30

Wind bläst durch das geöffnete Fenster in den Hauswirtschaftsraum, der Kühlschrank davor hält die kalte Luft kaum zurück. In der Schule ist es sowieso schon frostig, weil die elektrische Heizung ausgefallen ist. Sechs trägt jetzt nur noch den Gummianzug, der komplett schwarz ist bis auf ein graues Band, das sich diagonal über die Vorderseite zieht. Sie steht in perfekter Haltung und mit solchem Selbstvertrauen mitten in unserer Gruppe, dass ich wünsche, ich hätte auch einen lorienischen Anzug. Gerade will sie etwas sagen, aber ein lauter Knall draußen kommt ihr zuvor. Wir stürzen alle zum Fenster, können aber nicht sehen, was draußen passiert. Dem Krach folgen mehrere laute Schläge und ein Reißen und Knirschen – etwas wird zerstört.

»Was ist passiert?«, frage ich.

»Dein Licht!«, ruft Henri über die Vernichtungsgeräusche.

Ich gehorche und leuchte durch den Hof draußen. Nach etwa drei Metern wird der helle Schein allerdings von der Dunkelheit geschluckt. Henri tritt zurück und horcht mit höchster Konzentration, dann nickt er resigniert.

»Sie zerstören alle Autos draußen, auch meinen Truck. Wenn wir das überstehen und aus der Schule herauskommen, muss es zu Fuß weitergehen.«

Mark und Sarah sehen entsetzt aus.

»Wir dürfen keine Zeit mehr vergeuden«, sagt Sechs. »Strategisch richtig oder nicht, wir müssen raus, bevor die Fighter und Bestien da sind.« Sie nickt Sarah zu. »Sie hat gesagt, durch die Turnhalle können wir hinaus. Es ist unsere einzige Hoffnung.«

»Ihr Name ist Sarah«, sage ich. Das Drängen in ihrer Stimme macht mich nervös. Sie wirkt so ruhig, gelassen, selbst bei dem ganzen Terror, den wir bisher erfahren haben. Bernie Kosar ist wieder an der Tür, kratzt an den Kühlschränken, die sie versperren, knurrt und jault ungeduldig. Weil ich leuchte, kann Sechs ihn zum ersten Mal betrachten. Sie starrt ihn an, kneift die Augen zusammen, geht zu ihm und streichelt ihn. Ich sehe sie an – ich finde es ziemlich unpassend, dass sie grinst.

»Was?«, frage ich genervt.

»Wisst ihr nicht Bescheid?«, fragt sie.

»Was soll das heißen, wissen wir nicht Bescheid?!«

Ihr Grinsen wird breiter. Bernie rast immer noch zwischen ihr und dem Fenster hin und her, kratzt, jault, grollt, bellt frustriert. Die gesamte Schule ist vom sicheren Tod umgeben – und Sechs grinst weiter.

»Euer Hund«, sagt sie. »Ihr wisst wirklich nicht, was los ist?«

»Nein«, antwortet Henri. Ich blicke ihn an. Er schüttelt den Kopf.

»Ja, was denn, zum Teufel?!«, frage ich. »Was ist los?«

Sechs blickt erst mich an, dann Henri. Sie stößt ein Lachen aus und will gerade antworten, als etwas anderes ihre Aufmerksamkeit erregt. Sie läuft zurück ans Fenster. Wir folgen ihr und erkennen, dass sich Scheinwerfer nähern und auf den Parkplatz einbiegen. Ein weiterer Wagen.

Ich schließe die Augen und hole tief Luft. »Das muss nichts bedeuten.«

»Licht aus«, sagt Henri zu mir.

Ich gehorche und balle die Fäuste. Irgendetwas an dem Wagen draußen regt mich unheimlich auf. Zur Hölle mit der Anstrengung, zur Hölle mit dem Zittern, das mich seit dem Sprung aus dem Fenster des Direktors begleitet! Es ist nicht mehr auszuhalten, hier gefangen zu sein, zu wissen, dass die Mogadori draußen warten und unseren Tod planen. Dieser Wagen könnte die ersten Fighter bringen. Aber gerade, als ich das denke, weichen die Scheinwerfer zurück und der Wagen braust auf der gleichen Straße davon, auf der er gekommen ist.

»Wir müssen aus dieser verdammten Schule raus«, sagt Henri.

