Zum ersten Mal, seit wir in Ohio sind, nehmen die Dinge einen etwas geruhsameren Lauf. Die Schule geht ruhig zu Ende, und die Winterferien bescheren uns elf freie Tage. Sam und seine Mutter nutzen die meisten davon für einen Besuch bei seiner Tante in Illinois. Sarah bleibt zu Hause. Weihnachten verbringen wir zusammen. Das neue Jahr begrüßen wir um Mitternacht an Silvester mit einem innigen Kuss.
Trotz Schnee und Kälte – oder vielleicht um dem Wetter zu trotzen – unternehmen wir Hand in Hand lange Spaziergänge im Wald hinterm Haus, auf denen wir uns in der kalten Luft unter dem grauen Winterhimmel immer wieder küssen.
Sarah hat die Kamera dabei und macht gelegentlich unter dem weißen Schirm aus Schnee auf den Ästen über uns Aufnahmen. Das Weiß auf dem Boden ist fast unberührt bis auf unsere Spaziergangspuren. Denen folgen wir nun zurück, von Bernie Kosar angeführt. Er rast immer wieder ins Gebüsch, jagt Kaninchen in kleine Höhlen und Eichhörnchen die Bäume hinauf. Sarahs Wangen und die Nasenspitze sind rot vor Kälte und lassen ihre Augen noch blauer leuchten. Ich starre sie an.
»Was ist?«, fragt sie lächelnd.
»Ich bewundere nur die Aussicht.«
Sie verdreht die Augen. Der Wald ist dicht bis auf ein paar Lichtungen, in die wir ständig stolpern. Ich weiß nicht, wie weit er sich in eine Richtung erstreckt, aber bei allen unseren Spaziergängen haben wir noch nie seinen Rand erreicht.
»Bestimmt ist es im Sommer wunderschön hier«, meint Sarah. »Wahrscheinlich sind die Lichtungen ein herrlicher Platz für Picknicks.«
Ich spüre einen Schmerz in der Brust. Der Sommer ist noch fünf Monate entfernt. Wenn Henri und ich im Mai noch hier sein sollten, sind wir sieben Monate in Ohio. Fast unser längster Aufenthalt an einem Ort.
»Jep«, entgegne ich.
»Sarah scheint verwirrt. »Waaas?«
»Ich blicke sie verständnislos an. »Was meinst du mit ›waaas‹?!«
»Ähm … ein ›Jep‹ ist nicht besonders überzeugend.« Ein Schwarm Krähen fliegt mit lautem Gekrächze über uns her.
»Ach, wenn nur jetzt schon Sommer wäre!«, sage ich.
»Das wünsche ich mir auch. Ich kann gar nicht glauben, dass wir morgen wieder in die Schule müssen.«
»Argh, erinnere mich bloß nicht dran!«
Wir gelangen auf eine weitere Lichtung, größer als die anderen, ein fast perfekter Kreis von ungefähr dreißig Metern Durchmesser. Sarah läuft in die Mitte und lässt sich lachend in den Schnee fallen. Sie rollt auf den Rücken und macht mit den ausgestreckten Armen einen Schneeengel. Ich lasse mich neben sie fallen und tue es ihr gleich. Unsere Fingerspitzen berühren sich leicht, als wir die Flügel machen.
»Es ist, als hielten wir Flügel«, sagt sie.
»Ist das möglich? Ich meine, wie können wir fliegen, wenn wir unsere Flügel halten?«
»Natürlich ist es möglich. Engel können alles.« Sie dreht sich um und kuschelt sich an mich. Ihr kaltes Gesicht an meinem Nacken lässt mich zurückschrecken. »Brrr, dein Gesicht ist wie Eis!«
Sie lacht. »Komm und wärme mich!«
Ich nehme sie in die Arme und küsse sie inmitten der Bäume unter freiem Himmel. Die einzigen Geräusche kommen von den Vögeln und dem gelegentlichen Abrutschen des Schnees von den schwer behangenen Ästen. Zwei kalte Gesichter pressen sich eng aneinander. Bernie Kosar kommt atemlos herbeigetrabt, seine Zunge hängt heraus, er wedelt mit dem Schwanz. Er bellt, setzt sich in den Schnee und betrachtet uns mit schief gelegtem Kopf.
