Alles verlangsamt sich. Ich erkenne eine zweite Person oben an der Treppe. Sam schreit überrascht auf; ich drehe mich zu ihm, in meinen Ohren nur rauschende Stille und das misstönende Summen der Zeitlupe. Der Mann hinter Sam stößt ihn so fest, dass Sams Füße sich vom Boden heben und er unten an der Treppe auf den Betonboden knallen wird. Ich sehe, wie er durch die Luft segelt, mit den Armen wedelt und entsetzt die Augen aufreißt. Ohne nachzudenken strecke ich in allerletzter Sekunde die Hände aus und fange ihn auf – sein Kopf war höchstens fünf Zentimeter vom Boden entfernt. Sanft lege ich ihn ab.
»Scheiße!«, sagt Henri.
Sam setzt sich auf und krabbelt rückwärts wie ein Krebs, bis er an der Wand ist. Er starrt mit großen Augen auf die Treppe und bewegt den Mund, aber kein Wort kommt heraus. Der Mann, der ihn gestoßen hat, steht oben und versucht offenbar wie Sam herauszubekommen, was gerade passiert sein könnte. Er muss der Dritte sein.
»Sam, ich habe versucht …«, fange ich an.
Der Mann oben dreht sich um und will davonrennen, aber ich zwinge ihn zwei Stufen herunter. Sam schaut auf den Mann, der von einer unsichtbaren Kraft festgehalten wird, dann auf meinen ausgestreckten Arm. Er ist schockiert und sprachlos.
Ich schnappe mir das Isolierband, hebe den Mann in die Luft und trage ihn ins Obergeschoss. Während ich ihn an den Stuhl fessele, brüllt er Obszönitäten heraus, von denen ich nicht viel mitbekomme, weil ich angestrengt überlege, wie wir Sam diese merkwürdigen Ereignisse erklären sollen.
»Halt die Klappe«, sage ich.
Er brüllt neue Flüche. Jetzt habe ich genug davon, klebe ihm einfach den Mund zu und laufe dann wieder in den Keller. Henri steht neben Sam, der immer noch dasitzt und verständnislos vor sich hinstarrt.
»Ich begreife das nicht«, murmelt er. »Was war das gerade?«
Henri und ich blicken einander an. Ich zucke die Achseln.
»Sagt mir, was geschehen ist.« Sams Stimme klingt flehend, zugleich hört man heraus, dass er verzweifelt die Wahrheit hören will, dass er nicht verrückt ist und halluziniert hat, was er gerade gesehen hat.
Henri seufzt und schüttelt den Kopf. »Was soll’s, verdammt noch mal!«
»Was soll was, verdammt noch mal?«, frage ich.
Doch Henri ignoriert mich, presst die Lippen zusammen, schaut zu dem Mann im Stuhl hinüber, um sich zu überzeugen, dass dieser noch bewusstlos ist, dann sagt er zu Sam: »Wir sind nicht das, wofür du uns hältst.« Er blickt mich an, ich nicke zustimmend.
»Wir sind vor zehn Jahren von einem Planeten namens Lorien auf die Erde gekommen, weil unsere Heimat von den Bewohnern eines anderen Planeten zerstört worden war, von den Mogadori. Sie überfielen Lorien wegen seiner Ressourcen, denn sie hatten ihren eigenen Planeten in einen Abfallsumpf verwandelt. Wir wollten hier versteckt leben, bis wir nach Lorien zurückkehren können, und eines Tages wird es so weit sein. Aber die Mogadori sind uns nachgereist und verfolgen uns seitdem. Und ich glaube, sie wollen die Erde einnehmen. Deshalb bin ich gestern hergekommen, um mehr über sie herauszufinden.«
Sam sagt nichts. Wenn ich ihm das erzählt hätte, dann hätte er mir bestimmt nicht geglaubt. Aber Henri hat eine Integrität, die Sam, genau wie ich, sicher immer gespürt hat.
