Eine andere Identität, eine andere Schule. Ich habe den Überblick darüber verloren, wie viele es im Laufe der Jahre gewesen sind. Fünfzehn? Zwanzig? Immer eine kleine Stadt, eine kleine Schule, immer die gleiche Routine. Neue Schüler fallen auf. Manchmal zweifele ich an unserer Strategie, ausschließlich in Kleinstädten zu wohnen, weil es schwierig, fast unmöglich ist, dort unbemerkt zu bleiben. Aber ich kenne Henris Grund: Genauso wie für uns ist es auch für sie unmöglich, unbemerkt zu bleiben.
Am nächsten Morgen fährt Henri mich zur Schule, die drei Meilen von unserem Haus entfernt ist. Sie ist kleiner als die meisten anderen, in denen ich war, und ziemlich unscheinbar, einstöckig, lang und niedrig. Ein Wandbild von einem Piraten mit einem Messer zwischen den Zähnen bedeckt die Außenwand neben dem Vordereingang.
»Du bist also jetzt ein Seeräuber?«, fragt Henri neben mir lakonisch.
»Sieht so aus.«
»Du weißt, wie du dich zu verhalten hast.«
»Das ist nicht mein erstes gekapertes Schiff.«
»Lass sie nicht deine Intelligenz spüren. Das nimmt sie gegen dich ein.«
»Nicht im Traum.«
»Bleib unauffällig, zieh keine Aufmerksamkeit auf dich.«
»Wie eine Fliege an der Wand«, verspreche ich.
»Und kränke niemanden. Du bist viel stärker als alle anderen.«
»Ich weiß.«
»Das Wichtigste: sei bereit, jederzeit abzuhauen. Was hast du in deinem Rucksack?«
»Trockenobst und Nüsse für fünf Tage. Extrasocken und Thermounterwäsche. Regenjacke. Ein tragbares Navi. Ein Messer, als Füller getarnt.«
»Das musst du immer bei dir behalten.« Henri holt tief Luft. »Und achte auf Zeichen. Dein Erbe kann jeden Tag zum Vorschein kommen. Verbirg es unter allen Umständen und ruf mich sofort an.«
»Ich weiß, Henri.«
»Jeden Tag, John«, wiederholt er. »Wenn deine Finger zu verschwinden scheinen, wenn du schwebst oder heftig zitterst, wenn du die Muskelbeherrschung verlierst oder Stimmen hörst, obwohl niemand redet – irgendetwas, dann rufst du mich an.«
Ich klopfe auf meine Tasche. »Da ist mein Handy.«
»Ich werde hier nach der Schule auf dich warten. Viel Glück da drin, Kleiner!«
Ich lächle ihm zu. Heute ist er fünfzig. Als wir ankamen, war er vierzig. Sein Alter machte die Umstellung schwieriger. Er spricht immer noch mit einem starken lorienischen Akzent, der oft für Französisch gehalten wird. Am Anfang war das ein gutes Alibi, er nannte sich also Henri und ist seither dabei geblieben. Nur den Nachnamen wechselt er, damit er zu meinem passt.
»Dann gehe ich jetzt mal und mische den Laden auf«, sage ich.
»Mach’s gut.«
Wie bei den meisten
Highschools hängen jede Menge Schüler davor herum, ordentlich in
Gruppen aufgeteilt: die Sportfanatiker und die Cheerleader, die Bandmusiker mit ihren
Instrumenten, die schlauen Köpfe mit ihren Brillen, Büchern und
Handys, die Kiffer mit Abstand an der Seite, ohne die anderen
wahrzunehmen. Ein Junge, schlaksig, dicke Brillengläser, steht
allein. Er trägt ein schwarzes -T-Shirt und
Jeans, mehr als fünfzig Kilo kann er nicht wiegen. Durch ein
Fernrohr betrachtet er den Himmel, der fast ganz von Wolken bedeckt
ist.
Dann fällt mir ein Mädchen auf, das Fotos macht und sich dabei locker eine Gruppe nach der anderen vornimmt. Es ist unglaublich schön mit glatten blonden Haaren bis über die Schultern, elfenbeinfarbener Haut, hohen Wangenknochen und sanften blauen Augen. Alle scheinen es zu kennen und begrüßen es mit großem Hallo, niemand hat etwas dagegen, von ihm fotografiert zu werden.