***

Henri sitzt auf einem Stuhl drei Meter von der Tür entfernt, auf die er mit seinem Gewehr zielt. Er atmet langsam, ist aber angespannt. Niemand sagt ein Wort. Sechs hat sich unsichtbar gemacht und ist hinausgeschlüpft, sie will die Lage erkunden. Wir warten einfach nur – und dann kommt das erwartete Signal, dreifaches schwaches Klopfen an der Tür. Henri senkt das Gewehr, Sechs kommt herein, danach schiebe ich einen der Kühlschränke wieder vor die Tür. Zehn Minuten war sie weg.

»Du hattest recht«, sagt sie zu Henri. »Sie haben jeden Wagen auf dem Platz zerstört und mit den Trümmern alle Türen versperrt. Und Sarah hat ebenfalls recht: Den Bühnenausgang haben sie übersehen. Draußen habe ich sieben Scouts gezählt, fünf patrouillieren im Gebäude die Gänge. Einer war vor dieser Tür, ist aber mittlerweile entsorgt. Sie scheinen nervös zu werden. Ich glaube, das bedeutet, die anderen sollten schon da sein. Das wiederum bedeutet: Weit sind sie bestimmt nicht.«

Henri steht auf, nimmt den Kasten und nickt mir zu. Ich helfe ihm beim Öffnen. Er holt ein paar kleine runde Kiesel heraus und stopft sie in seine Tasche. Ich habe keine Ahnung, wofür die sind. Dann schließt und verriegelt er den Kasten, schiebt ihn in einen der Backöfen und macht die Tür zu. Ich befördere einen Kühlschrank vor diesen Herd, damit der Backofen nicht geöffnet wird. Wir haben keine andere Wahl: Der Kasten ist schwer, und wer ihn trägt, kann nicht kämpfen.

»Ich lasse ihn nur sehr ungern zurück«, sagt Henri kopfschüttelnd. Sechs nickt befangen. Der Gedanke, der Kasten könnte den Mogadori in die Hände fallen, entsetzt beide.

»Hier wird ihm nichts passieren«, sage ich.

Henri sieht Sarah und Mark an. »Das ist nicht euer Kampf. Ich weiß nicht, was uns draußen erwartet, aber wenn es schlimm aussieht, lauft ihr zurück und versteckt euch hier. Sie verfolgen ja nicht euch, und ich glaube nicht, dass sie die Schule durchsuchen, wenn sie uns schon haben.«

Sarah und Mark sehen sehr ängstlich aus, mit weißen Knöcheln umkrampfen sie ihre Messer. Mark hat alles in seinen Gürtel gesteckt, was ihm in den Küchenschubladen nützlich vorkam: weitere Messer, zwei Scheren, den Fleischklopfer und eine Käsereibe.

»Aus dem Zimmer gehen wir nach links, am Ende des Gangs etwa sechs Meter nach rechts, die Turnhalle liegt hinter Doppeltüren«, sage ich zu Henri.

»Die Luke ist genau in der Mitte der Bühne«, sagt Sechs. »Sie ist mit einer blauen Matte verdeckt. In der Turnhalle waren vorhin keine Scouts, aber das muss nicht heißen, dass sie auch jetzt nicht da sind.«

»Wir gehen also einfach hinaus und versuchen ihnen davonzulaufen?«, fragt Sarah voller Panik. Sie atmet schwer.

»Es ist unsere einzige Chance«, sagt Henri ruhig.

Ich greife nach ihrer Hand. Sie zittert heftig.

»Es wird alles gut gehen«, versuche ich sie zu beruhigen.

»Woher weißt du das?« Das klingt eher anklagend als fragend.

»Ich weiß es nicht«, sage ich.

Sechs schiebt den Kühlschrank von der Tür. Sofort kratzt Bernie Kosar daran, knurrt wieder und will hinaus.

»Ich kann nicht euch alle unsichtbar machen«, sagt Sechs. »Wenn ihr mich nicht seht, bin ich trotzdem in der Nähe.«

Sechs fasst nach der Türklinke, und Sarah neben mir holt tief Luft, wobei sie meine Hand umklammert. Das Messer in ihrer Rechten zittert.

»Bleib dicht bei mir«, flüstere ich.

