29

»Woher hast du gewusst, dass ich es bin?«, frage ich fassungslos.

Sie blickt zur Tür. »Seit Drei getötet worden ist, habe ich dich gesucht. Aber ich erkläre das alles später. Zuerst müssen wir hier raus.«

»Wie bist du denn ungesehen reingekommen?«

»Ich kann mich unsichtbar machen.«

Ah, das gleiche Erbe, das auch mein Großvater hatte! Die Fähigkeit, auch das, was man berührt, verschwinden zu lassen, wie das Haus an Henris zweitem Arbeitstag.

»Wie weit von hier wohnst du?«, will sie wissen.

»Drei Meilen.«

»Hast du einen Cêpan?«

»Ja, natürlich. Du nicht?«

Sie hält inne, als würde sie aus einem unsichtbaren Wesen Kraft ziehen, bevor sie antwortet: »Ich hatte eine. Sie ist vor drei Jahren gestorben. Seither bin ich allein.«

»Das tut mir leid.«

»Es ist Krieg, das bedeutet Tod. Und falls wir nicht auch sterben wollen, müssen wir hier jetzt raus. Wenn sie in dieser Gegend sind, wissen sie längst, wo ihr wohnt, also sind sie bereits dort, und es ist sinnlos, ein Geheimnis daraus zu machen, wenn wir hier raus sind. Diese Mogadori hier sind nur Scouts. Die Fighter mit ihren Schwertern sind unterwegs, und nicht weit hinter ihnen kommen die Bestien. Wir haben nicht viel Zeit, höchstens einen Tag. Und schlimmstenfalls sind sie schon da.«

Mein erster Gedanke: Sie wissen, wo wir wohnen! Ich gerate in Panik. Henri ist mit Bernie Kosar zu Hause, die Soldaten und die Bestien könnten schon dort sein. Mein zweiter Gedanke: Ihre Cêpan ist seit drei Jahren tot. So lange ist Sechs schon allein auf einem fremden Planeten. Seit sie dreizehn, vierzehn war.

»Henri ist zu Hause. Mein Cêpan.«

»Bestimmt ist ihm nichts passiert. Sie rühren ihn nicht an, solange du frei bist. Dich wollen sie, und ihn werden sie benutzen, um dich herbeizulocken.« Sechs schaut zu dem vergitterten Fenster. Draußen sind zwei Scheinwerfer zu erkennen, die sich um die Kurve der Schule nähern, langsamer werden, dann am Eingang vorbeifahren und schnell wieder verschwinden. Sechs bricht das Schweigen: »Alle Türen sind verschlossen. Wie kommen wir trotzdem hinaus?«

Sarah antwortet: »Wir können durch die Turnhalle raus. Es gibt einen Gang unter der Bühne, der zu einer Art Kellertür hinten an der Schule führt.«

»Fasst an.« Sechs streckt die Hände aus, ich ergreife ihre rechte, Sarah die linke Hand. »Seid so leise wie möglich. An meinen Händen seid ihr beide unsichtbar. Aber hören könnten sie uns. Draußen laufen wir dann so schnell wie möglich. Und: Wir können ihnen nie entfliehen, wir müssen sie töten, jeden Einzelnen, bevor die anderen ankommen.«

»Okay«, sage ich.

»Du weißt, was das bedeutet?«, fragt Sechs.

Ich schüttle den Kopf, denn ich bin mir nicht sicher, was sie meint.

»Du wirst kämpfen müssen.«

Die Geräusche, die ich vorhin gehört habe, verstummen vor der Tür. Stille. Dann wird die Klinke heruntergedrückt. Sechs holt tief Luft und lässt meine Hand los. »Hinausschleichen können wir nicht mehr. Der Kampf hat begonnen.«

Mit vorgestreckten Händen stürzt sie los, die Tür bricht aus den Scharnieren und kracht auf den Gang. Holz splittert, Glas zerspringt.

»Licht!«, schreit sie.

Ich gehorche.

Ein Mogadori steht mitten in den Trümmern.

Er lächelt, Blut sickert aus seinen Mundwinkeln, wo die Tür ihn getroffen hat. Schwarze Augen, blasse Haut, als hätte die Sonne ihn nie berührt. Ein Höhlenbewohner, von den Toten auferstanden.

Er wirft etwas, das ich nicht sehe, Sechs neben mir stöhnt. Ich sehe in seine Augen und ein Schmerz durchfährt mich so sehr, dass ich mich nicht mehr rühren kann.

Es wird dunkel. Traurigkeit. Mein Körper wird steif. Bilder vom Tag der Invasion flimmern vor meinen Augen entlang: der Tod von Frauen und Kindern, meine Großeltern, Tränen, Schreie, Blut, Haufen brennender Leichen.