Das Mädchen bemerkt mich, lacht und winkt. Warum bloß? Ich drehe mich um, vielleicht steht jemand hinter mir. Zwei Kids reden über ihre Hausaufgaben, aber sonst ist da niemand. Die Fotografin kommt lächelnd auf mich zu. Noch nie habe ich ein Mädchen getroffen, das so unfassbar gut aussieht, schon gar nicht mit ihm geredet, und ganz bestimmt hat mir noch keines gewunken und mich angelacht, als wären wir befreundet. Augenblicklich bin ich nervös und werde rot. Aber auch das mir anerzogene Misstrauen steigt in mir hoch.
Als die Fotografin näher kommt, hebt sie die Kamera und fängt an, Bilder zu machen. Ich hebe die Hände vors Gesicht. Sie senkt die Kamera und lächelt wieder. »Sei doch nicht so schüchtern.«
»Bin ich nicht. Ich will nur deine Linse schützen. Mein Gesicht könnte sie zerbrechen.«
Sie grinst. »Mit dieser Grimasse vielleicht. Versuch zu lächeln.«
Ich ziehe die Mundwinkel ein bisschen nach oben. Ich bin so nervös, gleich werde ich explodieren! Ich spüre, wie mein Hals brennt und meine Hände warm werden.
»Das ist kein richtiges Lächeln. Zum Lächeln gehört, dass du die Zähne zeigst.«
Ich grinse breit und sie macht Aufnahmen. Für gewöhnlich lasse ich keine Fotos von mir zu. Wenn sie im Internet oder in einer Zeitung auftauchten, wäre es viel einfacher, mich zu finden. Zweimal ist das vorgekommen, und Henri war rasend wütend, besorgte sich die Fotos und vernichtete sie. Wenn er wüsste, was ich gerade hier tue, bekäme ich riesigen Ärger. Aber ich kann nicht anders – dieses Mädchen ist so verdammt hübsch und charmant. Während sie mich fotografiert, kommt ein Hund zu mir gelaufen, ein Beagle mit hellbraunen Schlappohren, weißen Beinen, weißer Brust und einem schwarzen Körper. Er ist mager und schmutzig, vielleicht ein Streuner. Der Beagle reibt sich an meinem Bein und versucht jaulend, auf sich aufmerksam zu machen. Das Mädchen findet ihn offenbar süß und lässt mich hinknien, damit es mich mit dem Hund fotografieren kann. Allerdings weicht der Hund zurück, sobald die Fotografin ihre Kamera hebt. Bei jedem Versuch entfernt er sich weiter. Schließlich gibt das Mädchen auf und macht noch ein paar Fotos von mir. Der Hund sitzt mittlerweile etwa hundert Meter von uns entfernt im Gras und schaut zu.
»Kennst du diesen Hund?«, fragt die Fotografin.
»Noch nie gesehen.«
Sie streckt die Hand aus. »Ich bin Sarah Hart. Meine Mutter ist eure Immobilienmaklerin. Sie hat mir erzählt, dass du vielleicht heute in die Schule kommst; ich sollte mich nach dir umschauen. Du bist der einzige Neue heute.«
Ich lache. »Ja, deine Mutter habe ich schon kennengelernt. Sie war nett.«
»Gibst du mir die Hand?« Ihre ist immer noch ausgestreckt. Ich lache, greife danach – und es ist buchstäblich eines der besten Gefühle, die ich je hatte.
»Donnerwetter«, sagt sie.