»Bernie Korsar! Hast du Kaninchen gejagt?«, fragt Sarah.
Er bellt zweimal, läuft herüber und springt an ihr hoch. Er bellt erneut, läuft weg und blickt dann erwartungsvoll auf. Sarah wirft einen Stock in die Bäume. Bernie läuft ihm nach und ist nicht mehr zu sehen. Nach zehn Sekunden kommt er aus der entgegengesetzten Richtung zurück.
»Wie hat er denn das gemacht?«, wundert sich Sarah.
»Keine Ahnung. Er ist ein sonderbarer Hund.«
»Hast du das gehört, Bernie Kosar? Er hat dich sonderbar genannt!«
Er lässt den Stock vor ihre Füße fallen. Auf dem Rückweg, während die Dämmerung über uns hereinbricht, läuft er die gesamte Zeit neben uns und dreht unablässig den Kopf – als würde er uns nach Hause führen und uns beschützen vor allem, was im Dunkel lauert.
***
Fünf Zeitungen stapeln sich auf dem Küchentisch. Henri hat das Deckenlicht eingeschaltet und sitzt am Computer.
»Was Neues?«, frage ich nur aus Gewohnheit. Seit Monaten hat es keine vielversprechenden Artikel gegeben. Eigentlich ist das ja gut, aber ich hoffe dennoch immer auf irgendetwas, wenn ich frage.
»Ja, in der Tat, ich glaube schon.«
Neugierig laufe ich um den Tisch herum, um über seine Schulter auf den Bildschirm zu schauen. »Was denn?«
»In Argentinien gab es gestern Abend ein Erdbeben. Ein sechzehnjähriges Mädchen hat in einer kleinen Stadt in der Nähe der Küste einen ältere Mann aus einem Schutthaufen gezogen.«
»Nummer Neun?«
»Nun, in jedem Fall ist sie eine von uns. Ob sie Nummer Neun ist oder nicht, bleibt abzuwarten.«
»Warum? Es ist doch nichts Außergewöhnliches, einen Mann aus dem Schutt zu ziehen.«
»Schau mal.« Henri scrollt zum Anfang des Artikels. Hier ist ein Bild von einer großen Zementplatte zu sehen, mindestens dreißig Zentimeter dick, zweieinhalb Meter lang und breit. »Das Teil hat sie gehoben, um ihn zu retten. Es muss mindestens fünf Tonnen wiegen. Und sieh dir das an«, er scrollt zum Ende der Seite und deutet auf den allerletzten Satz: »Sofia García konnte für eine Stellungnahme nicht gefunden werden.«
Ich lese den Satz dreimal. »Sie konnte nicht gefunden werden.«
»Genau. Normalerweise schreibt man: ›stand für eine Stellungnahme nicht zur Verfügung‹, wenn jemand ablehnt. Aber sie konnte einfach nicht gefunden werden.«
»Woher kannten sie ihren Namen?«
»Es ist eine kleine Stadt, kaum ein Drittel der Größe von Paradise. Fast jeder wird dort ihren Namen kennen.«
»Sie ist fort, nicht wahr?«
Henri nickt. »Ich glaube schon. Wahrscheinlich noch bevor die Zeitung veröffentlicht wurde. Das ist der Nachteil von kleinen Städten: Man kann unmöglich unbemerkt bleiben.«
Ich seufze. »Auch für die Mogadori ist es schwer, unbemerkt zu bleiben.«
»Ziemlich beschissen für sie – wer weiß, was sie zurücklassen musste.«
Henri blickt mich skeptisch an, öffnet den Mund, um etwas zu sagen, überlegt es sich anders und wendet sich wieder dem Computer zu. Ich gehe in mein Zimmer und packe frische Sachen zum Anziehen und die nötigen Bücher in die Tasche. Zeit für die Schule. Ich freue mich nicht besonders darauf, obwohl es nett sein wird, Sam nach knapp zwei Wochen wiederzusehen.
