8

Henri hat exakt dort geparkt, wo er es angekündigt hatte. Immer noch grinsend steige ich in den Truck.

»Alles gut?«, fragt er.

»Allerdings. Ich habe mein Handy wieder.«

»Keine Schlägerei?«

»Nichts Größeres.«

Er sieht mich misstrauisch an. »Will ich etwa wissen, was das heißt?«

»Wahrscheinlich nicht.«

»Sind deine Hände auffällig geworden?«

»Nein«, lüge ich. »Wie war dein Tag?«

Er fährt die Auffahrt zur Schule hinunter. »Gut. Ich bin in nur anderthalb Stunden nach Columbus gefahren, nachdem ich dich abgesetzt habe.«

»Warum nach Columbus?«

»Dort gibt es große Banken. Ich will nicht dadurch auffallen, dass ich mehr Geld transferiere, als auf den Konten der gesamten Stadt liegt.«

Ich nicke. »Klug von dir.«

Er biegt auf die Straße. »Verrätst du mir ihren Namen?«

»Hm?«

»Es muss doch irgendeinen Grund für dein lächerlich festgetackertes Grinsen geben! Der naheliegendste ist ein Mädchen.«

»Woher willst du das wissen?«

»Mein lieber John, auf Lorien war dieser alte Cêpan hier ein richtiger Frauenschwarm.«

»Echt jetzt?! So was wie Frauenschwärme gab es doch gar nicht auf Lorien.«

Er nickt zustimmend. »Gut aufgepasst!«

Die Loriener sind monogam. Wenn wir uns verlieben, dann fürs ganze Leben. Ehen werden etwa mit Mitte zwanzig geschlossen. Mit dem Gesetz haben sie nichts zu tun; mehr mit Versprechen und Verbindlichkeit. Henri war fünfundzwanzig Jahre verheiratet, bevor er mit mir wegging. Zehn Jahre sind seitdem vergangen, aber ich weiß, dass ihm seine Frau immer noch an jedem einzelnen Tag fehlt.

»Also, wer ist es?«, fragt er.

»Sie heißt Sarah Hart und ist die Tochter der Immobilienmaklerin, von der du das Haus gemietet hast. Wir haben zwei Fächer gemeinsam. Sie ist ein Junior, also eine Klasse höher als ich.«

Er nickt. »Hübsch?«

»Absolut! Und klug.«

»Ja … damit habe ich schon lange gerechnet«, sagt er langsam. »Bitte denk dran, dass wir unter Umständen sofort abreisen müssen.«

»Ich weiß.«

Den Rest des Heimwegs schweigen wir.

***

Der lorienische Kasten steht auf dem Küchentisch. Er ist in etwa so groß wie eine Mikrowelle und fast vollkommen quadratisch. Aufgeregt laufe ich hin und betaste das Schloss.

»Ich glaube, wie man das aufschließt, interessiert mich sogar noch mehr als der Inhalt«, sage ich.

»Wirklich? Nun, ich kann dir zeigen, wie man es öffnet, dann können wir es wieder zuschließen und den Inhalt vergessen.«

Ich grinse. »Lass uns nichts überstürzen! Also – was ist darin?«

»Es ist dein Vermächtnis.«

»Was soll das heißen, mein Vermächtnis

»Jedem Angehörigen der Garde wird es bei der Geburt mit auf den Weg gegeben, damit er oder sein Cêpan es nutzen können, wenn er sein Erbe antritt. Das gilt natürlich ebenso für die weiblichen Gardisten.«

Ich nicke amüsiert. »Also, was ist darin?«

»Dein Vermächtnis.« Diese Antwort enttäuscht mich. Ich versuche, das Schloss mit Gewalt zu öffnen, wie schon so oft. Natürlich rührt sich nichts.

»Ohne mich kannst du es nicht öffnen, und ich nicht ohne dich«, sagt Henri.