»Was?«
»Deine Hand ist heiß. Wirklich heiß, als hättest du Fieber.«
»Das glaube ich nicht.«
Sie lässt los. »Vielleicht bist du nur warmblütig.«
»Ja, vielleicht.«
Es läutet in der Ferne und Sarah erklärt mir, dies sei das Warnklingeln: Wir haben noch fünf Minuten, um ins Klassenzimmer zu kommen. Wir verabschieden uns. Während ich ihr noch hinterhersehe, trifft mich etwas am Ellbogen. Eine Gruppe Footballspieler, alle in diesen Jacken mit den Initialen der Schule, die nur ausgezeichnete Sportler bekommen, rennen an mir vorbei. Einer von ihnen funkelt mich wütend an, er hat mich im Vorbeilaufen mit seinem Rucksack angerempelt. Ich bezweifle, dass es Zufall war, und folge ihnen. Ich weiß, dass ich nichts tun werde, auch wenn ich könnte. Aber ich mag solche Schlägertypen einfach nicht.
Plötzlich marschiert der
Junge mit dem -T-Shirt neben mir her. »Ich weiß, du bist neu, also
bringe ich dich erst mal auf einen aktuellen Wissensstand.«
»Worüber?«
»Das ist Mark James. Er gilt hier in der Gegend als große Nummer. Sein Dad ist der Sheriff und er der Star der Football-Mannschaft. Sarah ist mit ihm ausgegangen, als sie noch Cheerleader war. Aber sie hat das Rumgehüpfe aufgegeben und gleichzeitig mit Mark Schluss gemacht. Das hat er nicht verkraftet. Mit ihm würde ich mich nicht anlegen, wenn ich du wäre.«
»Danke.«
Der Junge läuft davon. Ich mache mich auf den Weg zum Büro des Direktors, damit ich mich für die Fächer eintragen und richtig aufgenommen werden kann. Vorher schaue ich mich noch mal nach dem Hund um. Er sitzt noch auf demselben Fleck und beobachtet mich.
***
Der Direktor, Mr. Harris, ist dick und fast kahl – bis auf ein paar lange Strähnen hinten und an den Seiten seines Kopfes. Sein Bauch hängt über den Gürtel. Er hat kleine Knopfaugen, die zu eng beieinander stehen. Als er mich über den Schreibtisch hinweg angrinst, scheint sein Lächeln seine Augen zu verschlucken.
»Du bist also ein Sophomore aus Santa Fe?«, fragt er.
Ich nicke und bejahe, obwohl wir nie in Santa Fe geschweige denn überhaupt in New Mexico waren. Eine einfache Lüge, um mir Nachforschungen zu ersparen. Na, zumindest stimmt es, dass ich im zweiten Jahr der Highschool bin.
»Das erklärt die Bräune. Und was führt euch nach Ohio?«
»Der Beruf meines Vaters.«
Henri ist nicht mein Vater, aber ich behaupte das immer, um Argwohn zu zerstreuen. In Wahrheit ist er mein Wächter oder – was auf der Erde besser verstanden wird – mein Vormund.
Auf Lorien gab es zwei Arten von Bürgern. Einmal sind da die Träger des Erbes mit höchst verschiedenartigen Fähigkeiten wie Unsichtbarkeit oder Gedankenlesen bis hin zum Fliegen oder der geschickten Anwendung der Naturgewalten. Diese Träger des Erbes werden Garde genannt, die anderen heißen Cêpan oder Wächter. Ich bin ein Angehöriger der Garde, Henri ist mein Cêpan. Jeder Gardist bekommt in sehr jungen Jahren einen Cêpan zugeteilt. Sie helfen uns, die Geschichte unseres Planeten zu verstehen und unsere Fähigkeiten zu entwickeln. Cêpan und Garde – eine Gruppe betreibt und verwaltet den Planeten, die andere Gruppe verteidigt ihn.
Mr. Harris nickt. »Und was ist dein Vater von Beruf?«
»Schriftsteller. Er wollte in einer kleinen, ruhigen Stadt leben, um sein gegenwärtiges Projekt zu beenden.« Das ist unsere Standardgeschichte.
Mr. Harris nickt wieder und kneift die Augen zusammen. »Du scheinst ein kräftiger junger Mann zu sein. Hast du vor, hier Sport zu treiben?«
»Ich wollte, ich könnte es. Aber ich habe Asthma.« Meine übliche Ausrede zur Vermeidung von Situationen, die meine Stärke und Schnelligkeit verraten könnten.