Jetzt schaut er mich an. »Ich hatte also recht, du bist ein Außerirdischer. Es war kein Witz, als du es zugegeben hast.«
»Ja, das stimmt.«
Er wendet sich an Henri. »Und diese Geschichten, die Sie mir an Halloween erzählt haben?!«
»Ach, das waren nur lächerliche Erfindungen, über die ich im Internet gestolpert bin. Aber was ich dir gerade erzählt habe, ist die Wahrheit.«
»Und …« Sam sucht nach Worten. »Was ist vorhin passiert?«
Henri nickt mir zu. »John entwickelt gerade gewisse Kräfte. Telekinese gehört dazu. Als du gestoßen worden bist, hat John dich gerettet.«
Sam lächelt mir zu und studiert mich aufmerksam. Als ich ihm in die Augen sehe, nickt er. »Ich wusste, dass du anders bist.«
»Ich brauche das sicher nicht zu betonen«, sagt Henri zu Sam, »aber du musst über all das absolutes Stillschweigen bewahren.« Dann sieht er mich an. »Wir brauchen Informationen, und wir müssen weg von hier. Sie sind wahrscheinlich in der Nähe.«
»Die Männer oben sind vielleicht noch bewusstlos.«
Henri prüft die Pistole, die auf dem Boden liegt – sie ist geladen. Er entfernt alle Kugeln und legt sie auf das Regal, dann steckt er sich die Waffe oben in die Jeans. Ich helfe Sam auf, und wir gehen alle ins Obergeschoss. Der Mann, den ich telekinetisch heraufgebraucht habe, kämpft immer noch gegen seine Fesseln. Der andere sitzt still da.
Henri geht zu ihm. »Sie sind gewarnt worden.«
Der Mann nickt.
»Jetzt werden Sie reden.« Henri zieht ihm das Isolierband vom Mund. »Und wenn nicht …« Er greift nach der Pistole. »Wer hat Sie aufgesucht?«
»Sie waren zu dritt«, antwortet der Typ.
»Schön für Sie, wir sind auch zu dritt. Wen interessiert das? Reden Sie weiter!«
»Sie haben gesagt, wenn Sie kämen und ich etwas verriete, brächten sie mich um. Mehr werde ich Ihnen nicht sagen.«
Henri drückt ihm die Pistolenmündung an die Stirn. Das bereitet mir Unbehagen. Ich drehe die Pistole so, dass sie zum Boden zeigt. Henri sieht mich überrascht an.
»Es geht auch anders«, sage ich.
Er zuckt die Achseln und legt die Pistole auf den Boden. »Bitte – dein Auftritt.«
Ich stehe anderthalb Meter von dem Mann entfernt. Er blickt mich ängstlich an. Er ist ein schweres Kaliber, aber nachdem ich Sam bei seinem Flug durch die Luft leicht fassen konnte, weiß ich, dass ich auch ihn hier hochheben kann. Ich strecke die Arme aus und konzentriere mich. Zögerlich, sehr langsam hebt er sich vom Boden. Aus den Augenwinkeln sehe ich Henri und Sam stolz lächelnd. Gestern konnte ich nicht einmal einen Tennisball heben, heute stemme ich telekinetisch einen Stuhl mit einem einhundert Kilo schweren Mann darauf. Das Erbe hat sich so schnell entwickelt!
Als ich ihn auf der Höhe meines Gesichts habe, drehe ich den Stuhl um – jetzt hängt der Kerl mit dem Kopf nach unten da. »Aufhören!«, brüllt er.
»Reden Sie.«
»Nein! Die haben gesagt, sie bringen mich um.«
Ich lasse den Stuhl los und er fällt. Der Mann schreit auf, aber ich fange ihn, bevor er auf den Boden kracht, und hebe ihn wieder hoch.
»Sie waren zu dritt«, ruft er. »Sie sind an dem Tag gekommen, an dem wir die Zeitschrift ausgesandt haben. In der Nacht waren sie da.«
»Wie sahen sie aus?«, fragt Henri.