»Okay, ich bin dann mal weg.«
»Hab einen schönen Tag. Und sei vorsichtig dort draußen.«
»Tschüss, bis heute Nachmittag.«
Bernie Kosar läuft mit geballter Energie vor mir aus dem Haus. Ich glaube, er freut sich auf unseren morgendlichen Lauf, und da wir ihn anderthalb Wochen ausfallen ließen, kann er es kaum erwarten. Er hält fast die ganze Zeit neben mir das Tempo. Sobald wir angekommen sind, streichle ich ihn ausgiebig und kraule ihn hinter den Ohren. »Okay, Junge, ab nach Hause mit dir!« Er dreht sich um und macht sich auf den Heimweg.
In der Dusche lass ich mir Zeit. Als ich fertig bin, kommen schon die ersten Schüler. Im Gang mache ich an meinem Spind Halt, dann gehe ich zu dem von Sam. Ich schlage ihm auf den Rücken, er schreckt auf, aber dann grinst er übers ganze Gesicht. »Im ersten Moment habe ich gefürchtet, dass irgend so ein Penner unbedingt eine Minute lang von mir durchgepeitscht werden will!«, sagt er.
»Nur ich bin’s, mein Freund. Wie war’s in Illinois?«
»Uff!«, macht er und rollt die Augen. »Meine Tante hat mich gezwungen, Tee zu trinken und mir fast jeden Tag Wiederholungen von Unsere kleine Farm anzuschauen.«
Ich lache. »Das klingt grauenhaft.«
»Das war es, glaub mir.« Er greift in seine Tasche. »Und das hat in der Post auf mich gewartet.«
Es ist die aktuelle Ausgabe
von Schnell blättere ich sie durch.
»Es ist nichts über uns oder die Mogadori drin«, kommt er mir zuvor.
»Gut. Seit deinem Besuch müssen sie uns fürchten.«
»Ja, Mann!«
Über Sams Schulter sehe ich Sarah kommen. Mark James hält sie allerdings mitten im Gang auf und gibt ihr ein paar orangefarbene Blätter. Dann kommt sie zu uns rüber.
»Hallo, meine Schöne«, begrüße ich sie, als sie bei uns ist. Sie stellt sich auf die Zehenspitzen und gibt mir einen Kuss. Ihre Lippen schmecken nach Lippgloss mit Erdbeergeschmack.
»Hallo, Sam. Wie geht’s?«
»Gut. Und dir?« Er scheint ihr gegenüber jetzt nicht mehr so gehemmt zu sein. Vor dem Zwischenfall mit Henri, also vor anderthalb Monaten, wirkte er in Sarahs Gegenwart verlegen, konnte anscheinend ihren Blick nicht erwidern und wusste nicht, wohin mit seinen Händen. Doch jetzt blickt er sie an und lächelt unbefangen.
»Gut. Ich soll euch beiden so etwas geben.« Wir bekommen eins der orangefarbenen Blätter von Mark: eine Einladung zu einer Party am kommenden Samstag bei ihm zu Hause.
»Ich bin ich eingeladen?«, fragt Sam ungläubig.
Sarah nickt. »Wir drei.«
»Willst du hin?«, frage ich.
»Vielleicht sollten wir’s versuchen.«
Ich nicke. »Und du, Sam?«
Er erblickt hinter Sarah und mir Emily, das Mädchen, das mit uns auf der Geisterfahrt war. Jetzt geht sie an uns vorbei, bemerkt, dass Sam sie beobachtet und lächelt höflich.
»Emily was?«
Ich schaue Sarah an. »Ich glaube, Sam steht auf Emily Knapp.«
»Stimmt doch gar nicht«, protestiert er.
»Ich könnte sie bitten, mit uns zu der Party zu gehen.«
»Glaubst du, sie würde kommen?«, fragt Sam aufgeregt.
Sarah sagt zu mir: »Aber vielleicht sollte ich sie doch nicht einladen, wenn Sam sie nicht leiden kann.«
Sam lächelt. »Okay. Fein. Ich, äh … ich weiß nicht.«
»Sie hat mich ständig gefragt, warum du sie nach der Geisterfahrt nie angerufen hast. Sie mag dich irgendwie.«
»Das stimmt«, ergänze ich. »Ich habe sie auch so was sagen hören.«
»Warum hast du mir nie was davon gesagt?!«, entrüstet sich Sam.