»Tut mir leid, das zu hören. Wir suchen immer gute Athleten für das Footballteam.« Mr. Harris’ Blick wandert zum Regal an der Wand, auf dem ganz oben ein Pokal mit dem eingravierten Datum des vergangenen Jahres steht. »Wir haben den Juniorpokal gewonnen!«, erklärt er strahlend vor Stolz.
Aus einem Aktenschrank neben seinem Schreibtisch nimmt er zwei Blatt Papier für mich. Das erste ist mein Stundenplan mit ein paar noch offenen Rubriken, das zweite eine Liste der verfügbaren Wahlfächer. Ich suche aus, trage sie ein und gebe alles zurück. Dann hält er mir einen gefühlt stundenlangen einführenden Vortrag, in dem er jede Seite des Schülerhandbuchs mit peinlichster Genauigkeit erklärt. Es läutet einmal, dann noch einmal. Schließlich ist er fertig und will wissen, ob ich noch Fragen habe. Nein, keine Fragen.
»Ausgezeichnet. Jetzt läuft noch die Hälfte der zweiten Stunde, und du hast Astronomie bei Mrs. Burton gewählt. Sie ist eine großartige Lehrerin, eine unserer besten. Sie ist sogar schon einmal vom Staat ausgezeichnet worden; der Gouverneur hat die Urkunde selbst unterschrieben!«
»Großartig«, sage ich.
Nachdem sich Mr. Harris aus seinem Stuhl gekämpft hat, gehen wir aus seinem Büro durch den Gang. Seine Schuhe klappern auf dem frisch gewachsten Boden. Die Luft riecht nach Farbe und Reinigungsmittel. Spinde säumen die Wände, viele von ihnen tragen Banner für das Footballteam. Mehr als zwanzig Klassenzimmer können nicht im Gebäude sein. Ich zähle sie im Vorbeigehen.
»Da sind wir.« Mr. Harris streckt die Hand aus, ich schüttle sie. »Wir sind froh, dich hier zu haben. Ich betrachte uns gern als eine eng verbundene Familie. Ich freue mich, dich darin begrüßen zu können.«
»Danke«, sage ich höflich.
Mr. Harris öffnet die Tür und streckt den Kopf ins Klassenzimmer. Erst jetzt wird mir klar, dass ich ein bisschen nervös bin, dass ein gewisses Schwindelgefühl sich einschleicht. Mein rechtes Bein zittert, mein Magen flattert und ich verstehe nicht, warum. Es kann doch kein Lampenfieber vor der neuen Klasse sein! Dazu habe ich diese Situation viel zu oft erlebt. Ich hole tief Luft und versuche die Beklemmung abzuschütteln.
»Mrs. Burton, entschuldigen Sie die Störung. Ihr neuer Schüler ist da.«
»Oh, hervorragend! Schicken Sie ihn herein«, ruft Mrs. Burton mit schriller, begeisterter Stimme.
Mr. Harris hält die Tür auf und ich gehe hinein. Das Klassenzimmer ist komplett quadratisch, etwa fünfundzwanzig Schüler sitzen darin an rechteckigen, etwa küchentischgroßen Schreibtischen, etwa drei Schüler pro Tisch. Alle starren mich an. Ich starre zurück, bevor ich Mrs. Burton ansehe. Sie dürfte um die sechzig sein und trägt einen rosa Wollpullover. Eine Brille mit rotem Plastikgestell hängt ihr an einer Kette um den Hals. Sie lächelt breit, ihr Haar ist graumeliert und lockig. Ich spüre, wie meine Handflächen schweißnass werden, mein Gesicht fühlt sich heiß an, hoffentlich ist es nicht rot. Mr. Harris schließt die Tür.
»Und wie heißt du?«, fragt Mrs. Burton.
In meiner Verwirrung hätte ich beinahe ›Daniel Jones‹ gesagt, aber ich fange mich, atme tief ein und antworte: »John Smith.«
»Großartig. Und woher kommst du?«
»F…«, fange ich an, kann mich aber rechtzeitig korrigieren. »Santa Fe.«
»Klasse, heißt ihn herzlich willkommen!«
Alle klatschen. Mrs. Burton bedeutet mir, dass ich mich auf den leeren Platz mitten im Raum zwischen zwei andere Schüler setzen soll. Erleichtert, dass sie keine weiteren Fragen stellt, trotte ich den kleinen Gang hinunter – direkt auf Mark James zu, der mit Sarah Hart an einem Tisch sitzt. Als ich an ihm vorbeigehe, stellt er mir ein Bein. Ich verliere das Gleichgewicht, bleibe aber aufrecht. Gekicher.
