92
Und ich fand die indisch-pakistanische Grenze gefährlich …«
»Gewalt gibt es überall, wo Menschen leben, Doc.«
Vom Pförtnerhaus aus, in dem keinerlei Licht brannte, überwachten Thomas, Francis und Jean-Michel die Fabrikeinfahrt, während Michael im Hinterzimmer Attila zu beruhigen versuchte. Der Hund war genauso fertig mit den Nerven wie sein Herr. Die Männer hatten den Tag damit verbracht, sich aufs Schlimmste vorzubereiten. Mit Einbruch der Dunkelheit hatte sich ein wenig Furcht in ihren Kampfgeist geschlichen.
Die Scheinwerfer tauchten den Vorplatz in ein grelles kaltes Licht. Auf der Zufahrt vom Fabriktor zum Pförtnerhaus hatten Michaels Komplizen allerlei Hindernisse aufgestellt, um die Angreifer ein wenig aufzuhalten. Im Häuschen selbst hatten sie alles aufgehäuft, was als Waffe, Schild oder Geschoss dienen konnte. In äußerster Gefahr blieb ihnen immer noch das Klofenster, durch das sie sich in das Labyrinth der Werkstätten dahinter zurückziehen konnten. Diese Möglichkeit hatten alle in Betracht gezogen, auch wenn sie von niemandem zur Sprache gebracht worden war.
Jean-Michel spähte durch die zerbrochene Fensterscheibe.
»Dieser Anblick erinnert mich an einen Western. Eine Handvoll Bauern versucht eine Hazienda gegen eine Bande gewissenloser Diebe zu verteidigen, die sich das Land aneignen wollen. Als Waffen gegen die brutalen Verbrecher haben sie nur Mistgabeln und Knüppel. Die Frauen haben sich in die benachbarte Kapelle geflüchtet, und die Kavallerie weigert sich, sie in dieser Gegend, die nicht zu ihrem Dienstbereich gehört, zu verteidigen. Ganz wie bei uns …«
»Bitte erzähl nur weiter, wenn es ein Happy End gibt«, unterbrach ihn Francis.
»Dann rede ich wohl lieber nicht weiter … Aber ihr sollt noch wissen, dass diese bescheidenen Bauern für den ganzen Westen zu legendären Helden wurden und dass ihr Opfer dem ganzen Land die Kraft gab, sich zu befreien.«
»Du kennst nicht zufällig eine Version, in der die Bauern den Schurken eine hübsche Abreibung verpassen?«
»Nein, keine einzige.«
»Dann vielen Dank für deine Unterstützung, Jean-Michel.«
Thomas steckte den Kopf in Michaels Schlafzimmer. Der junge Mann saß auf dem Bett und versuchte, ruhig und entschlossen zu wirken, doch seine Furcht war trotz allem sichtbar. Attila hatte ihm die Schnauze auf den Schenkel gelegt.
»Wie fühlen Sie sich?«
»Ich hätte weniger Angst, wenn ich mit offenen Augen vor zehntausend Menschen singen müsste.«
»Ich werde Sie bei passender Gelegenheit daran erinnern. Sie hätten im Heim bleiben sollen.«
»Und Sie allein kämpfen lassen, um diesen Ort, den ich eigentlich bewachen müsste, zu verteidigen?«
Thomas ließ das Thema fallen.
»Haben Sie wirklich gar keine Ahnung, wie viele es waren?«, fragte er.
»Ich war in Panik. Ich dachte gar nicht daran, sie zu zählen, aber es waren mindestens zehn.«
»Wie in meinem Western!«, bemerkte Jean-Michel.
Francis reagierte leicht sauer: »Schade, dass wir nicht früher von diesem Angriff wussten, sonst hätten wir uns Sombreros kaufen können wie die von den Bauern in deinem Film. Als Kind hatte ich mal einen großen. Meine Eltern hatten ihn von einer Amerikareise mitgebracht. Ich sah damit ganz schön gefährlich aus. Keine Ahnung, wie ich heute damit wirken würde …«
Jean-Michel bemerkte nachdenklich: »Einmal haben wir unserem Sohn zu Weihnachten ein Pu-der-Bär-Kostüm geschenkt. Ich hatte es vorher anprobiert.«
»Im Ernst? Du willst, als Pu-der-Bär verkleidet, eine Hazienda verteidigen? Das ist vielleicht wirklich der beste Weg, zu einer Legende des Wilden Westens zu werden …«
Jean-Michel wehrte die Kritik mit einer verächtlichen Handbewegung ab. Thomas zog plötzlich seine »Waffe« und übte sich im Zielen. Francis beobachtete ihn belustigt.
»Unser Pazifist hat sich also eine von Théos Pistolen ausgeliehen …«
»Von Weitem ist überhaupt nicht zu erkennen, dass man damit nur Wasser schießen kann«, verteidigte sich Thomas. »Sehen Sie doch sich selbst an! Mit Ihrem Gewehr ohne Munition!«
Francis trat einen Schritt auf ihn zu und flüsterte: »Ich will Ihnen ein Geheimnis verraten, mein Junge: Nicht die Waffe macht den Mann.«
Jeder konzentrierte sich wieder schweigend auf die Überwachung. Die Zeit verging langsam. Schließlich murmelte Francis, den Vorplatz immer noch fest im Blick behaltend: »Doc, erinnern Sie sich an den Abend, an dem Sie uns fragten, was wir noch vom Leben erwarten?«
»Natürlich.«
»Seither geht mir Ihre Frage durch den Kopf. Und letzten Endes glaube ich, Sie waren es, auf den ich noch hoffte. Auf die große Reise zu gehen, ohne Sie kennengelernt zu haben, wäre schade gewesen. Ich habe noch nie jemanden erlebt, der sich derart in aussichtslose Pläne verrennt, aber es gefällt mir wirklich. Falls mir diese kleinen Idioten meine schöne neue Brücke im Mund zerbrechen, helfen Sie mir dann beim Ausfüllen des Krankenkassenformulars?«
»Verzeihen Sie, meine Herren«, unterbrach ihn Jean-Michel, »aber ich sehe da Bewegungen am Zaun.«
Ein Motorrad war gerade vor dem Tor abgestellt worden. Francis kniff die Augen zusammen und sagte knapp: »Gentlemen, unsere Gäste sind da.«