»Wie Gespenster. Blass, fast wie Albinos. Mit Sonnenbrillen. Als wir nicht reden wollten, nahm einer die Sonnenbrille ab. Er hatte schwarzglänzende Augen und spitze Zähne, als wären sie abgebrochen und dann gefeilt worden. Alle hatten lange Mäntel an und Hüte auf wie Typen aus alten Spionagefilmen. Was zum Teufel wollen Sie noch?«
»Warum kamen sie?«
»Sie wollten die Quelle unseres Artikels erfahren. Wir haben es ihnen erzählt: Ein Typ hatte uns angerufen und uns eine exklusive Geschichte angeboten. Er schimpfte auf eine Gruppe von Aliens, die unsere Zivilisation zerstören wollten. Aber er rief erst an dem Tag an, an dem wir drucken mussten, deshalb haben wir nicht die ganze Geschichte gebracht, sondern nur eine kleine Meldung und die Ankündigung, dass die Fortsetzung im nächsten Monat folgt. Der Anrufer hat so schnell geredet, dass wir kaum mitgekommen sind. Wir wollten ihn am nächsten Abend zurückrufen – aber daraus wurde nichts, weil die Mogadori kamen …«
»Woher wussten Sie, dass es Mogadori waren?«
»Was denn sonst, verdammt noch mal?! Wir bringen eine Story über die Mogadori, und siehe da, am gleichen Tag tauchen Aliens bei uns auf und wollen wissen, woher wir die Geschichte haben. Das war ziemlich leicht zu kombinieren.«
Der Mann ist schwer und ich habe Mühe, ihn zu halten. Schweiß rinnt mir in die Augen, ich bekomme kaum Luft. Also drehe ich ihn um und senke ihn. Knapp vorm Boden lasse ich los, und er landet mit einem: »Uuumpff.« Ich stütze die Hände auf die Knie und verschnaufe.
»Was soll das, zum Teufel? Ich beantworte doch eure Fragen!«
»Tut mir leid. Sie sind zu schwer.«
»Und sie kamen nur dieses eine Mal?«, fragt Henri weiter.
Der Mann schüttelt den Kopf. »Sie kamen zurück.«
»Warum?«
»Um sicherzugehen, dass wir nichts anderes drucken. Ich glaube, sie haben uns nicht vertraut, aber der Typ, der angerufen hatte, war nicht mehr zu erreichen, also hatten wir sowieso nichts zu drucken.«
»Was ist mit ihm geschehen?«
»Was glauben Sie denn?! Die hatten seine Telefonnummer, auf der wir ihn zurückrufen sollten, da konnten sie seine Adresse ja leicht herausfinden.«
»Wurden Sie bedroht?«
»Verdammt, ja! Sie haben unser Büro auseinandergenommen. Sie haben mein Hirn verdreht, ich bin seitdem nicht mehr der, der ich war.«
»Was haben sie mit Ihrem Hirn gemacht?«
Er schließt die Augen und holt tief Luft. »Die sahen ja aus wie die Reste von einer Halloween-Party. Zuerst habe ich über sie gelacht … Aber das war ein Fehler, das wurde mir schlagartig klar. Zwei Mogadori nahmen die Sonnenbrillen ab und kamen auf mich zu. Ich konnte nicht wegschauen. Diese Augen! Als würde ich meinen eigenen und den Tod aller sehen, die ich liebe. Auf einmal war nichts mehr komisch. Ich habe den Tod richtiggehend gespürt! Die Unsicherheit. Den Schmerz. Das totale Entsetzen. Ich war nicht mehr in dem gleichen Raum. Und dann … tauchten alle Geschöpfe auf, die ich schon als Kind gefürchtet habe – lebendig gewordene Bestien mit scharfen Zähnen und Rasierklingen statt Krallen. Werwölfe. Dämonische Clowns. Riesenspinnen. Ich habe sie alle mit den Augen eines Kindes gesehen, und sie haben mich absolut entsetzt. Und jedes Mal, wenn eins davon mich gebissen hat, konnte ich fühlen, wie es mir das Fleisch von den Knochen reißt, wie das Blut aus meinen Wunden strömt. Ich konnte nicht aufhören zu schreien.«
»Haben Sie überhaupt versucht sich zu wehren?«
»Und dann hatten sie noch zwei wieselähnliche, fette kleine Tiere mit Schaum vorm Maul. Obwohl einer der Typen sie an einer Leine hielt, konnte man spüren, dass sie hungrig nach uns lechzten. Die wollten sie auf uns hetzen, wenn wir nicht taten, was sie verlangten. Ich sage Ihnen, Mann, die waren nicht von dieser Welt. Wenn es Hunde gewesen wären, hey, kein Ding, die hätten wir fertig gemacht. Aber ich glaube, die Biester hätten uns im Ganzen verspeist, trotz unserer Größe. Immer wieder zerrten sie an den Leinen, um uns packen zu können.«
»Also haben Sie geredet?«
»Ja.«
»Wann kamen sie wieder?«
»Vor über einer Woche, am Abend, bevor die nächste Ausgabe ausgeliefert wurde.«
Henri sieht mich besorgt an. Erst vor einer Woche waren Mogadori innerhalb hundert Meilen von unserem Wohnort. Sie könnten immer noch hier irgendwo sein; vielleicht überwachen sie diese Sache hier. Vielleicht hat Henri deshalb ihre Anwesenheit gespürt. Sam steht neben mir und saugt alles in sich auf.
