Nachdem er mehrere Stunden lang darüber nachgedacht hat, druckt Henri heute Morgen gleich nach dem Aufwachen die Autoroute von hier nach Athens, Ohio, aus. Er reicht mir ein Blatt Papier mit Adresse und Telefonnummer seines Ziels – um vier sei er bestimmt wieder zu Hause, dann könnten wir zum Thanksgiving Dinner bei Sarahs Eltern gehen.
»Und du meinst, dass sich das lohnt?«, frage ich.
»Wir müssen herausfinden, was da geschieht.«
Ich seufze. »Ich glaube, das wissen wir beide.«
»Vielleicht«, sagt er streng und ohne die Unsicherheit, die meistens dieses Wort begleitet.
»Du weißt, was du mir sagen würdest, wenn unsere Rollen umgekehrt verteilt wären, oder?«
Henri grinst. »Ja, John. Ich weiß, was ich sagen würde. Aber ich glaube, das hier wird uns helfen. Ich will herausfinden, wodurch sie diesen Mann so sehr verängstigt haben. Ich will wissen, ob sie uns erwähnt haben, ob sie uns auf eine Art suchen, die wir noch nicht in Erwägung gezogen haben. Es wir uns helfen, verborgen zu bleiben, ihnen voraus zu sein. Und wenn dieser Mann sie gesehen hat, dann erfahren wir, wie sie aussehen.«
»Wir wissen bereits, wie sie aussehen.«
»Ja – wie sie aussahen, als sie uns vor mehr als zehn Jahren angegriffen haben, aber sie könnten sich verändert haben. Sie sind jetzt schon lange auf der Erde. Ich will wissen, wie sie sich anpassen.«
»Selbst wenn wir etwas über ihr aktuelles Aussehen erfahren – in dem Moment, in dem wir ihnen auf der Straße begegnen, ist es vielleicht zu spät.«
»Vielleicht, vielleicht auch nicht. Wenn ich einen sehe, versuche ich ihn zu töten. Es gibt keine Garantie dafür, dass er mich töten kann.« Diesmal überwiegt die Unsicherheit in seiner Stimme.
Ich gebe auf. Es gefällt mir überhaupt nicht, dass er nach Athens fährt, während ich zu Hause rumhocke. Aber ich weiß, dass meine Einwände auch weiterhin nur auf taube Ohren stoßen werden. »Kommst du auch bestimmt pünktlich zurück?«
»Ich fahre jetzt los, also bin ich etwa um neun dort. Ich bleibe kaum mehr als eine Stunde, höchstens zwei. Um eins sollte ich zurück sein.«
»Und warum habe ich dann das?« Ich halte das Blatt mit Adresse und Telefonnummer hoch.
Er zuckt die Achseln. »Man kann nie wissen.«
»Genau deshalb finde ich, du sollst nicht fahren.«
»Touché«, sagt er und beendet damit die Diskussion. Er nimmt seine Papiere und steht auf. »Bis heute Nachmittag.«
»Okay.« Ich umarme ihn, dann geht er hinaus zum Truck und steigt ein. Bernie Kosar und ich sehen ihm von der Veranda aus nach.
Ich weiß nicht, warum, aber ich habe ein schlechtes Gefühl. Ich hoffe, er kommt zurück.
***
Es ist ein langer Tag. Einer der Tage, an denen die Zeit langsamer vergeht und jede Minute wie zehn erscheint, jede Stunde wie zwanzig. Ich spiele Videogames und surfe im Internet, um vielleicht Neuigkeiten aufzustöbern, die einen anderen von der Garde betreffen könnten. Ich finde nichts, und das heitert mich auf. Es bedeutet: Wir sind unsichtbar. Gehen unseren Feinden aus dem Weg.
Immer wieder sehe ich auf mein Handy. Am Mittag schicke ich Henri eine Nachricht. Er antwortet nicht. Ich esse etwas und füttere Bernie, dann schicke ich ihm die nächste SMS. Keine Antwort. Das macht mich nervös, unruhig. Henri hat es noch nie versäumt, sofort zu antworten. Vielleicht hat er sein Handy ausgeschaltet. Vielleicht ist sein Akku erschöpft. Ich versuche, mich von diesen Möglichkeiten zu überzeugen, aber ich weiß, dass beides nicht wahr ist. Um zwei fange ich an, mir Sorgen zu machen. Große Sorgen. In einer Stunde sollen wir bei den Harts sein. Henri weiß, dass mir dieses Dinner wichtig ist. Und er würde es nie sausen lassen. Ich gehe unter die Dusche und hoffe, dass Henri am Küchentisch sitzt und eine Tasse Kaffee trinkt, wenn ich herauskomme. Ich drehe das heiße Wasser komplett auf und verzichte ganz auf das kalte. Ich spüre nichts. Mein ganzer Körper ist jetzt unempfindlich für Hitze. Es fühlt sich an, als ob lauwarmes Wasser über meine Haut strömt, das Gefühl der Hitze fehlt. Ich habe schon immer heiße Duschen geliebt und stand in der Regel so lange wie möglich darunter; mit geschlossen Augen genoss ich das Wasser, das auf meinen Kopf regnete und an mir herunterfloss. Das entfernte mich von meinem Leben. Es ließ mich kurze Zeit vergessen, wer und was ich bin.
