Jeder Muskel in meinem Körper ist angespannt, alle Sinne sind geschärft. Henri springt nach draußen und ich bin bereit, ihm zu folgen. Ich spüre, wie mein Herz bis zum Hals klopft, meine Finger klammern sich mit weißen Knöcheln um das immer noch brennende Holzstück. Ein Windstoß bläst herein, das Feuer tanzt in meiner Hand und kriecht zum Handgelenk. Niemand ist da.
Plötzlich erkenne ich, wie die Anspannung von Henri abfällt; er lacht leise in sich hinein und schaut auf seine Füße. Da sitzt derselbe Beagle, den ich an meinem ersten Tag in der Schule getroffen habe, und blickt winselnd zu Henri hinauf. Dann wedelt er mit dem Schwanz und kratzt auf den Boden. Als Henri ihn streichelt, läuft der Hund mit heraushängender Zunge wie selbstverständlich ins Haus.
»Was macht er hier?«, frage ich erstaunt.
»Kennst du diesen Hund?«
»Aus der Schule. Er ist mir gefolgt, nachdem du mich gestern abgesetzt hast.«
Ich lege das Holzstück zurück und wische meine Hand an der Jeans ab, die jetzt mit einem langen schwarzen Aschefleck verziert ist. Der Hund sitzt zu meinen Füßen, sieht mich erwartungsvoll an und klopft mit dem Schwanz auf den Holzboden. Ich lasse mich seufzend aufs Sofa fallen und schaue in die beiden Feuer.
Jetzt, wo die Aufregung vorbei ist, muss ich wieder an das denken, was ich in der Vision gesehen habe. Immer noch höre ich die Schreie, sehe das Blut im Gras unter dem Mondlicht schimmern, nehme die Leichen und gefallenen Bäume wahr, den roten Schein in den Augen der Bestien von Mogador und das Entsetzen in denen der Loriener.
Ich blicke Henri an. »Ich habe gesehen, was passiert ist. Wenigstens den Anfang davon.«
Er nickt. »Das dachte ich mir.«
»Ich habe deine Stimme gehört. Hast du zu mir gesprochen?«
»Ja.«
»Ich verstehe das nicht. Es war das reinste Blutbad. In ihnen war zuviel Hass, als dass man den Angriff nur mit Interesse an unseren Rohstoffen erklären könnte. Da ging es um mehr.«
Henri seufzt und setzt sich auf den Tisch mir gegenüber. Der Hund springt auf meinen Schoß und ich streichle ihn. Er ist schmutzig, sein Fell unter meiner Hand fühlt sich steif und ölig an. Eine Marke in Form eines Footballs ist an seinem Halsband befestigt. Sie ist alt, die braune Farbe ist fast komplett abgeblättert. Auf einer Seite trägt sie die Zahl neunzehn, auf der anderen den Namen BERNIE KOSAR.
»Bernie Kosar«, sage ich. Wie zur Bestätigung wedelt der Hund mit dem Schwanz. »Ich vermute, das ist sein Name – er heißt genauso wie der Footballspieler auf dem Poster in meinem Zimmer. Der Typ muss in der Gegend beliebt sein.« Ich kraule dem Hund den Rücken. »Dieser Bernie hier scheint kein Zuhause zu haben. Und er ist hungrig.« Irgendwie weiß ich das einfach.
Henri nickt und schaut hinunter auf Bernie Kosar. Der Hund streckt sich aus, legt das Kinn auf die Pfoten und schließt die Augen. Ich mache das Feuerzeug an und führe die Flamme über meine Finger, die Handfläche und die Unterseite meines Arms. Erst als sie zwei oder drei Zentimeter von meinem Ellbogen entfernt ist, spüre ich ein Brennen. Was Henri auch getan haben mag, es wirkt, meine Unempfindlichkeit hat zugenommen. Ich wüsste ja zu gern, wann ich komplett immun gegen Feuer bin.
»Also, was ist geschehen?«, frage ich.
Henri holt tief Luft. »Ich hatte die gleichen Visionen. So real, als wäre man dort.«
»Ich habe nie ganz begriffen, wie schlimm das alles war. Klar, du hast es mir erzählt, aber ich habe es nicht wirklich verstanden – bis ich es mit eigenen Augen gesehen habe.«
»Die Mogadori sind anders als wir: verschlossen und intrigant, misstrauisch gegenüber fast allem. Sie haben bestimmte Kräfte, aber diese sind anderer Natur als unsere. Sie sind sehr gesellig und leben am liebsten in überfüllten Städten. Je dichter die Bevölkerung, desto besser. Deshalb bleiben du und ich außerhalb der Städte, selbst wenn man sich dem Leben dort leichter anpassen kann. Es wäre auch für sie verdammt viel leichter, dort nicht aufzufallen.«
»Vor etwa hundert Jahren«, fährt er fort, »begann der Untergang Mogadors, und er war dem Loriens fünfundzwanzigtausend Jahre davor gar nicht so unähnlich. Die Mogadori reagierten jedoch nicht wie wir – sie interpretierten das Dahinsiechen des Planeten nicht so wie jetzt allmählich die menschliche Bevölkerung das Kränkeln der Erde. Im Gegenteil, sie ignorierten es. Sie verschmutzten ihre Meere und überfüllten ihre Flüsse und Seen mit Abfall und Abwässern, damit sie ihre Städte vergrößern konnten. Die Vegetation verendete, dadurch starben die Pflanzenfresser, dann ging es den Fleischfressern bald nicht anders. Erst dann wurde den Mogadori klar, dass sie etwas Entscheidendes tun mussten.«
Henri schließt die Augen und schweigt eine ganze Minute lang. »Weißt du, welcher Planet mit Leben Mogador am nächsten liegt?«, fragt er schließlich.
