Kapitel 10
Addie war fest dazu entschlossen, nicht herumzusitzen und darauf zu warten, dass das Telefon läutete. Sie würde schwimmen gehen. Die tägliche Schwimmrunde war ihr heilig.
Gerade packte sie ihre Sachen, als es kräftig an die Decke klopfte.
Herrgott, dachte sie. Es ist, als würde ich in einer Kiste wohnen. Entweder wird an die Tür geklopft oder an die Decke.
»Ich komme!«, rief sie lauter als sonst. Sie stapfte die Außentreppe hinauf und öffnete die Eingangstür mit ihrem Schlüssel. Wieder dieser säuerliche Dunst, ein Geruch, der sie stets aufs Neue mit Verzweiflung erfüllte. Einen Moment blieb sie ratlos und verärgert in der Vorhalle stehen. Sie hatte mit Mrs. Dunphy darüber gesprochen und war sogar dabei geblieben, um sie zu kontrollieren. Das Haus war blitzblank. Und dennoch fing es an zu riechen wie das Haus eines alten Menschen, ganz gleich, was sie auch dagegen unternahmen. Es war einfach nicht mehr ausreichend mit Leben erfüllt und stank muffig.
»Hallo, Dad!«, rief sie und öffnete die Wohnzimmertür.
»Lazarus«, sagte er.
»Zeit zum Ausschlafen. Es ist Samstag.« Sie bückte sich, um ihn zu küssen. Er roch nach Seife und der Lotion, mit der er sein Haar über die kahle Stelle kämmte. Irgendwie glitschig.
»Du musst ein paar Sekretariatsarbeiten für mich erledigen.«
Er findet es in Ordnung, in diesem Ton mit seinen Mitmenschen zu sprechen. Schließlich hat er es sein Leben lang so gehalten.
»Eigentlich wollte ich gerade schwimmen gehen.«
Doch sie wusste bereits, dass sie es nicht tun würde. Sie würde nachgeben, so wie immer.
Er zeigte mit der eingegipsten rechten Hand auf den Schreibtisch.
»Heute Morgen hat ein Kurierfahrer einige Unterlagen gebracht. Du musst sie für mich öffnen. Das Kuvert da drüben. Nein, nein, nicht das da, sondern das darunter. Das große braune.«
Addie suchte den verlangten Brief heraus, drehte ihn um und schob den kleinen Finger unter die Lasche. Als sie ihn mit einer Aufwärtsbewegung quer darüberzog, entstand ein hässlicher Riss im braunen Papier Sie steckte die Hand in den Umschlag und holte eine getippte Seite heraus.
»Ich habe dich nicht gebeten, den Brief auseinanderzufalten. Du brauchst ihn nicht zu lesen.« Seine Stimme hatte einen mürrischen Ton.
Sie hatte gerade noch Zeit gehabt, den Briefkopf zu erkennen. Eine Anwaltskanzlei. Addie warf ihm den Brief zu und beobachtete, wie er genau vor ihm landete. Er beugte sich darüber.
»Herzlichen Dank.«
Wenn er in dieser Stimmung ist, redet er mit seinen Töchtern wie mit Angestellten. Es treibt Della in den Wahnsinn. Addie achtet einfach nicht darauf.
Sie fing an, seine restliche Post zu öffnen und die Briefe auf dem Schreibtisch zu einem ordentlichen kleinen Stapel zu schichten. Die Umschläge zerriss sie zweimal und warf die Schnipsel in den Papierkorb.
Er studierte noch immer mit finsterer Miene den Brief.
»Nun, falls du nichts mehr brauchst, gehe ich wieder.«
Sie sprang auf und überprüfte ihr Mobiltelefon. Keine verpassten Anrufe. »Ich bin später nicht da. Deshalb habe ich dir in der Küche alles fürs Abendessen bereitgestellt. Kann ich sonst noch etwas für dich tun, bevor ich gehe?«
Sie streckte sich, so weit sie konnte, und hob die Arme über den Kopf, um ihre Wirbelsäule zu lockern. Sie hatte Rückenschmerzen. Wahrscheinlich falsch gesessen, dachte sie. Sie griff nach der Packung Solpadeine auf seinem Schreibtisch, holte eine Blisterfolie heraus und entnahm ihr zwei Tabletten. Nachdem sie sie hastig in den Mund gesteckt hatte, spülte sie sie mit einem großen Schluck aus der offenen Mineralwasserflasche auf dem Schreibtisch hinunter.