»Du hast mich nie danach gefragt.«
Sam betrachtet die Einladung. »Also an diesem Samstag?«
»Ja.«
Er schaut zu mir hoch. »Ich sage: Wir gehen.«
Ich zucke mit den Achseln. »Ich bin dabei.«
***
Nach dem letzten Klingeln wartet Henri schon auf mich. Bernie Kosar sitzt auf dem Beifahrerplatz, und als er mich erkennt, wedelt er wie besessen mit dem Schwanz. Ich springe in den Truck und Henri fährt augenblicklich los.
»Über das Mädchen in Argentinien gab es eine weitere Meldung«, sagt er.
»Und?«
»Nur eine kurze Bestätigung, dass sie verschwunden ist. Der Bürgermeister hat eine bescheidene Belohnung für Informationen über ihren Aufenthaltsort ausgesetzt. Es klingt, als glaubten sie an eine Entführung.«
»Fürchtest du, dass die Mogadori sie geschnappt haben?«
»Wenn sie Neun ist, wie die Notiz erkennen lässt, die wir gefunden haben, und die Mogadori hinter ihr her waren, ist es gut, dass sie verschwunden ist. Und wenn die Mogadori sie gefangen haben sollten, können sie das Mädchen nicht töten – noch nicht einmal verletzen. Das lässt uns hoffen. Der hervorragende Nebeneffekt an dieser Meldung ist, dass nun wohl jeder Mogadori auf der Erde nach Argentinien reisen dürfte.«
Ȇbrigens, wo wir davon
sprechen – Sam hatte heute die neueste Ausgabe von Und es war
nichts über die Mogadori darin.«
»Das habe ich nicht anders erwartet. Unser Schwebetrick hat offenbar ziemlich Eindruck gemacht.«
Zu Hause ziehe ich mich fürs Training um und gehe mit Henri in den Hof. Mittlerweile fällt es mir leichter, zu arbeiten, während ich brenne. Ich bin nicht mehr so aufgeregt wie an jenem ersten Tag. Ich kann länger den Atem anhalten, fast vier Minuten. Ich habe mehr Kontrolle über die Gegenstände, die ich hochhebe, und ich kann mehr als bisher auf einmal stemmen. Langsam verschwindet die Besorgnis, die ich in den ersten Tagen in Henris Gesicht gelesen habe. Er nickt mehr, lächelt häufiger. Wenn etwas wirklich gut gelingt, bekommt er einen verzückten Blick, reißt die Arme hoch und schreit: »Ja!«, so laut er kann. So bekomme auch ich mehr Vertrauen in meine ererbten Fähigkeiten. Die übrigen müssen noch kommen, aber ich glaube, sie sind nicht mehr weit. Auch das wichtigste Erbe, was immer es sein mag. Die aufgeregte Erwartung hält mich die meisten Nächte wach. Ich will kämpfen, mich rächen. Ich giere nach einem Mogadori, auf den ich mich hier im Hof stürzen kann.
Heute fällt mir das Training leicht. Kein Feuer. Meistens muss ich nur Dinge anheben und sie in der Luft manipulieren. In den letzten zwanzig Minuten wirft Henri mir Gegenstände zu – manchmal lässt er sie einfach zu Boden fallen, dann wieder fälscht er den Wurf so ab, dass die Geschosse sich wie Bumerangs in der Luft drehen und zu ihm zurücksausen. Einmal fliegt ein Fleischhammer so schnell zurück, dass Henri kopfüber in den Schnee abtaucht, um nicht getroffen zu werden. Ich lache. Henri nicht. Bernie Kosar liegt die ganze Zeit auf dem Boden und beobachtet uns interessiert. Nach dem Training dusche ich, mache meine Hausaufgaben und decke den Küchentisch.
»Am Samstag gehe ich übrigens zu einer Party.«
Henri hört auf zu kauen. »Bei wem?«
»Mark James.« Und als er überrascht aufschaut, erkläre ich schnell, bevor seine Einwände kommen: »Das ist jetzt alles vorbei.«
»Nun, du musst es wissen. Vergiss nur nicht, was du riskierst.«