»Warum töteten sie Sie nicht einfach, so wie sie es mit Ihrem Informanten getan haben?«
»Zur Hölle, woher soll ich das wissen?! Vielleicht weil wir ein respektables Magazin veröffentlichen.«
»Wie hat Ihr Anrufer von den Mogadori erfahren?«
»Er sagte, er habe einen von ihnen gefangen und gefoltert.«
»Wo?«
»Weiß nicht. Nach seiner Telefonnummer muss er in der Nähe von Columbus wohnen, sechzig, vielleicht achtzig Meilen nördlich von hier.«
»Haben Sie mit ihm gesprochen?«
»Klar. Und ich war mir nicht sicher, ob er spinnt oder nicht – aber wir hatten von ähnlichen Gerüchten bereits gehört. Er hat damit angefangen, dass sie unsere Zivilisation zerstören wollen, und manchmal hat er so schnell geredet, dass es schwierig war, ihn richtig zu verstehen. Eins hat er immer wiederholt: dass sie hinter etwas oder jemand her seien. Denn hat er Zahlen genannt.«
Ich reiße die Augen auf. »Welche Zahlen? Was haben sie bedeutet?«
»Keine Ahnung. Wie gesagt, er hat so schnell gesprochen, dass wir nichts tun konnten, als möglichst fix mitzuschreiben.«
»Sie haben während des Telefonats mitgeschrieben?«, fragt Henri.
»Natürlich. Wir sind Journalisten. Meinen Sie vielleicht, wir erfinden unsere Artikel?«
»Jep, meine ich.«
»Haben Sie noch Ihre Notizen?«, unterbreche ich.
Er nickt. »Ich sage Ihnen, sie sind nutzlos. Fast nur schnelles Gekritzel über ihren Plan, die menschliche Rasse auszurotten.«
»Ich muss sie sehen!«, belle ich. »Wo sind sie?«
Er zeigt auf einen Schreibtisch an der Wand. »Dort, auf den Post-its.«
Der Schreibtisch ist von Papieren übersät. Auf den Haftnotizen finde ich ein paar sehr vage Sätze über die Hoffnung der Mogadori, die Erde zu erobern. Nichts Konkretes, keine Pläne oder Details, nur ein paar hingekritzelte Schlagworte:
Dann entdecke ich die Notiz, die ich suche. Aufmerksam studiere ich sie drei oder vier Mal.
»Warum ist ein Fragezeichen hinter der Vier?«
»Weil er etwas dazu gesagt hat, aber so schnell, dass ich nicht mitgekommen bin.«
»Verarschen Sie mich?!«
Er schüttelt vehement den Kopf. Ich seufze. Das Einzige, das Wenige, was über mich gesprochen wurde – ist nicht notiert.
»Was bedeutet SA?«
»Südamerika.«
»Hat er gesagt, wo in Südamerika?«
»Nein.«
Ich nicke und starre auf die Zettel. Ich wünschte, ich hätte das Gespräch gehört, hätte selbst Fragen stellen können. Wissen die Mogadori wirklich, wo sich Sieben befindet? Sind Sie wirklich auf den Fährten von ihm oder ihr? Wenn ja, dann wirkt der lorienische Zauber zumindest immer noch. Ich falte die Notizen und stecke sie ein.
»Weißt du, was die Zahlen bedeuten?«, fragt der Typ.
Ich schüttle den Kopf. »Keine Ahnung.«
»Ich glaube dir nicht.«
»Halten Sie die Klappe!«, sagt Sam und stößt ihm mit dem schweren Ende des Holzes in die Magengegend.
Können Sie uns noch irgendetwas sagen?«, frage ich.
Er überlegt einen Moment. »Ich glaube, helles Licht stört sie. Es schien sie zu schmerzen, als sie die Sonnenbrillen abgenommen haben.«
Da hören wir von unten ein Geräusch, als würde jemand langsam versuchen, die Tür zu öffnen. Wir blicken einander an, dann den Mann im Stuhl. »Wer ist das?«, frage ich leise.
»Sie.«
»Was?«
»Sie haben gesagt, dass sie uns beobachten würden. Sie wüssten, dass jemand kommen könnte.«
Henri und Sam sehen sich mit schreckgeweiteten Augen an.