»Nein, nein«, erwiderte er geistesabwesend. »Das war alles.«
Sie knallte die Tür hinter sich zu und verharrte eine Weile auf der obersten Stufe, um die Meeresluft einzuatmen. Es herrschte Flut. Die tief am Himmel stehende Sonne tauchte das Wasser in einen fahlen Schein. Man konnte das Salz in der Luft riechen. Addie schloss kurz die Augen und atmete durch die Nase.
Plötzlich wusste sie nicht, was sie tun sollte. Eigentlich sollte sie schwimmen gehen, natürlich sollte sie das. Doch vielleicht rief er ja an, während sie im Wasser war. Er würde sicher eine Nachricht hinterlassen, aber was, wenn er es nicht tat? Sie stellte sich vor, wie sie ihre Bahnen schwamm, und versuchte, nicht daran zu denken, dass womöglich in ihrer Handtasche das Telefon läutete.
Und so stand sie auf der obersten Stufe und schwankte zwischen Hoffnung und Verzweiflung. Der strahlende Glanz des Morgens begann zu verblassen. Mit jeder Stunde, die verstrich, ließ ihre Hoffnung nach, dass sie von ihm hören würde. Sie spürte ihn noch immer auf jedem Zentimeter ihres Körpers. Die Erinnerung an ihn brannte noch auf ihrer Haut. Doch ihre Zuversicht schwand.
Als sie heute Morgen mit dem Hund im Park gewesen war, hatte sie sich gefühlt wie eine Frau, die geliebt wird. Wie eine errötende Braut. Für sie war es selbstverständlich gewesen, dass er anrufen würde. Eindeutig, dass das ein Anfang war. Doch inzwischen erschien ihr schon der heutige Vormittag ganz weit entfernt. Allmählich kam sie sich wie eine Idiotin vor. Es war kurz vor fünf. Er würde nicht anrufen.
Auf einmal konnte sie den Gedanken nicht ertragen, nach unten in die Wohnung zu gehen und ihre Schwimmsachen zu holen. Die Vorstellung, den ganzen Abend dort herumzusitzen, nur sie selbst, der Fernseher und der kleine Hund. Allein der Gedanke, dass ihr Leben wieder so aussehen würde wie vor ihrer Begegnung, war entsetzlich.
Sie lief die Treppe hinunter, öffnete die Tür der Souterrainwohnung und rief nach Lola. Sie setzte nicht einmal einen Fuß hinein und griff auch nicht nach ihrem Mantel, sondern hielt die Tür nur so lange, dass Lola hinausschlüpfen konnte, und knallte sie zu, als lauere drinnen etwas Böses. Nachdem sie Lola auf den Rücksitz verfrachtet hatte, setzte sie sich ans Steuer und drehte den Zündschlüssel um.
Während sie den Rückwärtsgang einlegte, blickte sie hinauf zum Fenster. Und da war er, den Hals gereckt wie eine verwirrte Giraffe, um zu ihr herunterschauen zu können. Als sie winkte, erwiderte er die Geste. Die Hand im dicken Gipsverband wackelte auf seinem Arm. Sie rollte rückwärts aus der Ausfahrt, das Auge starr auf den Rückspiegel gerichtet, das Herz schwer von einer zähen Masse aus Liebe und Schuldgefühlen.
Er beobachtete, wie sie losfuhr; sein Blick folgte dem kleinen Auto bis zur Straße. Sie wartete auf eine Lücke im Verkehr und fädelte ein. Nachdem sie sich rechts eingeordnet hatte, bewegte sie sich mit dem Verkehrsstrom in Richtung Süden.
Wenige Sekunden später hatte er sie aus den Augen verloren.
Er ließ den Kopf an die Sessellehne sinken und schloss die Augen. Er konnte sich nicht erinnern, dass er sich jemals so mutlos gefühlt hatte.
Der Termin stand fest, so war es in dem Brief zu lesen. Die Unterlagen waren komplett, ein dicker Stapel Fotokopien, zusammengehalten von einer überdimensionalen Büroklammer. Hugh hatte den Brief erwartet. Er hatte gewusst, dass er eines Tages eintreffen würde. Doch er hatte wider alle Wahrscheinlichkeit gehofft, dass man die Sache fallenlassen würde. Vielleicht würden sie ja nicht die Kraft haben, den Kampf durchzufechten. Oder sie würden endlich zur Vernunft kommen und von ihrem Vorhaben Abstand nehmen.
Natürlich hätte ihm klar sein müssen, dass diese Wahrscheinlichkeit bei null lag. Es würde weitergehen bis zum bitteren Ende.