»Ja, das ist Lorien. Oder war, nehme ich an.«
Henri nickt. »Es ist Lorien. Und jetzt ist dir bestimmt auch klar, dass die Mogadori nur hinter unseren Ressourcen her waren.«
Jetzt bin ich derjenige, der nickt.
Bernie Kosar hebt den Kopf und gähnt herzhaft. Henri wärmt eine Hühnerbrust in der Mikrowelle auf, schneidet sie in Streifen und bringt dem Hund den Teller. Bernie Kosar frisst so gierig, als hätte er seit Tagen nichts bekommen.
»Es gibt viele Mogadori auf der Erde«, erzählt Henri nach dieser kurzen Unterbrechung weiter. »Ich weiß nicht genau, wie viele, aber ich kann sie spüren, wenn ich schlafe. Manchmal sehe ich sie in meinen Träumen. Ich weiß nie, wo sie sind oder was sie sagen. Aber ich sehe sie. Und ich glaube nicht, dass ihr sechs der einzige Grund dafür seid, dass eine derart große Anzahl sich hier aufhält.«
»Was willst du damit sagen? Warum könnten sie sonst hier sein?«
Henri blickt mir in die Augen. »Weißt du, welcher für Mogador der zweitnächste Planet, auf dem es Leben gibt, ist?«
Ich nicke. »Die Erde, nicht wahr?«
»Mogador ist doppelt so groß wie Lorien, und die Erde ist fünfmal so groß wie Mogador. Wegen ihrer Größe kann sich die Erde besser verteidigen, sie ist besser vorbereitet als Lorien. Die Mogadori müssen diesen Planeten verstehen lernen, bevor sie angreifen können. Ich kann dir nicht sagen, warum wir so leicht geschlagen wurden, weil ich so vieles davon immer noch nicht begreife. Aber ich kann mit Bestimmtheit behaupten, dass eine gewisse Kenntnis über unseren Planeten und seine Bewohner dazugehörte – plus die Tatsache, dass wir keine andere Vereidigung hatten als unsere Intelligenz und die Erbschaft der Garde. Man kann über die Mogadori sagen, was man will, aber in einem Krieg sind sie brillante Strategen.«
Wir schweigen wieder, draußen heult immer noch der Wind.
»Ich glaube nicht, dass sie die Rohstoffe der Erde wollen«, sagt Henri.
Ich seufze und sehe zu ihm auf. »Warum nicht?«
»Mogador stirbt immer noch. Auch wenn sie Notlösungen für die dringendsten Probleme gefunden haben, ist der Tod des Planeten unausweichlich, und sie wissen es. Ich glaube, sie planen, die Menschen auszulöschen. Ich denke, sie wollen die Erde zu ihrem dauerhaften Zuhause machen.«
***
Nach dem Essen bade ich Bernie Kosar mit Shampoo – und Spülung. Danach bürste ich ihn mit einem alten Kamm, den der letzte Mieter wohl in einer Schublade vergessen hat. Schon sieht Bernie Kosar viel besser aus, er riecht sogar ganz gut bis auf sein stinkendes Halsband, das ich angeekelt wegwerfe. Bevor ich schlafen gehe, halte ich ihm die Haustür auf, aber er zeigt keinerlei Interesse daran, nach draußen zu gehen. Stattdessen legt er sich platt auf den Boden, den Kopf auf den Vorderpfoten. Offensichtlich ist es sein sehnlichster Wunsch, bei uns im Haus zu bleiben. Ob er spürt, dass ich mir dasselbe wünsche?
»Ich glaube, wir haben ein neues Haustier«, sagt Henri.
Ich grinse. Ich hatte von Anfang an gehofft, dass ich den Beagle behalten darf. »Sieht ganz so aus.«
Eine halbe Stunde später krieche ich ins Bett. Bernie Kosar springt mir nach und rollt sich an meinen Füßen zu einem Ball zusammen. Innerhalb von wenigen Minuten schnarcht er. Ich liege eine Weile auf dem Rücken und starre in die Finsternis, Millionen verschiedene Gedanken geistern durch meinen Kopf. Bilder vom Krieg: das gierige, hungrige Aussehen der Mogadori, das zornige, harte Äußere der Bestien, die Toten, das Blut. Ich denke an die Schönheit, den Reichtum Loriens. Wird sich dort je wieder Leben entwickeln, oder werden Henri und ich für immer hier auf der Erde warten müssen?
Ich versuche die Gedanken und Bilder zu verscheuchen, aber sie kommen immer wieder zurück. Schließlich stehe ich auf und gehe eine Zeit lang im Zimmer auf und ab. Bernie Kosar hebt den Kopf, beobachtet mich kurz, schläft dann aber wieder ein. Seufzend nehme ich mein Handy von der Ladestation und kontrolliere es – vielleicht hat Mark James etwas durcheinandergebracht. Henris Nummer ist noch da, aber sie ist nicht mehr der einzige Eintrag. Darunter steht eine weitere unter dem Namen Sarah Hart. Nach dem letzten Läuten in der Schule, noch bevor Sarah zu meinem Spind gekommen ist, muss sie ihre Telefonnummer eingespeichert haben.
Ich lege das Handy zurück, aber nach zwei Minuten kontrolliere ich es wieder, vielleicht habe ich ja geträumt. Die Nummer ist noch da. Nach weiteren fünf Minuten nehme ich das Telefon wieder in die Hand – nur um ihre Nummer zu betrachten. Irgendwann schlafe ich ein.
Als ich am Morgen aufwache, halte ich das Handy immer noch fest an meine Brust gedrückt in der Hand.