Mrs. Burton fährt herum. »Was ist los?«
Ohne zu antworten, starre ich Mark an. Jede Schule hat so einen harten Typen, einen Tyrann, einen Angeber, wie man ihn auch nennen mag, aber noch nie hat sich einer so schnell herauskristallisiert. Seine gegelten schwarzen Haare sind sorgfältig so gestylt, dass sie in alle Richtungen abstehen. Er hat exakt geschnittene Koteletten, Stoppeln am Kinn und buschige Brauen über den dunklen Augen. Auf seine Collegejacke, die Oberstufenschülern vorbehalten ist, ist sein Name in Gold über das Jahr gestickt. Wir durchbohren einander mit Blicken, die anderen stöhnen auf.
Ich schaue kurz nach meinem Platz, drei Tische entfernt, dann zurück zu Mark. Ich könnte ihn ohne Weiteres in zwei Teile brechen, wenn ich wollte. Ich könnte ihn bis zum nächsten Verwaltungsbezirk schleudern. Wenn er versuchen sollte, in einem Auto zu fliehen, könnte ich den Wagen einholen und problemlos auf einen Baumwipfel setzen. Aber abgesehen davon, dass das vielleicht ein wenig übertrieben wäre, spuken nun Henris Worte durch meinen Kopf: Bleib unauffällig, zieh keine Aufmerksamkeit auf dich. Ich weiß, dass ich seinem Rat folgen und den Vorfall ignorieren sollte, wie ich es bei ähnlichen Erlebnissen in der Vergangenheit getan habe. Das können wir gut, wir passen uns der Umgebung an und leben in ihrem Schatten. Aber jetzt bin ich unsicher, angespannt, und noch bevor ich nachgedacht habe, platze ich heraus: »Was willst du?«
Mark lässt seinen Blick durch den Raum schweifen, rutscht auf seinem Platz zurück und sieht mich dann wieder an. »Wovon sprichst du?«
»Du hast mir eben ein Bein gestellt. Und draußen hast du mich angerempelt. Ich dachte, du willst vielleicht was von mir.«
»Was ist hier los?« Mrs. Burton steht mittlerweile hinter mir.
Ich blicke sie über die Schulter an. »Nichts.« Und dann zu Mark: »Also?«
Er klammert die Hände an seine Schreibtischplatte, schweigt aber weiter. Wir starren einander an, bis er seufzt und wegsieht.
»Das dachte ich mir«, sage ich abfällig und gehe weiter. Die anderen Schüler wissen nicht genau, was sie tun sollen, und so beobachten die meisten mich einfach nur, bis ich mich setze, zwischen ein rothaariges Mädchen mit Sommersprossen und einen übergewichtigen Typen, der mich mit offenem Mund unverhohlen anglotzt.
Mrs. Burton vorn an der Tafel wirkt ein bisschen aufgeregt, aber dann zuckt sie die Achseln und beginnt zu erklären, warum Ringe um den Saturn sind, und dass sie hauptsächlich aus Eispartikeln und Staub bestehen. Nach einer Weile schalte ich sie für mich aus und betrachte die anderen Schüler: eine ganz neue Gruppe, die ich wieder versuchen werde, auf Abstand zu halten. Das ist immer ein Eiertanz, gerade so viel zu kommunizieren, dass man geheimnisvoll bleibt, aber nicht merkwürdig und damit auffällig wird. Heute habe ich es total verpfuscht.