Er wurde von einer tiefen Erschöpfung ergriffen.
Zusammengesackt saß er an seinem Schreibtisch und ließ schicksalsergeben die Schultern hängen. Sein Kopf fühlte sich groß und schwer an, so als sei sein Gewicht zu viel für seinen Hals. Er kam sich vor wie ein christlicher Märtyrer, der darauf wartete, den Löwen zum Fraß vorgeworfen zu werden.
Die Zeitungen würden sich darauf stürzen, das war ihm klar. Die Angelegenheit hatte alles, was eine gute Story ausmachte. Eine junge Mutter, gestorben vor ihrem dreißigsten Geburtstag. Zwei kleine Kinder, die nun niemanden mehr hatten, der sie versorgte. Ein Ehemann mit gebrochenem Herzen, der mühsam den Lebensunterhalt verdiente. Ein zorniges Elternpaar, das nach Rache schrie. Ein Routineeingriff, würden die Zeitungen schreiben, ein sinnloser Tod. Sie würden Hugh als angesehenen Professor schildern. Und in sorgfältig formulierten Artikeln würden sie andeuten, dass es noch einiges mehr über ihn zu sagen gäbe, was jedoch aus juristischen Gründen nicht möglich sei.
Sobald Einzelheiten des Falls ans Licht kämen, würde eine öffentliche Debatte stattfinden. Man würde neue Qualitätsstandards fordern. Die Menschen würden ein solches Verhalten als nicht mehr zeitgemäß anprangern. Sie würden vom Gesundheitsministerium eine Veröffentlichung medizinischer Abläufe und neue Richtlinien für den Umgang mit Patienten und unerfahrenen Mitarbeitern verlangen. Es würde heißen, das Patientengespräch müsse mehr in den Vordergrund rücken, und man würde vorschlagen, auch diesen Punkt in die Richtlinien aufzunehmen.
Und man würde sagen, dass der Zeitpunkt der Wachablösung gekommen sei.
Die schwierigste Zeit seines Lebens.
Nicht dass es nicht auch schon früher schwere Zeiten gegeben hatte, natürlich hatte es das. Nur dass er der Herausforderung bis jetzt immer gewachsen war und das Problem aus der Welt geschafft hatte. Er war schon immer ein anpackender Mensch.
Er ist jetzt vierundsechzig; das bedeutet, dass er seine Laufbahn als Mediziner vor sechsundvierzig Jahren begonnen hat. Er kann nicht anders, als diese Symmetrie zur Kenntnis zu nehmen. Sie hat etwas Ordentliches. Wenn er bis zu seiner Pensionierung weitermacht, wird sie verlorengehen. Aber er weiß in seinem Herzen, dass er nicht so lange durchhalten wird.
Das ist dann also der Dank. Vierzig Jahre, in denen man fünfzig Wochen pro Jahr gearbeitet hat. Zwölf-Stunden-Tage, Vierzehn-Stunden-Tage. Samstage, Feiertage. Selbst an Weihnachten hat er Visite gemacht. Das war ihm wichtig. Er hat sogar seine Töchter mitgenommen. Anrufe mitten in der Nacht. Patienten mit allen möglichen Komplikationen. Konferenzen und alberne Fallbesprechungen. Nie hat er sich über die Belastung beklagt und stets getan, was nötig war. Er war gerne Arzt, schon immer. Der Klang des Wortes begeistert ihn noch heute.
Wenn man nur in Ruhe Arzt sein und seinen Beruf ausüben dürfte! Aber nein, man musste inzwischen auch noch ein dämlicher Psychologe sein. Und außerdem ein Sozialarbeiter. Regelrecht verhören lassen musste man sich. Die Leute hatten zu viele Arztserien im Fernsehen gesehen und lasen alles Mögliche im Internet. Und dann wollten sie alles über die verfügbaren Alternativen wissen.
Es gibt immer Alternativen, pflegte er dann gerne zu sagen. Und zwar folgende. Wir können Ihre Mutter so gut wie möglich behandeln. In diesem Fall stehen die Chancen hoch, dass sie überlebt. Oder sie kann sich gegen eine Behandlung entscheiden, was heißt, dass sie mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit stirbt.
Nur wenige Menschen wussten diese Offenheit zu schätzen. Einige beschwerten sich sogar über ihn. Sie hatten einfach keinen Sinn für Humor mehr und erkannten einen Scherz nicht.