»Warum haben Sie uns das nicht eher gesagt?!«
»Sie haben gedroht, mich zu töten. Und meine Familie.«
Ich rase zum Fenster und sehe in den Hinterhof hinunter. Wir sind im Obergeschoss, etwa sieben Meter hoch. Der Hof ist mit drei Meter hohen Holzlatten eingezäunt. Schnell laufe ich zur Treppe zurück und spähe hinunter: Drei riesige Gestalten in langen schwarzen Trenchcoats, schwarze Hüte, Sonnenbrillen. Sie tragen lange, glänzende Schwerter. Keine Chance für uns, dass wir es nach unten schaffen werden. Auch wenn meine ererbten Fähigkeiten stärker werden – mit drei Mogadori kann ich es nicht aufnehmen. Hinaus geht es für uns nur durch eins der Fenster oder über eine kleine Veranda vorn am Zimmer. Die Fenster sind zwar kleiner, aber der Hinterhof ermöglicht eine heimliche Flucht, vorn kann man uns eher sehen …
Aus dem Keller dringt Lärm nach oben; die Mogadori sprechen miteinander in einer hässlichen, kehligen Sprache. Zwei laufen in den Keller, der Dritte will die Treppe hinauf, zu uns.
Mir bleiben nur ein paar Sekunden. Schon höre ich schwere Schritte auf der Treppe. Die Fenster werden zerbrechen, wenn wir durch sie fliehen. Also müssen wir durch die Türen zur Veranda. Mit Telekinese öffne ich diese Türen. Draußen herrscht finstere Nacht. Ich höre Schritte die Treppe hinaufkommen. Schnell ziehe ich Sam und Henri zu mir und werfe sie mir wie Kartoffelsäcke über die Schultern.
»Was soll das?«, flüstert Henri.
»Keine Ahnung. Aber hoffentlich klappt es.«
Gerade als der Hut des ersten Mogadori auf der Treppe in Sicht kommt, laufe ich zu den Türen, und direkt vor dem Verandarand springe ich. Wir fliegen in den Nachthimmel. In den Sekunden des Schwebens sehe ich Autos auf der Straße unter uns fahren, erkenne Leute auf den Gehwegen. Ich weiß nicht, wo wir landen werden, und ob dann mein Körper das ganze Gewicht darauf tragen kann. Als wir auf dem Dach eines Hauses gegenüber aufschlagen, breche ich zusammen, Sam und Henri liegen auf mir. Ich bekomme keine Luft und meine Beine fühlen sich an, als seien sie gebrochen. Sam will aufstehen, doch Henri drückt ihn wieder runter. Er schleift mich zum anderen Ende des Daches und fragt, ob ich ihn und Sam mit Telekinese hinunter auf die Erde befördern kann. Es gelingt mir. Henri ruft mir zu, dass ich nun springen muss. Ich stehe auf wackligen, schmerzenden Beinen, und just bevor ich springe, drehe ich mich noch einmal um – die drei Mogadori stehen auf der Veranda gegenüber, blicken sich verwirrt um. Ihre Schwerter glänzen.
In letzter Sekunde verschwinden wir, ohne dass sie uns gesehen haben.
***
Mit Sams und Henris Hilfe schaffe ich es zu Sams Truck. Dort wartet Bernie auf uns. Wir beschließen, Henris Wagen zurückzulassen – höchstwahrscheinlich wissen die Mogadori, wie er aussieht, und könnten ihn und damit uns aufspüren. Wir verlassen Athens und Henri lenkt den Truck Richtung Paradise, das uns nach diesen Ereignissen sicher im wahrsten Sinne des Wortes paradiesisch vorkommen wird.
Henri erzählt Sam alles von Beginn an und hört nicht auf, bis wir in unsere Auffahrt einbiegen. Es ist immer noch dunkel.
Sam schaut zu mir herüber und lächelt. »Unglaublich. Es ist die coolste Sache, die ich je gehört habe.«
Offensichtlich hat er schon immer nach dieser Bestätigung gesucht. So lange und so oft hat er seine Nase in die Verschwörungstheorien über Außerirdische gesteckt und Hinweise auf das Verschwinden seines Vaters gesucht – jetzt weiß er, dass es nicht vergeblich war.
»Bist du wirklich feuerfest?«, fragt er mich.
