So lange hatte sie schon nicht mehr gebetet. Als Kind hatte sie es auch auf Irisch und auf Französisch gelernt. Sainte Marie, Mère de Dieu. Priez pour nous, pauvres pécheurs. Zu ihrem Erstaunen konnte sie sich noch daran erinnern. Addie wartete einen Moment mit feierlich gesenktem Kopf und ging dann weiter die Reihe entlang. Sie stellte fest, dass sie die anderen Grabsteine genauso interessierten wie der ihrer Familie.
Am Ende der Reihe befand sich ein kleines Kreuz aus weißem Marmor. Die eingemeißelten Buchstaben waren mit dicker schwarzer Tinte ausgefüllt.
Phelan, stand da. Angela. Geboren in Robinstown am 27. April 1911. Gestorben am 11. Mai 1989.
Ein gelebtes Leben.
»Das gefällt mir«, sagte Addie, und plötzlich war ihr Herz von Freude erfüllt, als sie weiterspazierte. Sie wiederholte die Worte und ließ sich die Poesie auf der Zunge zergehen.
»Ein gelebtes Leben.«
Sie fuhren weiter nach Tara. Allerdings konnte Addie Bruno nicht erklären, was daran so besonders war. Es hat irgendetwas mit den irischen Hochkönigen zu tun, meinte sie.
Sie stiegen auf den Hügel.
»Von hier aus kann man dreizehn Landkreise sehen«, las Bruno aus seinem Reiseführer vor.
»Ich kann da keinen Unterschied feststellen«, erwiderte Addie. »Mit den hängenden Gärten von Babylon ist das nicht gerade zu vergleichen.«
Auf dem Rückweg machten sie an der Bective Abbey Station, wo Addie ihm erklärte, der Orden sei verboten worden, worauf die Mönche sich versteckt hätten. Bruno erkundigte sich nach dem Jahrhundert.
»Ach, herrje«, antwortete sie. »Ich habe keine Ahnung. Ich glaube, ich habe in der Schule nicht viel von irischer Geschichte mitgekriegt.«
Er stand hinter ihr, schlang die Arme fest um sie und küsste ihr Ohr.
»Ich erinnere mich, dass wir die Ehefrauen von Heinrich dem Achten durchgenommen haben. Wir mussten ihre Namen auswendig lernen. Die spanische Inquisition und ähnliche Dinge waren auch mal dran, aber über die irische Geschichte weiß ich nicht viel.«
Sie erinnerte sich, dass es eine Schlacht von Boyne gegeben hatte, die entscheidend gewesen war. Doch als sie nun auf einem schlammigen Feld stand und das aufgewühlte Wasser des Flusses betrachtete, konnte sie beim besten Willen nicht sagen, warum.
»Dieser Fluss hat eine historische Bedeutung. Die habe ich aber vergessen.«
»Kein Problem«, erwiderte er. »Dann google ich es eben.«
Doch es war trotzdem peinlich. Bis jetzt hatte sie sich nie für einen ungebildeten Menschen gehalten.
Lola, die ihre eigene Unwissenheit nicht als Problem wahrnahm, paddelte fröhlich im historisch bedeutsamen Fluss.