»Ich weiche nicht von deiner Seite.«

Die Tür schwingt auf und Sechs springt in den Gang, Henri dicht hinter sich. Ich folge und Bernie Kosar rast wie ein Ball aus Zorn voraus. Henri deutet mit dem Gewehr nach einer Seite, dann nach der anderen. Der Gang ist leer. Bernie Kosar ist schon an der Kreuzung und verschwindet. Sechs folgt ihm, wird unsichtbar, und der Rest von uns läuft mit Henri an der Spitze zur Turnhalle. Ich lasse Mark und Sarah vor mir laufen. Keiner von uns kann etwas sehen, nur die Schritte der anderen hören, also leuchte ich mit den Händen. Und das ist mein erster Fehler.

Eine Zimmertür rechts von mir wird aufgerissen. Alles geschieht im Bruchteil einer Sekunde und bevor ich reagieren kann, werde ich von etwas Schwerem an der Schulter getroffen. Meine Lichter gehen aus. Ich krache voll in ein Vitrinenglas, schneide mich oben am Kopf, sofort läuft mir das Blut übers Gesicht. Sarah schreit. Wieder trifft mich ein dumpfer Schlag, jetzt in die Rippen, und nimmt mir die Luft.

»Licht an!«, bellt Henri. Ich gehorche. Ein Scout mit einer zwei Meter langen Holzkeule steht über mir. Er hebt sie hoch und will wieder zuschlagen, doch Henri, sechs Meter entfernt, schießt zuerst. Der Kopf des Scouts wird zerfetzt und verschwindet. Sein Körper verwandelt sich in Asche, noch bevor er zu Boden fällt.

Henri senkt das Gewehr. »Scheiße«, murmelt er, als er das Blut sieht. Er macht einen Schritt auf mich zu, in dem Moment sehe ich aus den Augenwinkeln einen weiteren Scout an der gleichen Stelle, der einen Vorschlaghammer über den Kopf hebt. Er senkt ihn, und mit Telekinese werfe ich den erstbesten Gegenstand auf ihn, ohne zu wissen, was es ist. Etwas Goldenes saust durch die Luft und trifft den Scout so heftig, dass sein Schädel knackt und er zu Boden fällt. Henri, Mark und Sarah rennen zu ihm, und Henri tötet ihn mit Sarahs Messer. Dann gibt er es Sarah zurück. Sie hält es zwischen Daumen und Zeigefinger am ausgestreckten Arm wie fremde schmutzige Unterwäsche. Mark hebt das in drei Stücke zerbrochene Ding auf, das ich geworfen habe.

»Es ist mein letzter Siegespokal«, sagt er – und muss dann doch kichern. »Vor einem Monat habe ich ihn gewonnen.«

Ich stehe auf. Es war die Preisvitrine, in die ich hineingekracht bin.

»Geht’s?«, fragt Henri.

»Ja. Nichts wie raus.«

Wir rennen in die Turnhalle und springen auf die Bühne. Ich leuchte, und wir sehen, wie sich die blaue Matte wegschiebt und der Riegel hochrutscht.

Erst dann macht sich Sechs wieder sichtbar. »Was war los?«, fragt sie mit Blick auf mein Gesicht.

»Wir hatten ein bisschen Ärger.« Henri steigt als Erster die Leiter hinunter, um zu sehen, ob die Luft rein ist. Sarah und Mark folgen.

»Wo ist der Hund?«, frage ich.

Sechs schüttelt den Kopf.

»Geh nur«, sage ich. Sie steigt hinunter. Jetzt bin ich allein auf der Bühne und pfeife laut. Ich weiß sehr wohl, dass ich mich dadurch verrate. Aber ich warte.

»Komm schon, John«, ruft Henri von unten.

Ich krieche in die Luke, meine Füße sind schon auf der Leiter, doch von der Hüfte aufwärts bin ich noch auf der Bühne. »Mach schon«, sage ich zu mir selbst. »Wo steckst du?« Aber gerade bevor mir keine andere Wahl mehr bleibt, zeigt sich Bernie Kosar auf der anderen Seite der Turnhalle und rast mit angelegten Ohren auf mich zu. Ich lächle.

»Los jetzt!«, schreit Henri.

»Eine Sekunde«, rufe ich zurück. Bernie Kosar springt mir in die Arme.

»Hier!« Ich reiche Sechs den Hund, springe hinunter, schließe die Luke und leuchte so hell wie möglich.

Die Wände und der Boden bestehen aus Beton und riechen schimmelig. Wir müssen gebückt gehen, Sechs voran. Der Gang ist etwa dreißig Meter lang, und ich kann mir nicht vorstellen, welchen Sinn er einmal gehabt haben mag. Am Ende führen ein paar Stufen zu einer Doppeltür aus Metall, der Kellertür. Sechs wartet, bis alle da sind.