»Großartig, und wie machen wir das? Da ist kein Schlüsselloch.«

»Durch unseren Willen.«

»Oh, komm schon, Henri, hör auf, so geheimnisvoll zu tun.«

Er nimmt mir das Schloss ab. »Dieses Schloss öffnet sich nur, wenn wir zusammen sind, und erst, nachdem sich dein erstes Erbe gezeigt hat.«

Er geht zur Haustür, streckt prüfend den Kopf hinaus, dann schließt und verriegelt er sie und kommt zurück. »Jetzt lege die Handfläche an die Seite des Schlosses.«

Ich gehorche. »Es ist warm.«

»Gut. Das bedeutet, dass du bereit bist.«

»Und jetzt?«

Er drückt seine Handfläche gegen die andere Seite des Schlosses und verschränkt seine Finger mit meinen. Eine Sekunde vergeht – dann schnappt das Schloss auf.

»Wahnsinn!«

»Ein lorienischer Zauber schützt den Kasten, genau wie dich. Er ist unzerstörbar. Du könntest ihn mit einer Dampfwalze überfahren und er hätte noch nicht einmal eine Beule. Nur wir beide zusammen können ihn öffnen. Außer ich sollte sterben – dann schaffst du es allein.«

»Ähm, ich hoffe, dazu kommt es nicht.«

Ich will gerade den Deckel heben, doch Henri hält mich zurück. »Noch nicht. Es sind Dinge darin, die du noch nicht sehen sollst. Setz dich aufs Sofa.«

»Henri, bitte!«

»Vertrau mir einfach«, sagt er.

Kopfschüttelnd setze ich mich. Er öffnet den Kasten und holt einen Stein heraus, der etwa fünfzehn Zentimeter lang und fünf Zentimeter dick sein dürfte. Dann verschließt er den Kasten und bringt mir den Stein. Er ist vollkommen glatt und rechteckig, außen durchsichtig, in der Mitte trüb.

»Was ist das?«

»Ein lorienischer Kristall.«

»Wozu braucht man ihn?«

»Halte ihn.«

Sowie meine Hände den Stein berühren, leuchten die Handflächen; sie sind noch heller als gestern. Ich spüre, wie der Stein sich erwärmt. Ich halte ihn hoch und betrachte ihn genauer. Die trübe Masse in seiner Mitte wirbelt, sie dreht sich um sich selbst wie eine Welle. Ich spüre, wie sich auch der Anhänger an meinem Hals leicht erhitzt. Wie aufregend! Mein ganzes bisheriges Leben lang habe ich ungeduldig auf meine neuen Kräfte gewartet. Sicher, es gab Zeiten, in denen ich hoffte, sie würden nie kommen, damit wir endlich irgendwo sesshaft werden und ein normales Leben führen könnten, aber jetzt – einen Kristall in den Händen zu halten, in dessen Innern sich so etwas wie ein Rauchball befindet, zu wissen, dass meine Hände feuer- und hitzebeständig sind und dass mindestens zwei weitere, nicht so bedeutende Fähigkeiten sich entwickeln, denen meine wichtigste folgen wird (die Kraft, die mich zum Kämpfen befähigt) – das alles ist schon ziemlich cool und aufregend. Ich bekomme das Grinsen nicht mehr aus dem Gesicht.

»Was passiert damit?«

»Er ist mit deinem Erbe verbunden. Deine Berührung aktiviert den Stein. Wenn du kein Lumen entwickelt hättest, würde der Kristall strahlen wie jetzt deine Hände. Stattdessen ist es umgekehrt.«

Ich betrachte den Kristall, in dem der Rauch wirbelt und leuchtet.

»Sollen wir anfangen?«, fragt Henri.

Ich nicke heftig. »Zur Hölle, aber sofort!«

***

Es ist kalt geworden. Im Haus ist es still, nur ein gelegentlicher Windstoß lässt die Fenster klappern. Ich liege mit dem Rücken auf dem Holztisch. Meine Hände hängen an den Seiten herunter. Irgendwann wird Henri unter beiden ein Feuer entzünden. Ich atme langsam und regelmäßig, wie Henri es mir geraten hat.

»Du musst die Augen geschlossen halten. Horch nur auf den Wind. Vielleicht spürst du ein leichtes Brennen in den Armen, wenn ich mit dem Kristall an ihnen entlangfahre. Achte nicht darauf.«

Draußen fahren die Windstöße durch die Bäume. Fast spüre ich, wie die Äste schwanken und sich beugen. Henri beginnt mit meiner rechten Hand. Er drückt den Kristall gegen ihren Rücken, schiebt ihn zum Handgelenk und auf den Unterarm. Dort brennt es, wie er vorausgesagt hat, aber nicht so sehr, dass ich den Arm wegziehen möchte.