»Ja.«
»Wahnsinn!«
»Danke.«
»Kannst du fliegen?«
Zuerst halte ich die Frage für einen Witz, aber Sam meint es ernst. »Ich kann nicht fliegen. Ich bin immun gegen Feuer und kann meine Hände leuchten lassen. Erst gestern habe ich gelernt, Telekinese einzusetzen. Weitere ererbte Fähigkeiten oder Kräfte sollten sich bald zeigen, jedenfalls hoffen wir das. Aber ich habe keine Ahnung, was sie sein werden. Zuerst müssen sie sich tatsächlich entwickeln.«
»Ich hoffe, du lernst, dich unsichtbar zu machen«, meint Sam.
»Mein Großvater konnte das. Und alles, was er berührte, wurde auch unsichtbar.«
»Ehrlich?«
»Ja.«
Sam beginnt zu lachen.
»Ich kann immer noch nicht glauben, dass ihr beide allein nach Athens gefahren seid«, sagt Henri. »Ihr seid wirklich unfassbar. Beim Tanken habe ich gesehen, dass die Nummernschilder seit vier Jahren abgelaufen sind … Ich weiß wirklich nicht, wie ihr ohne Kontrolle durchgekommen seid.«
»Also, von jetzt ab können Sie auf mich zählen«, versichert ihm Sam. »Ich werde tun, was nötig ist, um Sie gegen die Mogadori zu unterstützen. Besonders weil ich wetten möchte, dass sie es waren, die meinen Dad entführt haben.«
»Danke, Sam«, sagt Henri. »Das Wichtigste, was du tun kannst, ist, unser Geheimnis nicht zu verraten. Wenn jemand anders davon erfährt, könnte es unseren Tod bedeuten.«
»Keine Angst, ich werde niemals darüber reden – ich möchte nicht, dass John seine Kräfte an mir ausprobiert.«
Wir alle lachen.
Als Sam gefahren ist, gehen Henri und ich hinein. Obwohl ich auf der Heimfahrt geschlafen habe, bin ich immer noch erschöpft. Ich lege mich aufs Sofa. Henri sitzt mir gegenüber in einem Sessel.
»Sam wird nichts verraten«, sage ich.
Er reagiert nicht, starrt nur auf den Boden.
»Sie wissen nicht, dass wir hier sind.«
Er sieht zu mir auf.
»Bestimmt nicht. Wenn sie es wüssten, hätten sie uns jetzt verfolgt.«
Er schweigt weiter.
Ich kann es nicht länger ertragen. »Ich verlasse Ohio nicht wegen wilder Spekulationen.«
Henri steht auf. »Ich bin froh, dass du einen Freund gefunden hast. Und ich finde Sarah großartig. Aber wir können hier nicht bleiben. Ich fange an zu packen.«
»Nein.«
»Wenn wir gepackt haben, gehe ich in die Stadt und kaufe einen neuen Wagen. Wir müssen hier weg. Sie haben uns vielleicht nicht verfolgt, aber sie wissen, wie kurz davor sie waren, uns zu fangen, und dass wir immer noch in der Nähe sein könnten. Ich glaube, dieser Anrufer der Zeitschrift hat tatsächlich einen von ihnen geschnappt. Das war ja auch seine Geschichte, dass er einen gefangen und gefoltert hat, bis er redete – und dann hat er ihn getötet. Wir kennen ihre Verfolgungstechniken nicht, aber sie brauchen bestimmt nicht lange, bis sie uns gefunden haben. Und dann werden wir sterben. Dein Erbe entwickelt sich und deine Kraft nimmt zu, aber du bist noch lange nicht so weit, um gegen sie zu kämpfen.«
Er geht hinaus. Ich setze mich auf. Ich will hier nicht weg! Zum ersten Mal im Leben habe ich einen richtigen Freund, der weiß, was ich bin, und keine Angst hat, mich nicht für einen Freak hält. Ein Freund, der bereit ist, mit mir zu kämpfen und sich mit mir Gefahren auszusetzen. Und ich habe eine Freundin, die mit mir zusammen sein will – sogar ohne zu wissen, wer ich bin –, die mich glücklich macht, für die ich kämpfen und die ich beschützen würde, auch wenn es gefährlich für mich wäre. Meine Erbe hat sich zwar noch nicht ganz entwickelt, aber immerhin doch so weit, dass ich es mit drei erwachsenen Männern aufnehmen konnte. Sie hatten keine Chance! Es war, als würde ich mit kleinen Kindern kämpfen. Ich konnte alles mit ihnen machen, was ich wollte. Wir wissen auch, dass Menschen ebenfalls kämpfen und Mogadori fangen, verletzen und töten können. Wenn sie das können, dann kann ich es definitiv auch.
