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Kaum hatte Thomas die Mauer zur Fabrik passiert, da bellte Attila los und rannte ihm entgegen. Der Hund wurde immer schneller, bei seinen kraftvollen Sätzen hoben sich die Lefzen und ließen die blitzenden Reißzähne sehen. Thomas wusste genau, dass der Hund die freundschaftlichsten Absichten hatte, dennoch musste er sich sehr beherrschen, um nicht der Panik und den schrecklichen Bildern nachzugeben, die ihn immer noch verfolgten. Mit einem gewissen Stolz klammerte er sich an den Gedanken, dass die Katzen, die doch diese enthusiastische Begrüßung inzwischen kannten, nicht so stoisch standhielten wie er, sondern in alle Richtungen flohen und erst zurückkehrten, wenn sich Attila beruhigt hatte. Der Hund, vom eigenen Schwung fortgerissen, streifte ihn im Vorbeirasen, machte kehrt und umsprang ihn begeistert. Thomas hob die Hände wie ein vom Feind umstellter Soldat. Als die Aufregung des Hundes nachließ, wagte er es und streichelte ihm unbeholfen den Rücken, sehr zu seiner eigenen Freude. Warum auch sollte er sich dieses schlichte Vergnügen eines über sich selbst errungenen kleinen Sieges nicht gönnen?
»Bei jedem anderen Hund, der so wie du auf mich zugestürmt wäre, hätte ich einen tödlichen Herzinfarkt erlitten …«
Michael erschien auf der Schwelle des Torhauses.
»Monsieur Sellac! Welch schöne Überraschung! Kommen Sie herein, ich habe gerade ein neues Regal gebaut, schauen Sie es sich an.«
In wenigen Wochen hatte der ehemalige Wachmann weit mehr geschafft, als das Pförtnerhäuschen nur zu reinigen, er hatte es völlig renoviert. Nachdem er Wände und Decken gestrichen hatte, hatte er die sanitären Anlagen und die elektrischen Leitungen in Ordnung gebracht, in dem kleinen Hinterzimmer, das nun als Schlafzimmer diente, ein richtiges Bett aufgestellt und dann die Wände mit einer ganzen Reihe von Regalen und Schränken bestückt, die er aus alten Brettern und Möbelstücken gebastelt hatte. Michael legte einen ungeheuren Erfindungsgeist an den Tag. Wenn man es mit seinem vorherigen Rattenloch verglich, lebte er jetzt in einem Vier-Sterne-Hotel.
»Hier sind Sie doch besser untergebracht, nicht wahr?«
»Ganz sicher, nur nicht was die Akustik angeht. Wenn ich singen möchte, gehe ich manchmal noch in den Bunker hinunter.«
»Es bleibt doch dabei, und Sie essen morgen Abend mit uns?«
»Sehr gern.«
»Haben Sie über Ihre Rückkehr nach Côte d’Ivoire nachgedacht?«
»Ich denke die ganze Zeit darüber nach, aber ich will nichts überstürzen. Im Augenblick fehlt mir sowieso das nötige Geld. Ich habe große Sehnsucht nach meiner Familie, aber ich will nicht mit leeren Händen kommen …«
»Wie meinen Sie das?«
»Nachdem ich so lange fort war, möchte ich ihnen etwas mitbringen, worüber sie sich freuen. Ich weiß, dass meine Mutter über nichts glücklicher und stolzer wäre, als wenn ich mit einer Stelle oder doch zumindest mit einem echten Projekt zurückkäme. Dann wüsste sie, dass ihre Opfer nicht vergebens waren. Ich glaube, ich werde wieder anfangen, etwas zu lernen.«
»Wunderbar!«
»Dann kehre ich nicht zurück, um Hilfe zu suchen, sondern um zu zeigen, dass ich mir selbst helfen kann.«
»Ein sehr guter Gedanke. Ihre Mutter wird sehr glücklich sein. In welche Richtung gehen denn Ihre Ausbildungswünsche?«
»Ich weiß noch nicht genau. Vielleicht Kochen oder der medizinische Bereich. Wenn ich Sie und Madame Pauline arbeiten sehe, denke ich, dass Sie schöne Berufe haben.«
»Warum nicht? Nur zu! Sie sind jung und haben Potenzial. Wenn Sie Hilfe brauchen, können Sie auf mich zählen.«
»Danke, Doktor.«
Attila apportierte Thomas einen Ball, doch der war noch nicht so weit, dass er ihm ins Maul gegriffen hätte, um ihm das Spielzeug abzunehmen …
»Michael, ich möchte Ihnen gern eine Frage stellen. Bitte antworten Sie mir ganz offen.«
»Die Wahrheit, nichts als die Wahrheit.«
»Haben Sie schon etwas anderes gesungen als Opernarien?«
»Welche Art Musik meinen Sie?«
»Ich weiß noch nicht, aber ich möchte jemanden überraschen, und ich weiß, dass es keinen besseren Interpreten gibt als Sie.«
»Danke, das ist nett von Ihnen. Manchmal singe ich Chansons, aber nur sehr selten … Geht es um einen Geburtstag?«
»Fast. Wären Sie bereit, mir diesen riesigen Gefallen zu tun?«
»Für Sie würde ich alles tun, Doktor. Ich hoffe nur, ich bin auch dazu imstande.«
»Dass Sie dazu bereit sind, freut mich enorm. Sie brauchen nur Sie selbst zu sein, dann wird alles perfekt.«