Nach der Dusche suche ich in meinem Schrank nach meinen schönsten Klamotten, die aber nichts Besonderes sind: Khakihose, ein Hemd, darüber ein Pulli. Weil wir ein Leben lang auf der Flucht sind, habe ich nur Laufschuhe – als mir das klar wird, erscheint es mir so absurd, dass ich lachen muss, das erste Mal an diesem Tag. Ich gehe in Henris Zimmer und schaue in seinen Schrank. Da sind ein paar Halbschuhe, die mir passen. Der Anblick seiner Sachen macht mich noch unglücklicher, verstört mich noch mehr. Ich will glauben, dass er einfach länger braucht als vorgesehen, aber er hätte mir eine SMS geschickt. Etwas muss schiefgelaufen sein.
Neben der Haustür sitzt Bernie und sieht aus dem Fenster. Als ich komme, schaut er zu mir auf und jault. Ich tätschle ihm den Kopf und gehe zurück in mein Zimmer. Es ist kurz nach drei. Auf meinem Handy ist keine Nachricht, keine SMS. Ich werde zu Sarah gehen, und wenn ich um fünf noch nichts von Henri gehört habe, muss ich mir etwas ausdenken. Vielleicht sage ich ihnen, dass er krank ist und ich mich auch nicht besonders fühle. Oder vielleicht erkläre ich, dass sein Wagen liegen geblieben ist und ich los muss, um ihm zu helfen. Wenn alles gut geht, kommt er, und wir können ein schönes Abendessen genießen. Es wäre sogar das erste unseres Lebens. Wenn nicht, werde ich ihnen irgendwas Glaubwürdiges erzählen.
Da der Wagen nicht da ist, werde ich hinlaufen – wahrscheinlich werde ich noch nicht einmal schwitzen und schneller da sein als mit dem Auto. Weil Ferien sind, sollten die Straßen auch relativ leer sein. Ich verabschiede mich von Bernie, sage ihm, dass ich später wieder da sein werde, und renne los, an den Feldern entlang, durch den Wald. Es tut gut, Energie zu verbrennen. Meine Ängste werden etwas besänftigt. Zweimal laufe ich, so schnell ich kann, also vielleicht um die hundert Kilometer per Stunde. Die kalte Luft auf meinem Gesicht fühlt sich großartig an, es klingt auch gut, wenn sie über mich hinwegfegt – wie das Geräusch, das ich höre, wenn wir über einen Highway fahren und ich den Kopf aus dem Fenster des Trucks strecke. Wie schnell werde ich wohl laufen können, wenn ich zwanzig oder fünfundzwanzig bin?
Etwa hundert Meter vor Sarahs Haus höre ich auf zu laufen. Ich bin kein bisschen außer Atem. Als ich die Auffahrt hinaufgehe, erblicke ich Sarah bereits am Fenster. Sie lächelt, winkt und öffnet mir dann die Haustür. »Hallo, mein Hübscher!« Ich blicke im Spaß hinter mich, um zu sehen, ob sie jemand anderen meinen könnte. Dann drehe ich mich wieder zu ihr und frage sie, ob sie mit mir spricht. Sie lacht. »Du bist so doof!« Sie boxt mir auf den Arm, bevor sie mich zu sich ranzieht und mir einen leidenschaftlichen Kuss gibt.
Ich atme tief ein und kann das Essen riechen: Truthahn und Füllung, Süßkartoffeln, Rosenkohl, Kürbiskuchen. »Riecht super.«
»Meine Mom hat den ganzen Tag gekocht. Aber wo ist dein Dad?«
»Er ist aufgehalten worden und kommt bestimmt bald nach.«
»Geht es ihm gut?«
»Ja, mach dir keine Sorgen.«
Drinnen führt sie mich durchs Haus – ein schönes, klassisches Einfamilienhaus mit Schlafzimmern im zweiten Stock, einem Dachgeschoss, in dem einer der Brüder sein Zimmer hat, und im ersten Stock alle Wohn- und Gemeinschaftsräume sowie die Küche.