Sechs bricht den Bann, indem sie den Mogadori in die Luft hebt und gegen die Wand schleudert. Er versucht sich aufzurappeln, doch Sechs hebt ihn erneut; diesmal wirft sie ihn, so fest sie kann, erst an die eine Wand, dann an die andere. Der Scout fällt verdreht und gebrochen zu Boden, seine Brust hebt sich noch einmal, dann bleibt er reglos liegen. Eine oder zwei Sekunden vergehen, bevor der gesamte Körper zu einem Aschehäufchen zerfällt, dabei klingt es, als würde ein Sandsack umfallen.

»Was zum Teufel war das?«, frage ich, verblüfft, wie ein Köper sich so völlig auflösen kann.

Sechs kümmert sich nicht um meine Verwirrung. »Sieh ihnen nicht in die Augen!«, schreit sie.

Jetzt verstehe ich den Redakteur von und was er durchgemacht haben muss, als er ihnen in die Augen geblickt hat. Ob er den Tod dann willkommen geheißen hat, nur um die Bilder loszuwerden, die ständig in seinem Kopf kreisten?

Zwei weitere Scouts kommen vom Ende des Gangs auf uns zu. Dunkelheit umhüllt sie, als würden sie alles um sich herum mit Schwärze vernichten. Sechs steht auf festen Beinen vor mir, das Kinn hochgereckt. Sie ist bestimmt fünf Zentimeter kleiner als ich, aber durch ihre Ausstrahlung wirkt sie mindestens einen Kopf größer. Sarah kauert hinter mir. Beide Mogadori, die Zähne höhnisch gefletscht, bleiben da stehen, wo die Gänge sich kreuzen. Sie atmen tief und keuchend – das war es, was wir vor der Tür gehört haben, ihr rasselnder Atem, nicht ihre Schritte. Sie beobachten uns. Dann ertönt ein neuer Lärm im Gang, dem sich die Mogadori zuwenden. An einer Tür wird gerüttelt, ein Schuss fällt, die Eingangstür der Schule wird aufgetreten. Die Mogadori wirken verblüfft, und als sie fliehen wollen, knallen zwei weitere Schüsse durch den Gang. Beide Scouts werden zurückgeschleudert. Zweierlei Schritte und Hundekrallen sind auf dem Linoleum zu hören. Neben mir spannt Sechs die Muskeln an, sie ist bereit für das, was uns entgegenkommt.

Henri! Es waren die Scheinwerfer seines Trucks, die wir gesehen haben. Er trägt ein doppelläufiges Gewehr, das ich noch nie zuvor gesehen habe. Bernie Kosar neben ihm rast auf mich zu. Ich hebe ihn hoch, er leckt heftig mein Gesicht und ich freue mich so sehr, ihn zu sehen, dass ich fast vergesse, Sechs zu erklären, wer der Mann mit dem Gewehr ist.

»Das ist Henri. Mein Cêpan.«

Henri kommt vorsichtig näher, mit einem aufmerksamen Blick in jedes Klassenzimmer, an dem er vorbeigeht. Hinter ihm folgt … Mark, den lorienischen Kasten unterm Arm. Ich habe nicht die leiseste Ahnung, warum Henri ihn mitgebracht hat. In Henris Augen ist ein wilder Ausdruck, in ihm spiegeln sich Erschöpfung, Angst, Sorge. Ich fürchte das Schlimmste nach meiner Flucht aus dem Haus, vielleicht eine heftige Auseinandersetzung, eine Ohrfeige – aber er schiebt das Gewehr in die linke Hand und umarmt mich, so fest er kann. Ich drücke ihn ebenso an mich. »Tut mir leid, Henri. Ich habe nicht gewusst, dass es so kommen würde.«

»Das ist mir klar. Ich bin einfach nur froh, dass du okay bist«, antwortet er. »Kommt, wir müssen weg von hier! Die ganze verdammte Schule ist umstellt.«

Sarah führt uns in den sichersten Raum, der ihr einfällt: die Hauswirtschaftsküche am Ende des Ganges. Die Tür schließen wir hinter uns ab. Sechs schiebt drei Kühlschränke davor, damit niemand hereinkommen kann, während Henri die Rollos vor den Fenstern herunterlässt. Sarah holt das größte Metzgermesser aus der Schublade, das sie finden kann. Mark nimmt sich ebenfalls ein Messer, dazu einen Hammer zum Fleischschlagen, den er sich in den Hosenbund steckt.

»Alles okay mit euch?«, fragt Henri.

»Ja«, sage ich.

»Bis auf den Dolch in meinem Arm, ja, geht es mir gut«, bestätigt Sechs.

Ich lasse meine Lichter gedämpft auf ihren Arm leuchten – sie macht keine Witze. Ein kleiner Dolch steckt zwischen Bizeps und Schulter. Deshalb hat sie so gestöhnt, bevor sie den Scout getötet hat. Er hat die Waffe nach ihr geworfen! Henri zieht den Dolch mit einer Bewegung aus ihrem Arm. Sie stöhnt wieder.