Ich werde nicht gehen.
Henri kommt aus seinem Zimmer mit dem lorienischen Kasten, unserem kostbarsten Besitz.
»Henri«, sage ich.
»Ja?«
»Wir gehen nicht weg.«
»Du kannst, wenn du willst, aber dann werde ich bei Sam bleiben. Ich gehe nicht.«
»Du hast das nicht zu entscheiden.«
»Ach nein?! Ich dachte, ich sei der Verfolgte. Ich dachte, ich sei in Gefahr. Du könntest jetzt fortgehen, und die Mogadori würden nie nach dir suchen. Du könntest ein schönes, langes, normales Leben genießen. Du könntest tun, was du willst. Ich nicht. Immer werden sie hinter mir her sein. Immer werden sie versuchen, mich zu finden und zu töten. Ich bin fünfzehn Jahre alt, ich bin kein Kind mehr. Ich habe das sehr wohl zu entscheiden.«
Er starrt mich eine Minute lang an. »Gute Rede. Aber sie ändert nichts. Pack deinen Kram zusammen. Wir müssen los.«
Ich hebe die Hand, deute auf ihn und hebe ihn vom Boden. Er ist so geschockt, dass er stumm bleibt. Ich stehe auf und schiebe ihn in die Ecke, hoch bis zur Decke. »Wir bleiben!«
»Lass mich hinunter, John.«
»Nur, wenn du zustimmst, dass wir bleiben.«
»Es ist zu gefährlich.«
»Das wissen wir nicht. Sie sind nicht in Paradise. Sie haben vielleicht keine Ahnung, wo wir sind.«
»Lass mich runter.«
»Erst wenn du sagst, wir bleiben!
»LASS MICH RUNTER!«
Ich entgegne nichts mehr, halte ihn nur dort oben. Er versucht sich mit Händen und Füßen zu wehren, sich von Wand und Decke abzustoßen, aber er kann sich nicht bewegen. Meine Kraft hält ihn fest. Und ich fühle mich dabei stärker denn je. Ich gehe nicht. Ich renne nicht davon. Ich liebe mein Leben in Paradise. Ich liebe meine Freundin und bin froh, einen richtigen Freund zu haben. Ich bin bereit zu kämpfen für das, was ich liebe, ob es gegen die Mogadori ist oder, wenn’s sein muss, gegen Henri.
»Du weißt, dass du nicht herunterkommst, bis ich dafür sorge.«
»Du benimmst dich wie ein Kind.«
»Nein. Ich verhalte mich wie jemand, der allmählich erkennt, wer er ist und was er kann.«
»Und du willst mich wirklich hier oben festhalten?«
»Bis ich einschlafe oder müde werde, aber ich mache es wieder, sobald ich ausgeruht bin.«
»Gut. Wir können bleiben. Unter gewissen Bedingungen.«
»Welchen?«
»Lass mich runter, und wir reden darüber.«
Ich senke ihn auf den Boden ab. Er umarmt mich. Das überrascht mich – ich hatte erwartet, zusammengestaucht zu werden. Wir setzen uns aufs Sofa.
»Ich bin stolz, wie weit du gekommen bist. Viele Jahre habe ich auf so etwas gewartet und vorbereitet, dass deine Erbschaft ankommt. Du weißt, dass mein ganzes Leben dazu bestimmt ist, für deine Sicherheit zu sorgen und dich zu stärken. Ich würde es mir nie verzeihen, wenn dir etwas zustoßen sollte. Ich weiß nicht, wie ich weiterleben könnte, wenn du unter meiner Fürsorge sterben würdest. Irgendwann werden die Mogadori uns fangen. Ich möchte für sie bereit sein. Im Gegensatz zu dir glaube ich nicht, dass du das schon bist. Du hast noch einen langen Weg vor dir. Wir können fürs Erste hierbleiben, wenn du zustimmst, dass dein Training an erster Stelle steht. Vor Sarah, vor Sam, vor allem. Und beim ersten Anzeichen, dass die Mogadori in der Nähe oder auch nur auf unserer Spur sind, gehen wir. Ohne Fragen, ohne Diskussionen, ohne dass du mich an die Decke beförderst und dort gefangen hältst.«
»Abgemacht«, sage ich und lächle.