Er hingegen versteht ihre Sprache nicht und hat keine Ahnung, woher sie diese Ausdrücke haben. Sie reden über ärztliche Bereitschaft 24/7, über interdisziplinäres Denken, über Qualitätszeit. Inzwischen werden Patienten schon als »Klienten« bezeichnet. Du liebe Güte! Sie reden über Dienstleister und Therapieresultate. Das alles hört sich nach ausgemachtem Unsinn an, aber wenn man das laut ausspricht, erntet man nur entrüstete Blicke. Alle machen das Spiel mit. Keiner wagt es, die Wahrheit zu sagen.
Offenbar schaffen sie es nicht einmal mehr, die Krankenhäuser sauber zu halten. Es wimmelt nur so von Krankenhauskeimen, und die Schwestern sind sich zu fein, die Bettpfannen zu wechseln. Nun, was ist auch anderes zu erwarten, wenn man die Leitung eines Krankenhauses den Controllern überlässt? Diesen Erbsenzählern. Man sollte die Nonnen zurückholen, das fordert er schon seit Jahren. Verdammt noch mal, die Nonnen wussten, wie man ein Krankenhaus führt!
Er weiß, dass er wie ein altmodischer, verknöcherter Opa klingt. Und ihm ist klar, dass er das Verfallsdatum überschritten hat. Trotzdem hat er gehofft, noch über die Ziellinie hinken zu können.
Seit einer Weile schon graut ihm vor der Pensionierung. In letzter Zeit denkt er immer öfter darüber nach. Ein Teil von ihm ist gegen ein Abschiedsessen und das ganze Theater. Dann wieder ertappt er sich dabei, wie er seine Rede probt. Er stellt sich vor, wie er aufsteht und mit einem Löffel an sein Glas klopft. Es wird totenstill im Raum. Er blickt den Tisch entlang und sieht … wen sieht er denn?
Wer würde zu seiner Abschiedsfeier kommen? Wen möchte er überhaupt dabeihaben? Wenn er die Gesichter seiner Kollegen an seinem geistigen Auge vorbeiziehen lässt, wird ihm bewusst, dass er keinen einzigen von ihnen als Freund betrachtet. Noch nie ist er mit einem einen trinken gegangen. Er war noch nie bei einem zu Hause eingeladen. Und es wäre ihm auch nicht in den Sinn gekommen, eine Einladung auszusprechen. Schließlich hatte er keine Frau, die sich mit den Frauen der Kollegen hätte anfreunden können. Keine Frau, die eine der Karriere förderliche Abendeinladung organisierte. Und natürlich ist er nie zu einem dieser Ärzteempfänge gegangen. Oh, Gott, wie er solche Veranstaltungen hasste!
Er hätte Golf spielen sollen. Aber wie denn? Er hatte ja zwei kleine Töchter und deshalb keine Zeit, sich zu verdrücken und sich das ganze Wochenende auf einem dämlichen Golfplatz herumzutreiben. Außerdem war ihm Golf schon allein wegen seiner Herkunft fremd. Dennoch hätte er hin und wieder eine Partie Golf spielen müssen. Das hätte jetzt seine Rettung sein können. Er hat nie mitgespielt, das versteht er inzwischen – aber man kann sich dem Spiel nicht entziehen!
Würde einer von ihnen zu ihm halten? Denn darauf lief es letztendlich hinaus. Wenn sich niemand für ihn verwendete, konnte er einpacken. Dann war er so gut wie tot.
Sein Leben lang war er Außenseiter gewesen. Die Herde hatte ihn nie aufgenommen. Ihre Instinkte trogen sie nicht, und sie hatten es gewittert. Ja, er mochte ein guter Arzt sein, doch er gehörte eben nicht dazu.
Eigentlich hat er sich nie einsam gefühlt. Bis jetzt.
Er nahm all seinen Mut zusammen, hob den Kopf, schlug die Augen auf und blinzelte ins grelle Tageslicht. Mit den Ellbogen stemmte er sich aus dem Lehnsessel hoch und wankte beim Aufstehen wie ein alter Mann. Vorsichtig schlurfte er zum Plattenschrank. Vielleicht würde die Musik ihn ja vor sich selbst retten.
Sehr gut kannte er sich nicht aus mit Musik. Er hätte gern mehr darüber gewusst, wirklich, das war etwas, womit er sich immer hatte gründlicher beschäftigen wollen. Er hat eine Schwäche für Opern und betrachtet sich als Opernspezialist. Allerdings kann er nur mit ein paar Sammel-CDs aufwarten. Weihnachtsgeschenke. Seine Unwissenheit ist ihm peinlich, und er bedauert sie. Ein wahrer Musikliebhaber zu sein würde ihn jetzt sehr aufmuntern.