»Ein Glück, dass es nur ein Dolch ist«, sagt sie zu mir. »Ihre Fighter tragen Schwerter, die in einem anderen Glanz der Stärke erstrahlen.«

Bevor ich genauer fragen kann, was sie damit meint, mischt Henri sich ein. »Nimm das.« Er hält Mark das Gewehr hin, der es ohne Widerrede in die freie Hand nimmt. Wie viel hat Henri ihm wohl erzählt – und warum hat er ihn überhaupt mitgebracht? Jetzt drückt er Sechs ein Tuch auf den Arm, sie hält es fest. Dann stellt er den Kasten auf den nächsten Tisch. »Los, John.«

Ohne Erklärung helfe ich ihm, das Schloss zu öffnen. Henri holt einen flachen Stein heraus, der so dunkel ist wie die Aura der Mogadori. Sechs scheint zu wissen, wozu er gut ist. Sie zieht ihr Shirt aus. Darunter trägt sie einen schwarzgrauen Gummianzug, der dem silberblauen meines Vaters ähnelt, wenn ich mich recht erinnere. Sie streckt Henri den nackten Arm hin und er drückt den Stein auf die Wunde. Sechs beißt die Zähne zusammen, keucht und krümmt sich vor Schmerzen. Auf ihrer Stirn glänzt der Schweiß, ihr Gesicht wird rot, im Nacken treten Sehnen hervor. Henri hält den Stein fast eine Minute lang fest, bevor er ihn wieder löst. Sechs beugt sich vor und holt tief Luft. Der Schnitt an ihrem Arm ist komplett verheilt, nichts ist zu sehen außer ein wenig getrocknetem Blut und einem kleinen Riss im Anzug.

»Was ist das denn?« Ich deute auf das Gesteinsstück.

»Ein heilender Stein«, antwortet Henri.

»Solcher Kram existiert wirklich?!«

»Auf Lorien ja. Aber der Schmerz beim Heilungsprozess ist doppelt so groß wie der ursprüngliche, und der Stein heilt nur, wenn die Verletzung mit dem Ziel zugefügt wurde, dem anderen sehr zu schaden oder ihn gar zu töten. Außerdem muss er sofort angewandt werden.«

»Er hilft also nicht, wenn ich mich aus Versehen geschnitten habe?«, frage ich neugierig.

»Nein. Das ist der ganze Sinn der Vermächtnisse. Verteidigung und Reinheit.«

»Würde er Mark oder Sarah heilen können?«

»Keine Ahnung. Und ich hoffe, wir müssen es nicht herausfinden.«

Sechs steht wieder aufrecht da und betastet ihren Arm. Ihr Gesicht hat wieder eine normale Färbung. Bernie Kosar läuft immer wieder aufgeregt zu den Fenstern, die zu hoch für ihn sind, stellt sich auf die Hinterbeine und knurrt das an, was vermutlich draußen ist.

»Hast du heute mein Handy mitgenommen, als du in der Schule warst?«, frage ich Henri.

»Nein.«

»Es war nicht da, als ich zurückkam.«

»Nun, es hätte sowieso nicht funktioniert. Wir haben keinen Strom mehr, und Signale dringen nicht durch die Art von Abschirmung, die sie eingerichtet haben. Alle Uhren sind stehengeblieben. Selbst die Luft wirkt wie tot.«

»Wir haben nicht mehr viel Zeit«, mahnt Sechs.

Henri nickt, betrachtet sie lächelnd mit einer Mischung aus Erleichterung und Stolz. »Ich erinnere mich an dich.«

»Mir geht es genauso.«

Er streckt die Hand aus und Sechs schüttelt sie. »Es ist beschissen gut, dich wiederzusehen«, sagt er.

»Verdammt gut«, verbessere ich ihn, aber er beachtet mich nicht.

»Ich habe euch Jungs schon seit einiger Zeit gesucht«, sagt Sechs.

»Wo ist Katarina?«, fragt Henri.

Traurig schüttelt sie den Kopf. »Sie hat es nicht geschafft. Vor drei Jahren ist sie gestorben. Seither war ich auf der Suche nach den anderen, euch eingeschlossen.«

»Tut mir leid«, sagt Henri.

Sechs nickt. Dann sieht sie zu Bernie Kosar hinüber, der jetzt wild grollt. Er scheint so gewachsen zu sein, dass er mit der Nasenspitze den unteren Teil des Fensters erreicht. Henri hebt das Gewehr vom Boden auf und geht näher ans Fenster. »John, mach deine Lichter aus!« Ich gehorche. »Und jetzt zieh das Rollo hoch, wenn ich es sage.«

Neben dem Fenster wickle ich mir die Schnur zweimal um die Hand. Ich nicke Henri zu und sehe, dass Sarah die Hände auf die Ohren drückt.

