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Als Thomas seine Mails abrief, hoffte er auf eine Nachricht von Kishan. Und freute sich enorm, im Posteingangsfach zwischen den Werbemails und administrativen Nachrichten die Adresse seines Freundes auftauchen zu sehen. Doch es gab eine Überraschung:
Hello Thomas,
ich hoffe, bei dir ist alles in Ordnung und alles läuft gut in deinem Land. Aus deinem letzten Brief habe ich geschlossen, dass deine Stimmung gut ist, und das freut mich. Gestern kamen zwei Abgesandte einer internationalen Organisation ins Dorf. Es war ein echtes Ereignis, denn sie kamen mit einem Hubschrauber. Die Hühner und Ziegen hatten große Angst, aber die Kinder fanden es sehr interessant. Es staubte überall wie bei einem Unwetter! Sie sind keine Ärzte, sie sollen einen Bericht über die Lage in unserer Region machen. Sie sagen, dass es an der Grenze ruhig ist, dass sie aber fürchten, dass diese Ruhe nicht anhält. Sie sprachen davon, uns umzusiedeln. Damit ist niemand einverstanden, und mein Vater hat es ihnen gesagt. Sie haben viele Fotos gemacht, und ich habe den Netteren der beiden gefragt, ob er nicht auch eins von uns allen machen könnte, um es dir dann zu schicken. Ich hoffe, es gefällt dir.
Bis bald!
Dein Freund Kishan
Als er auf den Anhang klickte, überfielen ihn Gefühle, auf die er nicht gefasst gewesen war. Das Bild seiner Freunde schien aus dem Bildschirm zu treten und lebendig zu werden. Alle hatten sich am Brunnen versammelt und winkten ihm zu. Einen Augenblick lang glaubte Thomas ihre Stimmen zu hören. Er hätte die wenigen Schritte zurücklegen können, die sie trennten, dann wäre er bei ihnen gewesen und hätte die Hand ausgestreckt und sie berührt.
Dieses Glücksgefühl umhüllte ihn ganz und gar, bevor es wie ein vom Wind verwehter Rauchkringel verflog. Als ihm klar wurde, dass es ja nur ein Foto war, verwandelte sich sein tiefes Glück in ebenso starke Wehmut. In dem Versuch, die Wirkung zu verlängern und denen nahe zu bleiben, die ihm so sehr fehlten, klammerte er sich an jedes Detail auf dem Foto. Er betrachtete den lächelnden Kishan, der von seinen Kindern und Jaya umringt wurde, bewunderte Shefalis schönes Haar, amüsierte sich über Anil, der nie wusste, wohin er sehen sollte, und bewunderte Darsheel, der stattlich wirkte wie immer. Die Kinder waren schon beträchtlich gewachsen. Er erschauerte beim Anblick des Dorfes und der Berge im Hintergrund. Lange blieb er so sitzen und versuchte, sich in der Aufnahme zu verlieren.
Pauline hatte es richtig erkannt, er beobachtete gern. Und sie hatte sicher recht, wenn sie ihm empfahl, das wirkliche Leben »anzufassen«. In diesem Augenblick kam Thomas zum ersten Mal der Gedanke, die Leute im Dorf noch einmal zu besuchen. Nicht, um sie zu retten oder dort bis ans Ende seiner Tage zu leben, einfach nur, um ein bisschen bei ihnen zu sein und sie zu lieben.