Er erinnert sich an die ersten wundervollen Kostproben aus der Oper. Damals hatte er ein Transistorradio zu Weihnachten geschenkt bekommen – sein ganzer Stolz mit Ehrenplatz auf dem Nachttisch. Er hatte für Prüfungen gelernt, vermutlich war es die Abschlussprüfung. Er erinnert sich noch, wie eiskalt seine Füße unter dem Schreibtisch waren und wie ihm der Nacken weh tat, als er sich über die Bücher beugte. An einem gnadenlos feuchten Wintermorgen wie diesem sehnte man sich nach jedem bisschen Trost. Das Radio war leise gestellt. Er hatte gar nicht bemerkt, dass es lief, bis die Musik einsetzte. Er blickte von den Büchern auf, spitzte die Ohren und lauschte.
Ein himmlisches Geräusch. Er wusste nicht, was da gesungen wurde, aber es klang wunderschön. Und in diesem Moment spürte er, dass sich sein Verstand öffnete wie ein Paket, das aufklappt, wenn man die Schnur entfernt. Gebannt hielt er inne.
Plötzlich wurde ihm klar, dass es da draußen vor seinem Fenster eine Welt voller ungeahnter Möglichkeiten gab. Er stellte sich all die Menschen vor, die elegant gekleidet in den Opernhäusern der großen Metropolen saßen und dieselbe traumhafte Musik hörten. Er sah Menschen in Wohnungen mit großen Fenstern und Blick auf funkelnde Städte, die ebenfalls diese Musik hörten. Sie war ein Bestandteil ihres Lebens. Und er verstand, dass er bald von hier fort und in diese Welt hinausgehen und dazugehören würde und dass er vielleicht auch nie zurückkommen würde.
Dieses erste Stück war der Chor der hebräischen Sklaven gewesen. Er erkannte es wieder, als er es Jahre später noch einmal hörte. Und seitdem versetzt es ihn stets zurück in ein kaltes Zimmer in einem kalten Haus, zurück zu diesem Tag, an dem sich ihm zum ersten Mal der Reichtum der Welt offenbarte.
Es hätte der Anfang einer wundervollen Reise, der Beginn einer lebenslangen Liebe zur Musik werden können. Er hätte es nicht versäumen dürfen, die Scala, Covent Garden und Verona zu besuchen. Er hätte eine Dauerkarte für das Opernfestival in Wexford haben sollen. Inzwischen würde er alle wichtigen Aufnahmen kennen und könnte sagen, wer die beste Norma und seine liebste Madame Butterfly ist.
Stattdessen steht er noch immer ganz am Anfang – einer Sammlung großer Opernchöre. Nun denn, dann hört er sich eben den Sklavenchor noch einmal an. Zum Teufel mit dem Opernfachmann. Der Sklavenchor heitert ihn immer auf.
Mit dem Ärmel schob er die CD zur Kante des Regals und hob sie mit den Fingerspitzen auf. Dann ging er, begleitet von einem Knarzen, in die Knie, bis er auf den Fersen kauerte, und ließ die CD ins offene Fach fallen. Als sie genau in der Mitte landete, brummte er zufrieden. Mit dem Mittelfinger betätigte er den Knopf, der das Fach schloss, und drückte danach auf PLAY.
Stolz auf seine Leistung, richtete er sich wieder auf. Die ersten Akkorde des Stücks wehten durch den Raum, und er wurde von Hoffnung ergriffen.
In ein paar Wochen war er die Gipsverbände los. Dann würde er wieder in der Lage sein, seine Interessen zu vertreten, und es gab überhaupt keinen Grund, warum er den Prozess nicht gewinnen sollte. Er würde freigesprochen werden und kurz vor Schluss beruflich noch einmal so richtig durchstarten. Vielleicht würde er ja wieder an der Universität lehren. Im Grunde lief es doch immer wieder auf Erfahrung hinaus, nur Erfahrung zählte.
Die Scala lief ihm ja nicht davon. Nichts konnte ihn daran hindern, nach Mailand zu fahren. Er würde Addie mitnehmen, sie auf ein verlängertes Wochenende einladen. Er fühlte sich stark, er konnte Bäume ausreißen. Es steckte noch Leben in ihm, das spürte er inzwischen.
Es steckte noch Leben in ihm …