Henri spannt den Hahn und zielt. »Heute ist Zahltag. Jetzt!«

Ich ziehe an der Schnur, das Rollo fliegt hoch. Henri schießt. Der Krach ist betäubend und hallt noch Sekunden später in meinen Ohren nach. Er spannt wieder den Hahn, zielt. Ich schaue hinaus und sehe zwei gefallene Scouts reglos im Gras liegen. Einer wird, wieder mit einem dumpfen Schlag, in Asche verwandelt. Henri schießt zum zweiten Mal auf den anderen, mit dem gleichen Ergebnis. Schatten scheinen um sie zu schwärmen.

»Sechs, bring einen Kühlschrank herüber«, ordnet Henri an.

Sarah und Mark sehen verblüfft zu, wie der Kühlschrank durch die Luft zu uns schwebt und so vor das Fenster dirigiert wird, dass die Mogadori nicht hereinschauen können.

»Besser als nichts.« Henri wendet sich an Sechs. »Wie viel Zeit bleibt uns?«

»Nicht viel. Sie haben einen Außenposten drei Stunden von hier, in einer Berghöhle in West Virginia.«

Henri legt zwei neue Patronenstreifen ein.

»Wie viele Kugeln sind darin?«, frage ich.

»Zehn.«

Sarah und Mark flüstern miteinander. Ich schleiche zu ihnen. »Alles in Ordnung?«

Sarah nickt, Mark zuckt die Achseln, beide wissen nicht wirklich, was sie in dieser entsetzlichen Situation sagen sollen.

Ich küsse Sarah auf die Wange und greife nach ihrer Hand. »Macht euch keine Sorgen«, beruhige ich sie. »Wir kommen hier raus!« Dann wende ich mich an Sechs und Henri: »Warum warten sie tatenlos dort draußen? Warum schlagen sie nicht ein Fenster ein und kommen herein? Sie wissen, dass sie uns zahlenmäßig überlegen sind.«

»Ihr Ziel ist es, uns hier drinnen festzuhalten«, antwortet Sechs. »Uns alle zusammen an einer Stelle. Jetzt warten sie auf die Fighter mit den Waffen, auf die geschickten Killer. Im Moment sind sie verzweifelt, weil sie wissen, dass wir unser Erbe entwickeln. Sie können es sich nicht leisten zu versagen und zu riskieren, dass wir stärker werden. Sie wissen, das einige von uns jetzt ebenfalls kämpfen können.«

»Dann müssen wir hier raus«, sagt Sarah leise, ihre Stimme zittert. Sechs nickt ihr aufmunternd zu.

Und dann fällt mir ein, was ich in der ganzen Aufregung vergessen hatte. »Moment – dass du hier bist, dass wir zusammen sind, das bricht den Zauber. Alle anderen sind jetzt Freiwild. Sie können uns nach Belieben töten!«

Henris entsetztes Gesicht sagt mir, dass auch er nicht daran gedacht hat.

Sechs nickt. »Das musste ich riskieren. Wir können nicht weiter davonlaufen, und ich habe das Warten satt. Wir alle entwickeln uns, wir alle sind bereit, zurückzuschlagen. Lasst uns nicht vergessen, was sie uns an jenem Tag angetan haben. Und ich werde nie aus dem Gedächtnis verlieren, was sie Katarina angetan haben. Alle, die wir kennen, sind tot, unsere Familien, unsere Freunde. Ich denke, sie wollen mit der Erde genauso umgehen wie damals mit Lorien, und sie sind fast bereit dazu. Sich jetzt zurückzulehnen und nichts zu tun würde bedeuten, die gleiche Zerstörung, das gleiche Töten und Vernichten zuzulassen. Warum sollen wir es geschehen lassen? Wenn dieser Planet stirbt, dann sterben wir mit ihm.«

Bernie Kosar bellt immer noch am Fenster. Fast möchte ich ihn hinauslassen und sehen, was er tun kann. Sein Maul schäumt, die Zähne sind gefletscht, das Fell sträubt sich auf dem Rücken: Der Hund ist sichtlich kampfbereit. Und wir übrigen? …

»Nun, du bist jetzt hier«, sagt Henri. »Hoffen wir, dass die anderen nicht in Gefahr sind, dass sie sich wehren können. Ihr beide werdet es sofort wissen, wenn ihnen das nicht gelingt. Was uns angeht, so haben wir den Kampf vor uns. Wir haben ihn nicht gewollt, aber jetzt, wo er da ist, müssen wir uns wehren, mit aller Kraft.«

Er blickt uns an, das Weiß seiner Augen strahlt durch den dunklen Raum. »Ich stimme dir zu, Sechs. Die Zeit ist gekommen.«