»Wo kommen wir heraus?«, frage ich.

»Hinter dem Lehrerparkplatz«, sagt Sarah. »Nicht weit vom Footballfeld.«

Sechs drückt das Ohr in den schmalen Spalt zwischen den Türflügeln. Auf allen Gesichtern sind Schweiß, Staub und auch Angst zu sehen. Sechs blickt Henri an und nickt. Ich lösche mein Licht.

»Also los«, flüstert Sechs und wird unsichtbar. Sie öffnet die Tür nur weit genug, um den Kopf hinausstrecken und sich umschauen zu können. Wir warten mit angehaltenem Atem und horchen. Schließlich schiebt sie die Tür ganz auf, und wir laufen hintereinander hinaus.

Alles ist dunkel und still, kein Wind, die Bäume rechts stehen reglos da. Ich sehe die Autowracks vor den Türen der Schule. Keine Sterne, kein Mond, überhaupt kein Himmel, fast als bewegten wir uns in einer Blase aus Finsternis, in der nur Schatten vorhanden sind. Bernie Kosar fängt an zu knurren, zuerst leise, dann wilder und drohender, und ich weiß, dass er dort draußen Feindseliges spürt. Ich schiebe mich vor Sarah und würde gern leuchten, aber das würde uns noch schneller als Hundeknurren verraten. Plötzlich rennt Bernie Kosar hinaus.

Nach etwa zehn Metern springt er durch die Luft und verbeißt sich in einem der ungesehenen Scouts, der sich aus dem Nichts materialisiert, als wenn der Zauber der Unsichtbarkeit gebrochen worden wäre. Jetzt können wir sie alle sehen, mindestens zwanzig Mogadori, die uns umzingeln und langsam näher kommen.

»Das war eine Falle!«, ruft Henri, feuert zweimal, und zwei Scouts fallen sofort.

»Zurück in den Gang!«, schreie ich Mark und Sarah zu.

Ein Scout will sich auf mich stürzen. Ich hebe ihn in die Luft und schleudere ihn sechs Meter weit gegen eine Eiche. Dumpf fällt er zu Boden, steht schnell wieder auf und wirft einen Dolch auf mich. Ich lenke die Waffe um, hebe den Scout erneut hoch und werfe ihn wieder, diesmal noch fester. Am Boden des Stamms zerstäubt er zu Asche. Henri schießt erneut, die Schüsse hallen durch die Nacht. Zwei Hände packen mich von hinten. Ich lenke sie fast um, da wird mir klar, dass es Sarah ist. Sechs ist nirgendwo zu sehen. Bernie Kosar hat einen Mogadori zu Boden geworfen, seine Zähne sind jetzt tief in dessen Kehle gesunken, die Augen strahlen.

»Zurück in die Schule!«, schreie ich.

Sarah lässt mich nicht los. Ein Krachen durchbricht die Stille, ein Gewitter bricht aus, dunkle Wolken bilden sich, von Blitzen durchschnitten, laute Donnerschläge lassen Sarah jedes Mal zusammenfahren. Sechs steht jetzt etwa zehn Meter entfernt, sieht konzentriert zum Himmel, die Arme erhoben – sie erzeugt und kontrolliert das Gewitter. Blitze schießen herunter, erschlagen die Scouts, wo immer sie stehen, und lösen kleine Explosionen aus, die Aschewolken träge über den Hof schweben lassen. Henri steht an der Seite und lädt sein Gewehr. Der Scout, den Bernie Kosar würgt, stirbt schließlich, seine Aschewolke steigt dem Hund ins Gesicht. Bernie Kosar niest, schüttelt sich die Asche ab und jagt dem nächsten Scout nach, bis beide im dichten Wald verschwinden. Ich habe Angst, ihn nicht wiederzusehen.

»Du musst in die Schule«, sage ich zu Sarah. »Geh jetzt und versteck dich. Mark!«, rufe ich. Er ist nirgends zu sehen. Ich fahre herum und beobachte, wie er zu Henri läuft, der immer noch mit seinem Gewehr beschäftigt ist. Zuerst verstehe ich nicht, was Mark vorhat, dann sehe ich den Scout, der sich angeschlichen hat.