In ihrem Zimmer schließt Sarah die Tür hinter sich und küsst mich. Ich bin überrascht, aber höchst erfreut.
»Den ganzen Tag habe ich mich darauf gefreut«, sagt sie hinterher leise, und als sie zur Tür geht, bin ich es, der sie zurückzieht und erneut küsst.
Unten sitzen ihre beiden älteren Brüder, übers Wochenende vom College zu Hause, mit ihrem Vater vorm Fernseher und sehen sich ein Footballspiel an. Ich setze mich zu ihnen, während Sarah in die Küche geht und ihrer Mutter und der jüngeren Schwester bei den letzten Vorbereitungen hilft. Ich habe mich nie sonderlich für Football interessiert. Wenn man ehrlich ist, gibt es eigentlich gar nichts, für das ich mich je sonderlich interessiert hätte – wahrscheinlich wegen unseres Lebensstils. Überall habe ich versucht, mich anzupassen, um dann bereit für den nächsten Umzug zu sein. Sarahs Brüder und ihr Vater haben natürlich alle in der Highschool Football gespielt. Sie lieben diesen Sport. Und beim heutigen Spiel sind Vater und ein Bruder Fans der einen Mannschaft, während der andere Bruder die Daumen für die Gegner drückt. Sie streiten, ziehen sich auf, jubeln und stöhnen je nach Spielstand. Offensichtlich machen sie das seit Jahren und noch offensichtlicher haben sie einen Heidenspaß dabei. Wenn ich mir das so ansehe, wünsche ich mir, Henri und ich hätten außer meinem Training und unserem endlosen Fliehen und Verstecken etwas, das uns beide begeistern würde und das wir gemeinsam genießen könnten. Ich wünsche mir einen richtigen Vater und Brüder, mit denen ich zusammensein könnte.
In der Halbzeit ruft Sarahs Mutter uns zum Dinner. Ich schaue verstohlen auf mein Handy – nichts. Auf der Toilette versuche ich noch schnell Henri anzurufen, sofort habe ich seine Mailbox dran. Es ist fast fünf Uhr und ich bekomme allmählich Panik. Der Tisch, an dem schon alle sitzen, sieht großartig festlich aus mit den Blumen in der Mitte, feiner Tischwäsche und den Gedecken genau vor den Stühlen. Die Schüsseln sind über den Tisch verteilt, der Truthahn liegt vor Mr. Hart.
Kaum sitze ich, kommt Mrs. Hart herein, jetzt ohne Schürze, dafür mit schönem Rock und Pulli. »Hast du was von deinem Dad gehört?«, fragt sie.
»Gerade habe ich ihn angerufen. Er ist aufgehalten worden und bittet Sie, nicht auf ihn zu warten. Es tut ihm sehr leid, dass er unpünktlich sein muss.«
Mr. Hart tranchiert den Truthahn. Sarah lächelt mir über den Tisch hinweg zu, was mich kurz ablenkt. Ich nehme mir nur wenig von allem, vermutlich kann ich eh nicht viel essen. Das Handy liegt auf meinem Schoß und soll vibrieren, wenn ich einen Anruf oder eine Mitteilung bekomme. Doch daran glaube ich jetzt nicht mehr, wahrscheinlich werde ich Henri nie wieder sehen. Der Gedanke, allein zu leben – mit dem Erbe, das sich entwickelt, während niemand es mir erklären oder mit mir üben kann, mit Davonlaufen, Verstecken, Kämpfen gegen die Mogadori, Sieg oder Niederlage und Tod – entsetzt mich.
Dieses Dinner dauert ewig! Die Zeit vergeht unfassbar langsam, während alle Harts mich mit Fragen bombardieren über meine Vergangenheit, die Wohnorte, über Henri, meine Mutter, die, wie ich immer sage, gestorben ist, als ich noch sehr klein war. Ich habe keine Ahnung, ob meine Antworten einen Sinn ergeben. Das Handy auf meinem Schoß fühlt sich an, als würde es tausend Pfund wiegen. Es vibriert nicht. Es liegt einfach nur da.