Ich hole tief Luft und atme langsam aus. Ich habe immer noch ein flaues Gefühl im Magen, immer noch das irre Zittern im Bein. Meine Hände fühlen sich wärmer an. Mark James sitzt drei Tische vor mir. Einmal dreht er sich um und sieht mich an, dann flüstert er Sarah etwas ins Ohr. Sie wendet sich um, offenbar cool, aber dass sie früher mit ihm ausgegangen ist und jetzt neben ihm sitzt, macht mich nachdenklich. Sie schenkt mir ein herzliches Lächeln. Ich will zurücklächeln, aber ich bin wie erstarrt. Mark will ihr wieder was zuflüstern, doch sie schüttelt den Kopf und schiebt ihn weg. Mein Gehör ist eigentlich viel besser als das menschliche, wenn ich es fokussiere, aber ihr Lächeln hat mich so durcheinandergebracht, dass da gar nichts mehr geht. Ich wollte, ich hätte gehört, was gesagt worden ist.
Ich öffne und schließe die Hände. Meine Handflächen sind verschwitzt und fangen an zu brennen. Noch ein tiefer Atemzug. Ich sehe nur noch verschwommen. Fünf Minuten vergehen, dann zehn. Mrs. Burton spricht immer noch, aber ich höre nicht, was sie sagt. Ich drücke meine Fäuste zu, dann öffne ich sie wieder. Dabei bleibt mir der Atem in der Kehle stecken. Ein leichter Schimmer erscheint auf meiner rechten Handfläche. Ich sehe verblüfft, erstaunt darauf hinunter. Nach ein paar Sekunden wird das Leuchten heller.
Ich schließe die Fäuste. Zuerst fürchte ich, einem der anderen könnte etwas zugestoßen sein. Aber was? Wir können nicht außer der Reihe getötet werden. So bestimmt es der Zauber. Aber bedeutet das auch, dass ihnen nichts anderes zustoßen kann?! Wurde einem die rechte Hand abgeschnitten? Ich habe keine Ahnung. Aber wenn etwas geschehen wäre, hätte ich es in den Narben an meinem Knöchel gespürt.
Und erst jetzt dämmert es mir: Mein erstes Erbe bildet sich!
Ich hole mein Handy aus der Tasche und schicke Henri eine SMS: kmr. Ich wollte komm her tippen, aber mir ist zu schwindlig, um mehr zu schreiben. Ich balle die Hände und lege sie in den Schoß. Sie brennen und zittern. Ich öffne sie noch einmal – die linke Handfläche ist knallrot, die rechte schimmert immer noch. Ich werfe einen Blick auf die Uhr an der Wand und sehe, dass die Stunde fast vorbei ist. Wenn ich hier rauskomme, kann ich einen leeren Raum suchen, Henri anrufen und ihn fragen, was los ist. Ich fange an, die Sekunden runterzuzählen, sechzig, neunundfünfzig, achtundfünfzig. Es fühlt sich an, als würde gleich etwas in meinen Händen explodieren. Ich konzentriere mich aufs Zählen. Vierzig, neununddreißig. Jetzt brennen meine Hände so sehr, als würden kleine Nadeln in die Handflächen gesteckt. Achtundzwanzig, siebenundzwanzig. Ich öffne die Augen und starre geradeaus, konzentriere mich auf Sarah und hoffe, das lenkt mich ab. Fünfzehn, vierzehn. Sie anzusehen, macht es schlimmer. Die Nadeln fühlen sich jetzt an wie glühende Nägel, die in einem Ofen erhitzt wurden. Acht, sieben.
Es läutet. Augenblicklich springe ich auf und renne an den anderen vorbei aus dem Klassenzimmer. Mir ist schwindlig, ich bin unsicher auf den Beinen, laufe durch den Gang und habe keine Ahnung, wohin. Ich spüre, dass mir jemand folgt. Ich ziehe meinen Stundenplan aus der Tasche und suche meine Spindnummer. Zum Glück ist mein Spind gerade neben mir auf der rechten Seite. Ich bleibe davor stehen und lege den Kopf an die Metalltür. Dann schüttle ich ihn, weil mir plötzlich klar wird, dass ich bei meiner Hast, aus dem Klassenzimmer zu kommen, meine Tasche mit dem Handy darin liegen gelassen habe.
Und dann schubst mich jemand. »Was ist los, du harter Knochen?«
Ich stolpere ein paar Schritte und blicke auf.