»Henri!« Ich hebe die Hand, um den Scout mit dem erhobenen Messer aufzuhalten, doch Mark kommt mir zuvor: Er stürzt sich auf ihn. Sie ringen. Henri schließt das Gewehr, Mark tritt das Messer weg, Henri schießt und der Scout explodiert. Henri sagt etwas zu Mark. Ich rufe Mark wieder, und er rennt keuchend herüber.

»Du musst Sarah in die Schule bringen.«

»Ich kann hier helfen«, protestiert er.

»Es ist nicht dein Kampf. Du musst dich verstecken! Geh in die Schule und verstecke dich mit Sarah!«

«In Ordnung.«

»Ihr müsst versteckt bleiben, egal, was geschieht!«, schreie ich über das Gewitter hinweg. »Euch werden sie nicht holen. Hinter mir sind sie her. Versprich mir das, Mark! Versprich mir, dass du mit Sarah versteckt bleibst!«

Mark nickt schnell. »Ich verspreche es!«

Sarah weint, und ich habe keine Zeit, sie zu trösten. Wieder ein Donnerschlag, wieder eine Gewehrsalve. Sie küsst mich einmal auf den Mund, ihre Hände halten mein Gesicht, und ich weiß, sie würde am liebsten für immer so verharren. Mark zieht sie weg.

»Ich liebe dich«, flüstert sie und blickt mich so an, wie ich sie angesehen habe, bevor ich den Unterricht verließ – als würde sie mich zum letzten Mal sehen und sich dieses letzte Bild einprägen, damit es ihr ein Leben lang bliebe.

»Ich liebe dich auch«, sage ich tonlos, während die beiden gerade schon die Stufen zum Gang erreichen. In diesem Moment höre ich einen Schmerzensschrei von Henri. Ein Scout hat ihm ein Messer in den Bauch gestoßen. Er zieht das Messer heraus, an der Klinge glitzert das Blut. Der Mogadori will Henri ein zweites Mal verwunden, doch ich strecke die Hand aus und entreiße ihm das Messer in letzter Sekunde, sodass nur die Faust Henri trifft. Er unterdrückt ein Stöhnen, presst den Gewehrlauf ans Kinn des Scouts und schießt. Der Scout bricht kopflos zusammen.

Der Regen kommt. Ein kalter, schwerer Regen. Sofort bin ich bis auf die Knochen durchnässt. Blut rinnt Henri aus dem Bauch. Er zielt in die Dunkelheit, aber alle Scouts sind in die Schatten zurückgewichen, fort von uns, und Henri hat kein wirkliches Ziel. Sie sind offenbar nicht mehr daran interessiert, uns anzugreifen, sie wissen, dass zwei von uns sich zurückgezogen haben und ein Dritter verwundet ist. Sechs greift immer noch nach dem Himmel. Der Sturm ist stärker geworden, er beginnt zu heulen. Sie scheint Schwierigkeiten zu haben, das Wintergewitter im Januar zu kontrollieren.

So schnell wie alles kam, verzieht es sich – der Donner, der Blitz, der Regen. Der Wind legt sich. Ein leises Stöhnen in der Ferne wird lauter. Sechs lässt die Arme sinken, wir alle horchen angestrengt. Das Stöhnen wächst, es kommt immer näher und wird zu einem tiefen, mechanischen Brummen. Die Mogadori treten aus den Schatten und fangen an zu lachen. Wir haben mindestens zehn von ihnen getötet, aber auf einmal sind sie viel zahlreicher als zuvor. Über den Baumwipfeln steigt eine Rauchwolke auf, als käme jeden Augenblick eine Dampfmaschine um die Kurve. Die Scouts nicken einander zu, grinsen hinterhältig und bilden wieder ihren Kreis um uns, offenbar wollen sie uns zurück in die Schule treiben. Und offenbar haben wir keine Wahl. Sechs läuft herüber.

»Was ist das?«, frage ich.

Henri hinkt, das Gewehr hängt an seiner Seite. Er atmet schwer, hat eine Wunde unter dem rechten Auge und einen runden Blutfleck von der Messerwunde auf dem grauen Pullover.

»Das sind die übrigen, nicht wahr?«, fragt Henri Sechs.

