Während ich auf Sam warte, laufe ich durchs Haus und hebe Gegenstände in die Luft, ohne sie zu berühren: einen Apfel von der Platte in der Küche, eine Gabel aus der Spüle, eine kleine Topfpflanze neben dem Fenster. Es funktioniert nur mit kleinen Dingen, und sie steigen zitternd, fast schüchtern in die Luft. Wenn ich es an Schwererem versuche – ein Stuhl, ein Tisch –, geschieht nichts.
Die drei Tennisbälle, die Henri und ich beim Training benutzen, liegen in einem Korb auf der anderen Seite im Wohnzimmer. Ich hole einen zu mir, und als er in Bernie Kosars Gesichtsfeld auftaucht, steht der Hund sofort wachsam auf. Ich werfe den Ball, ohne ihn zu berühren, und Bernie läuft ihm nach. Und dann, jedes Mal, kurz bevor er ihn hat, hole ich den Ball zurück oder schnappe ihn vom Hundemaul weg, wenn Bernie Kosar ihn dann doch erwischt. Dabei sitze ich im Wohnzimmer auf einem Stuhl und bin dankbar für die Ablenkung von Henri, von dem Bösen, das ihm vielleicht widerfahren ist, von den Lügen, die ich – voller Schuldbewusstsein – Sam erzählen muss.
Er braucht fünfundzwanzig Minuten mit dem Fahrrad für die vier Meilen zu uns. Dann springt er ab, wirft das Rad auf den Boden und rennt atemlos durch die Haustür, ohne sich mit langem Anklopfen aufzuhalten. Schweiß rinnt ihm übers Gesicht.
»Was ist passiert?«, fragt er.
»Es wird dir absurd vorkommen«, sage ich, »aber du musst versprechen, mich ernst zu nehmen.«
Ja, wovon rede ich? Von Henri. Er ist verschwunden, weil er leichtsinnig war. Ständig hat er gegen Leichtsinn gewettert. Ich habe die Wahrheit gesagt, als du mit dieser Pistole auf mich gezielt hast. Ich bin ein Außerirdischer. Henri und ich sind vor zehn Jahren auf die Erde gekommen, und wir werden von einer niederträchtigen Alienrasse verfolgt. Henri glaubt, er könne ihnen entgehen, wenn er sie nur ein wenig besser verstehen würde. Und jetzt ist er weg. Davon rede ich, Sam. Verstehst du?
Aber nein, nichts davon kann ich ihm sagen.
»Mein Dad wurde gekidnappt, Sam. Ich weiß nicht genau, von wem, oder was mit ihm geschieht. Aber etwas ist geschehen, und ich glaube, er wird gefangen gehalten. Oder schlimmer.«
Er grinst. »Mann, hör auf mit dem Mist!«
Ich schüttle den Kopf und schließe die Augen. Der Ernst der Situation nimmt mir erneut die Luft zum Atmen. Ich drehe mich um und blicke Sam flehend an. Tränen steigen mir in die Augen. »Ich mache keine Witze.«
Erschrocken fragt Sam: »Was meinst du damit? Wer hat ihn gefangen genommen? Wo ist er?«
»Er hat den Autor der Artikel in deiner Zeitschrift in Athens aufgespürt und ist heute hingefahren. Und nicht zurückgekommen. Sein Handy ist abgeschaltet. Etwas ist ihm zugestoßen. Etwas Schlimmes.«
Sam wirkt immer verwirrter. »Was? Warum sollte er sich dafür interessieren? Ich hab da irgendwas nicht mitbekommen … Es ist doch nur irgendein blödes Blatt.«
»Ich weiß nicht, Sam. Er ist wie du – er hat viel übrig für Aliens, Verschwörungstheorien und all das«, sage ich und überlege schnell. »Es war schon immer ein bescheuertes Hobby von ihm. Ein Artikel hat ihn besonders interessiert, und ich nehme an, er wollte mehr darüber wissen, deshalb ist er hingefahren.«
»War es der Artikel über die Mogadori?«
Ich nicke. »Wie kommt du drauf?«
»Weil er aussah, als hätte er ein Gespenst gesehen, als ich an Halloween davon gesprochen habe.« Er schüttelt den Kopf. »Aber warum sollte es irgendjemanden interessieren, wenn er Fragen zu einem dummen Artikel stellt?«
»Ich weiß nicht. Ich kann mir vorstellen, dass diese Leute nicht gerade normal drauf sind. Vielleicht sind sie paranoid und haben Wahnvorstellungen. Vielleicht halten sie ihn für einen Außerirdischen aus dem gleichen Grund, aus dem du mit einer Pistole auf mich gezielt hast. Ich habe wirklich keine Ahnung. Er sollte um eins zu Hause sein und sein Handy ist abgeschaltet. Das ist alles, was ich sagen kann.«
Ich gehe in die Küche und hole das Blatt mit Adresse und Telefonnummer. »Dahin ist er gefahren. Hast du eine Vorstellung, wo das sein könnte?«
Sam betrachtet das Blatt, dann mich. »Dahin willst du auch?«
»Ich weiß nicht, was ich sonst tun soll.«
»Warum rufst du nicht einfach die Polizei und erzählst, was passiert ist?«
Ich setze mich aufs Sofa und überlege. Wenn ich ihm nur die Wahrheit sagen könnte, dass bei Beteiligung der Polizei im besten Fall Henri und ich nur umziehen würden?! Wenn es schlecht liefe, würde Henri verhört, vielleicht müsste er Fingerabdrücke liefern, er würde durch die schwerfällige Bürokratie geschleust und die Mogadori bekämen ihre Chance. Und sobald sie uns gefunden haben, ist der Tod unausweichlich.