Mark steht da und grinst mich an. »Stimmt was nicht?«
»Alles okay.« Mir schwindelt; ich habe das Gefühl, gleich ohnmächtig zu werden. Und meine Hände brennen. Was immer geschieht, es gäbe keinen unpassenderen Moment als diesen.
Mark schubst mich wieder. »Nicht ganz so tough, wenn keine Lehrer in der Nähe sind, was?«
Ich kann mich nicht mehr aufrecht halten, stolpere über meine eigenen Füße und falle auf den Boden.
Sarah tritt vor Mark. »Lass ihn in Ruhe.«
»Das hat nichts mit dir zu tun«, entgegnet er.
»Richtig. Du siehst, wie ein neuer Schüler mit mir spricht, und sofort versuchst du, dich mit ihm zu schlagen. Das ist nur ein Beispiel dafür, warum wir nicht mehr zusammen sind.«
Ich versuche aufzustehen. Sarah beugt sich herunter und will mir helfen, doch sowie sie mich berührt, flammt der Schmerz in meinen Händen erneut auf. Es fühlt sich an, als würde der Blitz durch meinen Kopf schlagen. Ich drehe mich um und laufe davon, in die entgegengesetzte Richtung vom Astronomieraum. Ich weiß, dass jeder mich in diesem Moment für einen Feigling hält, aber mir ist, als würde ich sonst ohnmächtig. Später werde ich Sarah danken und mich mit Mark auseinandersetzen. Im Moment muss ich nur ein Zimmer finden, das ich abschließen kann.
Ich laufe bis zum Ende des Gangs, der in den Haupteingang mündet. Der Direktor hat in seinem langen Vortrag auch davon gesprochen, wo die verschiedenen Räume hier sind. Wenn ich mich richtig erinnere, liegen am Ende dieses Trakts die Aula sowie die Musik- und Kunsträume. Ich renne darauf zu, so schnell ich in diesem Zustand kann. Mark brüllt mir etwas nach und Sarah schreit wiederum ihn an. Ich reiße die erste Tür auf, die infrage kommt, und knalle sie hinter mir zu. Ein Glück, sie hat ein Schloss, es funktioniert.
Ich bin in einer Dunkelkammer. Filmstreifen hängen an Trockenschnüren. Ich breche auf dem Boden zusammen. Mein Kopf dreht sich, meine Hände brennen und brennen. Seit sie leuchten, habe ich die Fäuste geballt. Jetzt betrachte ich sie: Die rechte Hand glüht immer noch, das Licht im Inneren pulsiert. Panik ergreift mich.
Ich sitze auf dem Boden, Schweiß sticht mir in die Augen, beide Hände tun schrecklich weh. Ich wusste, dass ich mein Erbe erwarten muss, aber ich hatte keine Ahnung, dass es so etwas mit einschließt. Ich öffne die Hände – die rechte Handfläche leuchtet hell und das Licht beginnt sich zu konzentrieren. Die linke flackert schwach, das Brennen ist fast unerträglich. Wenn Henri nur hier wäre!
Ich schließe die Augen, schlinge die Arme um den Körper und wiege mich auf dem Boden hin und her, alles in mir schmerzt. Ich weiß nicht, wie viel Zeit vergeht – eine Minute? Zehn? Es läutet, die nächste Schulstunde beginnt. Ich höre Leute vor der Tür, ein paar Mal will jemand öffnen, vergeblich. Ich wiege mich weiter auf dem Boden, die Augen fest geschlossen. Es wird geklopft, dazu gedämpfte Stimmen, ich verstehe nichts. Dann öffne ich die Augen und sehe, dass der Lichtschein von meinen Handflächen die gesamte Dunkelkammer erleuchtet. Ich drücke die Hände zu Fäusten, damit das Licht ausgeht, aber es scheint zwischen den Fingern hindurch.
Auf einmal wird kräftig an der Tür gerüttelt. Was werden sie zu dem Licht in meinen Händen sagen? Ich kann es nicht verbergen. Wie soll ich es erklären?
»John? Mach die Tür auf – ich bin es.«
Eine Welle der Erleichterung durchflutet mich. Henris Stimme! Die einzige Stimme auf der ganzen Welt, die ich jetzt hören möchte.