»Lass deine Gedanken wandern, John. Geh, wohin du gehen musst.«

Ich habe keinen blassen Schimmer, was er damit meint, aber ich versuche, den Kopf freizubekommen, und atme noch kontrollierter. Plötzlich treibe ich davon. Von irgendwoher spüre ich Sonnenstrahlen auf meinem Gesicht und einen Wind, der viel wärmer bläst als der außerhalb unserer Wände. Als ich die Augen öffne, bin ich nicht mehr in Ohio.

Ich befinde mich über unzähligen Baumwipfeln, nichts als Dschungel, so weit ich sehen kann. Blauer Himmel, eine heiße Sonne, die fast doppelt so groß ist wie die Erde. Eine warme Brise fährt mir durchs Haar. Unter mir graben Flüsse tiefe Schluchten durch das Grün. Ich schwebe über einer von ihnen. Tiere in allen Formen und Größen – manche lang und schlank, manche mit kurzen Armen und gedrungenem Körper, einige mit Haar, andere mit dunkler, rauer Haut – trinken am Flussufer. Am Horizont erkenne ich eine gebogene Linie und weiß, dass ich auf Lorien bin. Der Planet ist zehnmal kleiner als die Erde, sodass man die Biegung seiner Oberfläche sehen kann, wenn man die Horizontlinie aus weiter Ferne betrachtet.

Ich weiß nicht, wieso, aber ich kann fliegen. Ich steige hoch und drehe mich in der Luft, dann stoße ich herab und rase am Fluss entlang. Die Tiere heben die Köpfe und schauen mir neugierig, aber nicht ängstlich zu. Lorien steht in voller Blüte, der Planet wimmelt vor Flora und Fauna. Es sieht aus wie in meiner Vorstellung die Erde vor Millionen von Jahren, als das Land bestimmte, wie seine Kreaturen zu leben haben, lange bevor der Mensch kam und das Zepter übernahm. Lorien in seinen besten Jahren. Ich weiß, dass es heute nicht mehr so aussieht. Ich muss in einer Erinnerung sein – doch sicher nicht in meiner eigenen?! Und dann gleitet der Tag in die Dunkelheit. In der Ferne beginnt ein großes Feuerwerk, Raketen steigen hoch in den Himmel und explodieren zu Tier- und Baumgestalten; der dunkle Himmel, die Monde und eine Million Sterne bilden den glänzenden Hintergrund.

»Ich kann ihre Verzweiflung spüren«, höre ich von irgendwoher. Ich sehe mich um, da ist niemand. »Sie wissen, wo eine von den anderen ist, doch der Zauber besteht noch. Sie können sie nicht berühren, bevor sie dich getötet haben. Doch sie verfolgen sie weiter.«

Ich fliege hoch, sinke wieder herab und versuche herauszufinden, woher diese Stimme kommt.

»Jetzt müssen wir so wachsam wie nur möglich sein. Jetzt müssen wir ihnen voraus bleiben.«

Ich nähere mich dem Feuerwerk. Die Stimme irritiert mich. Vielleicht werden die lauten Detonationen sie übertönen.

»Sie hatten uns alle töten wollen, bevor sich euer Erbe entwickelt hat. Aber wir hielten uns im Verborgenen. Wir müssen ruhig bleiben. Die ersten drei sind in Panik geraten. Die ersten drei sind tot. Wir müssen klug und besonnen sein. Wenn wir lähmende Angst bekommen, machen wir Fehler. Sie wissen, dass es um so schwieriger für sie wird, je weiter ihr übrigen euch entfaltet. Und wenn ihr komplett entwickelt seid, wird es zum Krieg kommen. Wir werden zurückschlagen und uns rächen – und sie wissen es.«

Ich sehe, wie die Bomben auf Lorien fallen. Explosionen erschüttern Boden und Luft, der Wind trägt Schreie zu mir herüber, Feuer fegen über das Land und die Bäume. Der Wald brennt.