»Welche Polizei? Die in Paradise? Was würden die tun, wenn ich ihnen die Wahrheit sage? Ich würde Tage brauchen, bis sie mich ernst nehmen – und ich habe keine Tage.«
Sam zuckt mit den Achseln. »Vielleicht nehmen sie dich ja doch für voll. Außerdem, was ist, wenn er einfach aufgehalten wurde oder sein Handy kaputtgegangen ist? Er könnte gerade jetzt auf dem Heimweg sein.«
»Vielleicht, aber das glaube ich nicht. Etwas fühlt sich falsch an, und ich muss so schnell wie möglich dorthin. Er sollte ja schon vor Stunden zu Hause sein.«
»Vielleicht ist er in einen Unfall geraten?«
Ich schüttle den Kopf. »Vielleicht hast du recht, aber ich glaube das alles nicht. Und wenn er in Schwierigkeiten ist, dann verlieren wir jetzt nur Zeit.«
Sam betrachtet das Blatt, beißt sich auf die Lippen und schweigt ein paar Sekunden. »Also, ich weiß ungefähr, wie man nach Athens kommt. Aber keine Ahnung, wie wir dort diese Adresse finden sollen.«
»Ich kann die Route aus dem Internet ausdrucken, kein Problem. Aber was mir fehlt, ist die Fahrgelegenheit. Ich habe hundertzwanzig Dollar hier. Ich kann jemanden dafür bezahlen, dass er uns hinfährt. Ich weiß nur nicht, wen ich darum bitten kann.«
»Wir können unseren Truck nehmen.«
»Welchen Truck?«
»Ich meine den von meinem Vater. Wir haben ihn immer noch in der Garage. Seit Dad verschwunden ist, hat ihn niemand angerührt.«
Ich sehe ihn an. »Meinst du das ernst?«
Er nickt.
»Wie lang ist das her? Fährt der Truck noch?«
»Acht Jahre. Warum sollte er nicht fahren? Er war fast neu, als Dad ihn gekauft hat.«
»Also du schlägst vor, dass wir selbst nach Athens fahren?«
Sam grinst diebisch. »Exakt.«
Ich beuge mich vor und muss auch lachen. »Du weißt, dass wir in der allertiefsten Scheiße sitzen, wenn wir geschnappt werden, oder? Wir haben beide keinen Führerschein.«
Sam nickt. »Meine Mom bringt mich um, und dich vielleicht auch. Außerdem machen wir uns strafbar. Aber was bleibt uns übrig, wenn du wirklich glaubst, dass dein Dad in Schwierigkeiten ist?! Wir haben gar keine Wahl. Wenn es umgekehrt wäre und es um meinen Dad ginge, wäre ich schon unterwegs.«
Ich sehe Sam an, dass er es ernst meint. In seinem Gesicht gibt es nicht den Hauch eines Zweifels, auch wenn das bedeutet, dass wir illegal in eine Stadt fahren, die mindestens zwei Autostunden entfernt liegt, ganz zu schweigen davon, dass keiner von uns beiden auch nur die geringste Ahnung hat, wie man fährt, und wir außerdem absolut nicht wissen, was uns dort erwartet. Und doch ist Sam dabei. Es war sogar seine Idee. Alles ist gesagt.
»Also los.«
***
Ich werfe mein Handy in die Tasche, laufe noch einmal durchs Haus und sauge alles in mir auf, als würde ich es zum letzten Mal sehen. Das ist natürlich Quatsch und ich merke, dass ich einfach nur sentimental bin, aber irgendwie beruhigt es mich ein wenig. Ich nehme Dinge, lege sie wieder zurück. Nach fünf Minuten bin ich fertig.
»Willst du dich auf den Gepäckträger setzen?«
»Fahr du. Ich laufe neben dir her.«
»Und dein Asthma?«
»Ich glaube, das schaffe ich.«
Er steigt aufs Rad und fährt, so schnell er kann, aber er ist nicht besonders fit. Ich laufe ein paar Meter hinter ihm und tue, als wäre ich atemlos. Bernie folgt uns.
Als wir bei seinem Haus ankommen, ist Sam schweißüberströmt. Er läuft in sein Zimmer und kommt mit einem Rucksack zurück, den er in der Küche abstellt, um sich kurz umzuziehen. Ich schaue in den Rucksack: ein Kruzifix, ein paar Knoblauchzehen, ein kleiner Holzpfahl, ein wenig Slimy und ein Taschenmesser.