Nach dem Hauptgang und vor dem Dessert bittet Sarah alle in den Hinterhof, um Fotos zu machen. Draußen fragt sie mich, ob etwas nicht in Ordnung sei. Ich erkläre ihr, dass ich mir Sorgen um Henri mache. Sie versucht natürlich mich zu beruhigen, aber es hilft nichts. Im Gegenteil, ich werde nur noch beunruhigter. Wo steckt er nur? Was macht er? Das einzige Bild, das sich nicht aus meinem Kopf verscheuchen lässt, ist eines, auf dem er in Todesangst vor einem Mogadori steht und weiß, dass er gleich sterben wird. Während wir uns für die Fotos hinstellen, gerate ich in Panik. Wie kann ich nach Athens kommen? Laufen – aber abseits der Hauptstraßen wäre es schwierig, hinzufinden. Mit dem Bus würde es zu lange dauern. Und Sarah zu bitten, mich hinzufahren, würde einen Haufen Erklärungen bedeuten – unter anderem, dass ich ein Außerirdischer bin und glaube, dass Henri entweder entführt oder gar gekillt wurde von einem feindlichen Alien, der nun nach mir sucht, um auch mich zu töten. Keine gute Idee.
Während wir posieren, wird mir immer klarer, dass ich hier weg muss. Aber wie? Und wie vor allem so, dass Sarahs Familie mich nicht für immer hasst?! Ich starre in die Kamera, während ich versuche, mir eine Entschuldigung auszudenken, die nicht zu viele Fragen nach sich zieht. Ich bin so sehr mit mir selbst beschäftigt, dass ich kaum bemerke, wie meine Hände zittern und heiß werden. Dennoch bekomme ich es wenigstens hin, auf sie herabzusehen, um mich zu vergewissern, dass sie nicht leuchten. Tun sie nicht. Aber als ich wieder aufblicke, sehe ich plötzlich, wie die Kamera in Sarahs Händen zittert. Ich weiß, dass ich das auf irgendeine Art und Weise auslösen muss, aber ich habe nicht die geringste Ahnung, wie oder was es stoppen kann. Ein Schauer läuft mir über den Rücken. Der Atem bleibt mir im Hals stecken und im gleichen Augenblick zerspringt die Linse der Kamera und fällt in Scherben zu Boden. Sarah schreit erschrocken auf, dann schaut sie verwirrt die Kamera an und Tränen sammeln sich in ihren Augen.
Ihre Eltern laufen zu ihr, um zu sehen, ob sie okay ist. Ich weiß nicht so recht, was ich tun soll. Ich schäme mich wegen der Kamera und deshalb, weil Sarah so geschockt ist, aber zugleich freue ich mich, dass meine Telekinese zweifellos funktioniert hat. Werde ich sie je beherrschen können? Henri wird begeistert sein! Henri. Meine Panik kommt zurück. Ich balle meine Fäuste. Ich muss hier weg. Ich muss ihn suchen. Und wenn die Mogadori ihn haben, was ich nicht hoffe, dann werde ich jeden verdammten Einzelnen von ihnen umbringen, damit ich Henri zurückbekomme.
Schnell denke ich nach, gehe zu Sarah und ziehe sie weg von ihren Eltern, die jetzt die Kamera untersuchen. »Ich habe gerade eine Nachricht von Henri bekommen. Tut mir wirklich sehr leid, aber ich muss gehen.«
Sie schaut von mir zu ihren Eltern und ist sichtlich abgelenkt. »Ist bei ihm alles in Ordnung?«
»Ja, aber ich muss zu ihm – er braucht mich.«
Sie nickt und küsst mich zärtlich. Hoffentlich nicht zum letzten Mal.
Schnell danke ich ihren Eltern und Geschwistern und gehe, bevor sie mir zu viele Fragen stellen können. Ich gehe durch das Haus zur Eingangstür und sobald ich draußen bin, beginne ich zu laufen, den gleichen Weg wie zuvor, keine Hauptstraßen, durch den Wald. In ein paar Minuten bin ich zu Hause. Ich höre Bernie Kosar schon an der Tür kratzen, als ich die Auffahrt hinaufstürme. Er ist ganz klar aufgeregt, als ob auch er spüre, dass etwas fehlt.
Ich laufe direkt in mein Zimmer, hole das Papier mit der Telefonnummer und Adresse heraus, das Henri mir gegeben hat, und wähle die Nummer. Eine Bandansage antwortet: »Die von Ihnen gewählte Rufnummer ist nicht vergeben.« Ich versuche es noch einmal – die gleiche Antwort.
»Scheiße!«, brülle ich und trete nach einem Stuhl, der durch die Küche ins Wohnzimmer segelt.
