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Woran erkennt man, dass man alt ist?«, fragte Théo.
Die Frage kam umso überraschender, als sie überhaupt keinen Bezug zur vorangegangenen Unterhaltung hatte. Francis nämlich hatte Françoise, die zum ersten Mal an der Mahlzeit teilnahm und nur noch Bahnhof verstand, die elementaren Regeln des Scharfschießens zu erklären versucht.
Dass der Kleine sich mit diesem Problem herumschlug, bewog jeden zu einer Reaktion.
»Das erinnert mich an die Fragen, die sich meine Kollegen für die Abiturprüfungen ausdachten«, bemerkte Madame Quenon amüsiert.
»Ab welchem Alter kann man darauf eine vernünftige Antwort geben?«, fragte Pauline verschmitzt.
»Man ist alt, wenn man anfängt, die Zutatenliste der Lebensmittel zu lesen, und dafür eine Brille braucht«, erklärte Francis. »und man ist alt, wenn man im Bus einen Platz angeboten bekommt!«
»Mir hat man auch schon mal einen Platz im Bus angeboten«, wandte Théo ein. »Und ich bin nicht alt.«
»Aber du bist doch im Vergleich zu den Erstklässler-Larven uralt, oder?«, mischte sich Thomas ein.
»Ich weiß es!«, rief Francis begeistert. »Man ist alt, wenn die Leute mehr auf deine Zähne als auf dein Lächeln achten. Schlimmer noch, du bist alt, wenn man sich mehr um dein Arschloch als um deinen Hosenschlitz kümmert.«
»Herzlichen Dank für diese weitere Info aus dem echten Leben.«
»Aber es stimmt doch! Anfangs sind die Kameras dazu da, Hochzeiten und Geburtstage zu filmen, und dann kommt der Moment, in dem dir klar wird, dass die einzige Filmproduktion, bei der du noch mitspielen wirst, eine Darmspiegelung ist. Mir ist lieber, man filmt die Festsäle der anderen und nicht meinen Künstlereingang.«
»Eine seltsame Art, das Leben zu betrachten«, meinte Françoise. »Sind die Gespräche bei Ihren gemeinsamen Mahlzeiten immer so anspruchsvoll?«
»Nein«, erwiderte Pauline. »Diese intellektuellen Höhen erreichen wir zum ersten Mal. Wahrscheinlich ein Feuerwerk zu Ihren Ehren.«
»Also ich habe die Frage nicht gestellt!«, verteidigte sich Francis.
Leise lächelnd bemerkte Madame Quenon: »Monsieur Lanzac, Sie und ich hatten eine durchaus ähnliche Aufgabe. Auch wenn unsere Tätigkeitsbereiche sehr unterschiedlich waren, so haben wir doch beide junge Leute ausgebildet. Deshalb nehme ich keinen Anstoß. Ich stelle lediglich fest, dass wir beide noch von unseren jeweiligen Fachgebieten beeinflusst werden.«
»Ja, was Sie da sagen, stimmt. Sie haben absolut recht. Wir waren beide Lehrer.«
»Wir wollen die Parallelen nicht übertreiben. Sie brachten ihnen das Schießen bei und ich das Lesen.«
»Beides kann einem das Leben retten.«
»Doch glücklicherweise ist eins im Alltag häufiger hilfreich als das andere.«
»Diejenigen, deren Beruf es ist zu kämpfen, werden gern verachtet, bis dann die Probleme auftauchen …«
»Dieser Gesichtspunkt ließe sich verteidigen – was kein Wortspiel sein soll. Sagen wir, ich empfing meine Schüler im Namen eines Gleichheitsideals, während Sie Ihre aufnahmen, um einer Realität entgegenzutreten, der man besser nie ausgesetzt wird. Doch wer hätte die Macht, uns Prüfungen zu ersparen? Da das Schlimmste nicht immer vermieden werden kann, muss es Menschen geben, die ihm entgegentreten können. Wahrscheinlich war Ihre Mission nicht minder nobel als meine.«
Diese Rede löste in Thomas’ Gedankenwelt ein kleines Erdbeben aus. Keins, von dem die Gebäude Risse bekommen, aber doch eins, das ein paar liebgewordene Andenken umwirft. Pauline stieß einen leisen Pfiff der Bewunderung aus.
»Das war aber hübsch gesagt!«
Dann beugte sie sich über ihren Sohn und strich ihm über den Kopf. »Und einstweilen musst du eben deine eigene Antwort auf deine hochinteressante Frage finden.«
Madame Quenon wandte sich jetzt an Théo: »Weißt du, Théo, als ich noch unterrichtete, kamen jedes Jahr wieder neue kleine Kinder in meine Klasse, und sie fanden mich alle sehr alt. Sie standen am Anfang, und wir am anderen Ende. Das war ihre beschränkte Sicht der Dinge. Und dann, im Laufe der Jahre, bemerkte ich, dass sich diese vereinfachende Sicht bei ihnen änderte. Und ich glaube, Théo, jetzt bist auch du an diesem Punkt. Daher deine Frage. Das Alter ist eine Art, auf die Welt zu blicken, ein Mittel, sich zwischen den anderen zu positionieren. Da spielen die Kerzen auf dem Geburtstagskuchen keine so große Rolle. Ich will dir sagen, was ich persönlich glaube. Du bleibst jung, solange die Probleme, mit denen du fertigwerden musst, von den anderen kommen. Das ändert sich an dem Tag, an dem dir klar wird, dass das, was du geworden bist, dich daran hindert, so zu leben, wie du möchtest. Du bist körperlich oder seelisch an deine Grenzen gestoßen. Du wirst nicht mehr ausschließlich deinen Träumen und Wünschen folgen können. Du wirst auch zum Werkzeug deiner Bedürfnisse, die immer unmittelbarer werden. Bis du nur noch ihr Werkzeug bist. Man ist alt, wenn man sein eigener Feind wird.«