»Dir ist schon klar, dass diese Leute keine Vampire sind, oder?«, frage ich, als Sam wieder hereinkommt.
»Ja, aber man kann nie wissen. Sie sind wahrscheinlich verrückt, wie du gesagt hast.«
»Und selbst wenn du Vampire jagst – wofür ist das Slimy?«
»Ich will nur vorbereitet sein.«
Ich stelle Bernie Kosar eine Schüssel Wasser hin und er trinkt sie sofort leer. Dann ziehe ich mich im Bad um und hole die Fahrtbeschreibung aus meiner Tasche.
In der dunklen Garage riecht es nach Benzin und Heu. Sam schaltet das Licht an. Werkzeug aller Art, rostig, weil es nicht benutzt wurde, hängt an der Wand. Der Truck steht mitten in der Garage unter einer blauen Abdeckplane, auf der eine dicke Staubschicht liegt.
»Wie lange ist diese Plane drauf?«
»Seit Dad vermisst wird.«
Wir ziehen sie ab und ich lege sie in die Ecke. Sam betrachtet lächelnd und mit großen Augen den Truck, der klein und blau ist, mit Platz für zwei Leute, vielleicht auch einen dritten, der es nicht übel nimmt, unbequem in der Mitte sitzen zu müssen – perfekt für Bernie Kosar. Kein einziges Staubkorn hat es in den letzten acht Jahren bis zum Truck geschafft, er glänzt, als hätte man ihn vor Kurzem eingewachst. Ich werfe meine Tasche nach hinten.
»Der Truck meines Dads«, sagt Sam stolz. »All die Jahre. Er sieht noch genauso aus.«
»Und unsere goldene Kutsche. Hast du die Schlüssel?«
Er nimmt einen Schlüsselbund von einem Haken an der Wand. Ich öffne das Garagentor. »Schere-Stein-Papier, wer fährt?«
»Nein.« Sam schließt die Fahrertür auf und setzt sich hinters Steuer. Der Motor hustet ein wenig, dann springt er an. Sam lässt das Fenster herunter. »Ich glaube, mein Dad wäre stolz, wenn er sähe, dass ich fahre.«
Ich grinse. »Das glaube ich auch. Fahr hinaus, ich mache das Tor zu.«
Er holt tief Luft, tritt aufs Gaspedal und rollt langsam, schüchtern aus der Garage, bremst zu stark, kriecht wieder los. Dann tritt er die Bremse zu fest und der Truck hält mit einem Ruck. Ich schließe die Garage hinter ihm. Bernie Kosar springt aus dem Wagen und wieder hinein, und ich rutsche neben ihn. Die Knöchel von Sams Händen auf dem Steuerrad sind weiß.
»Nervös?«
»Panisch.«
»Du wirst das großartig machen«, beruhige ich ihn. »Wir haben es beide Tausende Male beobachtet.«
Er nickt. »Okay. Biege ich nach der Auffahrt nach links oder nach rechts?«
»Wir ziehen das wirklich durch?«
»Ja«, sagt er.
»Dann nach rechts und aus der Stadt raus.«
Wir schnallen uns an. Ich öffne das Fenster so weit, dass Bernie den Kopf hinausstrecken kann – was er auch sofort tut, die Hinterbeine auf meinem Schoß.
»Ich mache mir gleich vor Angst in die Hose«, meint Sam.
»Ich auch.«
»Al – so – los.« Er nimmt den Fuß von der Bremse und lässt den Truck über die Ausfahrt hoppeln. Einmal tritt er reflexartig wieder auf die Bremse und wir rutschen zu einem Halt. Dann startet er erneut und fährt, diesmal langsamer, bis zur Straße, dort hält er, schaut er in beide Richtungen und fährt nach rechts, wieder zuerst langsam, dann schneller. Angespannt beugt er sich vor. Aber schon nach einer Meile grinst er und richtet sich auf. »Das ist gar nicht so schlimm.«
»Du bist ein Naturtalent.«
Er bleibt nahe an der rechten Linie auf der Straße, wird nervös, wenn uns ein Auto entgegenkommt, entspannt sich aber nach einer Weile und achtet nicht mehr als nötig auf die anderen. Er biegt einmal ab, dann noch einmal, und nach fünfundzwanzig Minuten sind wir auf der Schnellstraße.
»Ich kann nicht glauben, dass wir das hier tun«, sagt er schließlich. »So etwas Verrücktes habe ich noch nie gemacht.«
»Ich auch nicht.«
»Hast du einen Plan, wie es weitergeht, wenn wir ankommen?«
»Keine Ahnung. Ich hoffe, wir können die Lage checken und dann weitersehen. Ich weiß nicht, ob das ein Wohnhaus oder ein Bürogebäude ist, ich weiß noch nicht einmal, ob er dort ist.«
Sam nickt. »Glaubst du, er ist okay?«
»Keine Ahnung.«
Ich atme tief ein. Wir haben noch eine Fahrt von anderthalb Stunden bis Athens vor uns.
Und dann finden wir Henri.