Ich gehe in mein Zimmer. Ich gehe hinaus. Ich gehe wieder hinein. Ich starre in den Spiegel. Meine Augen sind rot, Tränen stehen darin, fallen aber nicht heraus. Die Hände zittern. Wut, Zorn und eine schreckliche Angst, Henri könne tot sein, verstören mich. Ich drücke die Augen zu und presse allen Zorn in meine Magengrube. In einem jähen Ausbruch schreie ich, öffne die Augen wieder und halte meine Hände in Richtung Spiegel. Das Glas zerbricht, obwohl ich drei Meter entfernt bin. Ich starre darauf. Der größte Teil des Spiegels klebt noch an der Wand. Was mit Sarahs Kamera geschehen ist, war also kein Zufall.
Ich strecke eine Hand vor und konzentriere mich auf eine der Scherben auf dem Boden, die ich zu bewegen versuche. Ich atme beherrscht, doch all die Angst und Wut bleiben in mir. Wobei – Angst ist ein zu schwaches Wort. Entsetzen, das ist es, was ich spüre.
Nach etwa fünfzehn Sekunden beginnt die Scherbe zu zittern. Zuerst langsam, dann immer schneller. Henri sagte, meistens seien es extreme Gefühle, die ererbte Fähigkeiten auslösen. Das scheint jetzt zu geschehen. Ich versuche die Scherbe zu heben, spüre die Schweißtropfen auf meiner Stirn, konzentriere mich mit allem, was ich habe, und allem, was ich bin, trotz dem, was gerade geschieht. Ich ringe um Luft. Ganz langsam hebt sich die Scherbe. Einen Zentimeter, zwei, fünfzig, einen Meter über der Erde, weiter steigt das Stück Glas, mein ausgestreckter rechter Arm bewegt sich mit, bis es in Augenhöhe ist. Dort halte ich es. Wenn nur Henri das sehen könnte! Und wie ein Blitz fährt die Panik von zuvor durch mein neu entdecktes Glück. Die Scherbe spiegelt die holzgetäfelte Wand und lässt sie alt und morsch aussehen. Holz. Alt und morsch. Und dann reiße ich meine Augen weiter auf als je zuvor.
Der Kasten!
Nur wir beide zusammen können ihn öffnen. Außer ich sollte sterben – dann schaffst du es allein.
Ich lasse augenblicklich die Scherbe fallen, rase in Henris Zimmer und nehme den Kasten vom Boden neben seinem Bett. In der Küche werfe ich ihn unsanft auf den Tisch. Das Schloss in Gestalt des lorienischen Emblems starrt mich an.
Ich setze mich an den Tisch und starre zurück, versuche ruhig zu atmen, fürchte, ein Klicken unter meinem Griff zu spüren. »Bitte geh nicht auf …« Ich greife das Schloss und drücke es mit angehaltenem Atem, schmerzenden Armmuskeln und verschwommener Sicht, so fest ich kann. Warte auf das Klicken.
Kein Klicken.
Ich lasse das Schloss los, falle auf dem Stuhl zurück und halte mir den Kopf. Ein kleiner Hoffnungsschimmer. Auf der Platte zwei Meter entfernt liegt ein schmutziger Löffel. Ich konzentriere mich darauf, fahre mit der Hand über meinen Körper – und der Löffel fliegt. Henri wäre glücklich. Henri, wo bist du? Irgendwo und noch am Leben. Und ich werde kommen und dich holen!
Ich wähle die Nummer von Sam – dem einzigen Freund, neben Sarah, den ich in Paradise gefunden habe, dem einzigen Freund, den ich je hatte.
Er antwortet nach dem zweiten Läuten. »Hallo?«
Ich schließe die Augen, drücke meinen Nasenrücken und hole tief Luft. Das Zittern ist zurück, falls es überhaupt je weg war.
»Hallo?«
»Sam!«
»Hey«, sagt er dann. »Du klingst beschissen. Alles okay?«
»Nein. Du musst mir helfen.«
»Hm? Was ist passiert?«
»Kann deine Mom dich herbringen?«
»Sie ist nicht da. Sie macht Schichtdienst im Krankenhaus, weil sie an Feiertagen doppelt bezahlt wird. Was ist los?«
»Schlimmes. Ich brauche Hilfe.«
Stille. Dann: »Ich komme, so schnell ich kann.«
»Bestimmt?«
»Bis gleich.«
Ich klappe mein Handy zu und lege den Kopf auf die Tischplatte. Athens, Ohio. Dort ist Henri. Irgendwie muss ich dorthin.
Und ich muss schnell hin.