Es müssen Tausende verschiedener Flugzeuge sein, die aus großer Höhe herabstoßen, um auf Lorien zu landen. Mogadori-Soldaten strömen heraus; sie tragen Gewehre und Granaten von wesentlich größerer Zerstörungskraft als die Waffen, die hier bei der Kriegsführung angewendet werden. Diese Soldaten sind größer als wir, ähneln uns dennoch. Bis auf das Gesicht. Ihre Augen haben keine Pupillen und die Iris ist tief magentarot, bei manchen schwarz. Dunkle, dicke Kreise umrahmen die Augen, die Haut ist bleich – sie wirkt fast entfärbt, verletzt. Die Zähne glänzen zwischen Lippen, die sich nie zu schließen scheinen, Zähne mit unnatürlichen Spitzen, als wären sie gefeilt.

Die Bestien von Mogador strömen dicht hinter ihnen aus den Flugzeugen, sie haben den gleichen kalten Blick wie die Soldaten. Einige sind haushoch, zeigen ihre messerscharfen Zähne und brüllen so laut, dass es mich in den Ohren schmerzt. »Wir sind leichtsinnig geworden, John. Deshalb sind wir so leicht zu besiegen.« Ich weiß jetzt, dass es Henris Stimme ist, die ich höre, aber er ist nirgendwo zu sehen, und ich kann ihn nicht suchen, weil es mir nicht gelingt, den Blick von dem Morden und der Zerstörung unter mir zu lösen. Überall rennen Wesen hin und her, überall wird gekämpft. Ebenso viele Mogadori wie Loriener werden getötet. Schließlich verlieren die Loriener die Schlacht gegen die Bestien, die Feuer ausstoßen, mit ihren großen Kiefern mahlen, böse mit Armen und Schwänzen um sich schlagen und Dutzende unserer Leute auf einmal töten. Die Zeit rast, viel schneller als üblich. Wie viel ist vergangen? Eine Stunde? Zwei?

Die Garde führt unter Einsatz ihres Erbes den Kampf an. Manche Gardisten fliegen, andere laufen so schnell, dass man sie nur verschwommen wahrnehmen kann, wieder andere verschwinden völlig. Laserstrahlen schießen aus Händen, Körper werden von Flammen umhüllt, Gewitterwolken und raue Winde sammeln sich über denen, die das Wetter kontrollieren können. Dennoch verlieren sie. Auf einen Gardisten kommen fünfhundert Mogadori. Ihre Kräfte reichen nicht aus.

»Unsere Garde ist gefallen. Die Mogadori waren gut vorbereitet; sie haben genau den Moment gewählt, in dem wir wegen der Abwesenheit unserer Ältesten am verletzlichsten waren. Pittacus Lore, der Wichtigste der Ältesten, ihr Anführer, hatte sie vor dem Angriff zusammengerufen. Niemand weiß, was mit ihnen geschehen ist, wohin sie gingen oder ob sie überhaupt noch am Leben sind. Vielleicht haben die Mogadori sie vor dem Angriff gefangen genommen. Wir wissen nur, dass an dem Tag, an dem die Ältesten sich versammelten, eine Säule aus schimmerndem weißem Licht unendlich hoch in die Luft aufstieg. Sie stand den ganzen Tag am Horizont, dann verschwand sie so plötzlich, wie sie gekommen war. Wir, das Volk, hätten darin ein Zeichen erkennen sollen für etwas, das fehlte. Aber wir bemerkten nichts. Wir sind selbst verantwortlich für das, was geschah. Es war pures Glück, dass einige den Planeten verlassen konnten, noch dazu neun junge Gardisten, die eines Tages den Kampf fortsetzen und unsere Rasse am Leben erhalten können.«

In der Ferne schießt mit einem blauen Rauchstrahl ein Raumschiff pfeilschnell in die Luft. Von meinem Aussichtspunkt beobachte ich es, bis es verschwunden ist. Es kommt mir bekannt vor. Und dann dämmert es mir: Ich befinde mich darauf, Henri ebenfalls. Es ist das Raumschiff, das uns zur Erde trägt. Die Loriener müssen gewusst haben, dass sie besiegt waren. Warum hätten sie uns sonst weggeschickt?

Sinnloses Gemetzel. So erscheint es mir zumindest. Ich lande auf dem Boden und laufe durch einen Feuerball. Zorn packt mich. Männer und Frauen sterben. Gardisten und Cêpan, dazu hilflose Kinder. Wie kann das zugelassen werden? Wie können die Herzen der Mogadori so verhärtet sein, dass sie solche Schlachten führen? Und warum bin ich verschont geblieben?