Sie schaut ihn unglücklich an. Ihre Haare sind nass und kleben an ihrem Gesicht. »Die Bestien«, sagt sie. »Und die Fighter. Sie sind hier.«

Henri lädt das Gewehr und holt tief Luft. »Und so beginnt der richtige Kampf. Ich weiß nicht, wie ihr zwei das seht, aber wenn es sein muss, dann muss es sein. Ich jedenfalls …« Er verstummt. »Ich jedenfalls will verdammt sein, wenn ich ohne Kampf umkomme.«

Sechs nickt. »Unser Volk hat gekämpft bis zuletzt. Und so werde ich es auch tun.«

Eine Meile entfernt steigt immer noch Rauch hoch. Lebendige Fracht!, denke ich. So transportieren die Mogadori sie, in übergroßen Sattelschleppern! Sechs und ich folgen Henri die Stufen hinunter. Ich schreie nach Bernie Kosar, aber er ist nirgendwo zu sehen.

»Wir können nicht noch einmal auf ihn warten«, mahnt Henri. »Wir haben keine Zeit.«

Ich schaue ein letztes Mal in die Runde, dann schlage ich die Kellertür zu. Wir laufen zurück durch den Gang, hinauf auf die Bühne, durch die Turnhalle. Weder ein Scout noch Mark und Sarah sind zu sehen. Ich hoffe, die beiden sind gut versteckt, Mark hält sein Versprechen und sie bleiben, wo sie sind. Vor dem Hauswirtschaftsraum rücke ich den Kühlschrank weg und hole den Kasten. Henri und ich öffnen ihn. Sechs nimmt den heilenden Stein heraus und drückt ihn auf Henris Bauch. Er schweigt, schließt die Augen, hält den Atem an. Sein Gesicht ist rot vor Anstrengung, aber kein Laut entschlüpft ihm. Nach einer Minute entfernt Sechs den Stein. Der Schnitt ist verheilt. Henri atmet aus, seine Stirn ist schweißüberströmt.

Dann bin ich an der Reihe. Sie drückt den Stein auf die Wunde an meinem Kopf und ein Schmerz, schlimmer als alles, was ich je gespürt habe, zerreißt mich. Ich ächze und stöhne, jeder Muskel in meinem Körper ist angespannt. Ich kann nicht atmen, bis es vorbei ist, dann beuge ich mich vor und ringe eine ganze Minute lang um Luft.

Draußen hat das mechanische Brummen aufgehört. Der Sattelschlepper ist nicht zu sehen. Während Henri den Kasten schließt und wieder in denselben Ofen wie zuvor schiebt, blicke ich auf der Suche nach Bernie Kosar aus dem Fenster – vergeblich. Wieder zeigen sich Scheinwerfer vor der Schule, das Fahrzeug – ich kann nicht sagen, ob es ein Personenwagen oder ein Truck ist – wird an der Auffahrt langsamer, dann fährt es schnell weiter, ohne einzubiegen. Henri zieht sein Hemd herunter und greift nach dem Gewehr. Auf dem Weg zur Tür lässt uns ein Gebrüll innehalten.

Das Gebrüll kommt von draußen, laut, tierisch, ein unheimliches Heulen, anders als alles, was ich je zuvor gehört habe, gefolgt von dem metallischen Klicken, mit dem ein Gitter aufgeschlossen, gesenkt und geöffnet wird. Ein lauter Schlag lässt uns zusammenzucken. Henri schüttelt den Kopf und seufzt zu einer fast hoffnungslosen Geste, wie man sie bei einer Niederlage macht.

»Es gibt immer Hoffnung, Henri«, sage ich. Er sieht mich fragend an. »Die neuen Entwicklungen müssen sich noch zeigen. Nicht alle Informationen liegen vor. Nein. Gib die Hoffnung noch nicht auf.«

Ein schwaches Lächeln huscht bei diesem Zitat über seine Lippen. Dann blickt er Sechs an; ihre Ankunft ist eine neue Entwicklung, mit der wir beide nicht gerechnet haben. Und wer weiß, ob nicht noch andere warten?

Und dann macht Henri exakt da weiter, wo ich aufgehört habe mit dem, was er mir gesagt hat, damals, als ich ihn fragte, wie wir diesen Kampf gewinnen sollen, allein, zahlenmäßig unterlegen – gegen die Mogadori, die an Krieg, Zerstörung und Tod ihre wahre Freude haben.

»Es ist das Letzte, was vergeht«, sagt Henri. »Wenn du die Hoffnung verloren hast, hast du alles verloren. Und wenn du glaubst, alles sei verloren, wenn alles entsetzlich und trostlos ist – gibt es immer noch Hoffnung.«

Ich nicke. »Ganz genau.«