Ich stürze mich auf einen Soldaten, dringe aber direkt durch ihn hindurch und falle. Natürlich ist alles, was ich sehe, schon geschehen. Ich bin ein Zuschauer unserer Vernichtung; es gibt nichts, was ich tun kann.

Ich drehe mich um – und stehe einer Bestie gegenüber, zwölf Meter hoch, breitschultrig, mit roten Augen und sechs Meter langen Hörnern. Speichel tropft von den langen, scharfen Zähnen. Das Monster stößt ein Gebrüll aus, dann geht es auf mich los.

Natürlich läuft es durch mich hindurch, greift sich aber Dutzende Loriener rundum. Sofort sind sie verschwunden. Und die Bestie hört nicht auf, sie fasst immer mehr Loriener.

Plötzlich vernehme ich ein kratzendes Geräusch, das mit dem Blutbad auf Lorien nichts zu tun hat. Ich treibe davon oder gleite zurück.

Zwei Hände drücken auf meine Schultern. Ich reiße die Augen auf – und bin wieder in unserem Haus in Ohio. Meine Arme hängen über den Holztisch. Nur Zentimeter unter ihnen stehen zwei Kessel mit Feuer, und meine Hände und Knöchel sind komplett in die Flammen getaucht. Die Hitze spüre ich überhaupt nicht. Henri beugt sich über mich. Das Kratzen, das ich gehört habe, kommt von der Haustür.

»Was ist das?«, flüstere ich.

»Ich weiß es nicht.«

Wir lauschen angestrengt. Drei weitere Kratzer an der Tür. Henri sieht auf mich herunter. »Da draußen ist jemand.«

Ich schaue auf die Uhr an der Wand. Fast eine Stunde ist vergangen. Ich schwitze, bin außer Atem und aufgewühlt von den Schlachtszenen, deren Zeuge ich soeben war. Zum ersten Mal in meinem Leben verstehe ich wirklich, was auf Lorien geschehen ist. Zuvor waren die Ereignisse nur Teil einer anderen Geschichte, die sich nicht sonderlich von den vielen unterschied, die ich in Büchern gelesen hatte. Aber jetzt habe ich das Blut gesehen, die Tränen, die Toten. Ich habe die Vernichtung gesehen. Das alles ist ein Teil von mir.

Draußen ist es dunkel geworden. Wieder weitere Kratzer an der Tür, ein tiefes Grollen. Wir zucken beide zusammen. Ich denke sofort an das Knurren der Bestien.

Henri läuft in die Küche und schnappt sich ein Messer aus der Schublade neben der Spüle. »Versteck dich hinter dem Sofa.«

»Wieso, warum?«

»Weil ich es sage.«

»Glaubst du, dieses kleine Messer bringt einen Mogadori um?«

»Wenn ich es ihm ins Herz stoße, schon. Hinter das Sofa!«

Ich gehorche. In den beiden Kesseln brennt noch das Feuer, blasse Visionen von Lorien spuken wieder und wieder durch meinen Kopf. Nun kann man ein ungeduldiges Jaulen von der anderen Seite der Tür hören. Zweifellos ist jemand oder etwas dort draußen. Mein Herz rast.

»Bleib unten!«, zischt Henri.

Ich hebe den Kopf, damit ich über den Sofarücken schauen kann. Das viele Blut, denke ich. Bestimmt waren sie unterlegen. Aber sie haben gekämpft bis zuletzt, sind gestorben, um andere zu retten, gestorben für Lorien.

Henri, das Messer fest in der Hand, greift langsam nach dem Messingknopf. Zorn durchfährt mich. Hoffentlich ist es wirklich einer von ihnen! Soll doch ein Mogadori durch diese Tür kommen! Er wird auf einen ebenbürtigen Gegner stoßen.

Um nichts in der Welt kann ich hinter diesem Sofa hocken bleiben. Ich greife hinüber und fasse einen der Kessel, stecke die Hand hinein und hole ein brennendes, spitzes Stück Holz heraus. Das Feuer umlodert meine Hand. Ich halte das Holz wie einen Degen. Lass sie nur kommen!, denke ich. Kein Flüchten mehr. Henri sieht kurz zu mir herüber und holt tief Luft, dann reißt er die Tür auf.