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Es war dunkel und ein wenig frisch. Nach der Gluthitze des Tages genoss Thomas die angenehme Kühle. Es saß vorn auf einem Felsvorsprung über einem weltverlorenen Tal in Kaschmir, im Nordwesten Indiens, und betrachtete das Dorf Ambar, das sich unter ihm ausbreitete. Er kannte hier jeden Einwohner und jedes Haus. Aus einigen der an den Hängen klebenden Hütten stieg duftender Rauch auf, immer wieder vermischt mit Funken, die zu den Sternen emporflogen und bald nicht mehr von ihnen zu unterscheiden waren. Die Gespräche der Frauen am Brunnen, das Geräusch des Wassers in den Eimern und das Klappern der Blechgerätschaften zeugten von den Vorbereitungen für das Abendessen. Allerdings würden die heute Abend servierten Gerichte nichts mit denen gemein haben, die den kulinarischen Ruf Indiens begründen. Hier gab es keine prächtigen Paläste und Shiva-Tempel, keine bunte Menge und keinen einzigen auf einem Elefanten reitenden Touristen. Nur ein paar Menschen, die an dem Ort, den ihnen das Schicksal zugewiesen hatte, zu überleben versuchten.

Beim Anblick der Kinder und Hunde, die unter freudigem Gekreisch und Gebell miteinander spielten, lächelte Thomas. Schwer zu sagen, wer da wen jagte, doch Mensch und Tier wirkten gleichermaßen glücklich. Selbst in den unwirtlichsten Gegenden können sich die Menschen amüsieren, wenn ihnen das Leben nur die nötige Zeit dazu lässt.

Seit dem ersten Tag, an dem ihn der Dorfvorstand zu diesem Aussichtspunkt hinaufgeführt hatte, um ihm die Lage des Dorfs zu zeigen, mochte Thomas diesen Ort. Nach vollbrachtem Tagewerk stieg er gern hier herauf, um sich auf die Steinbank zu setzen, die das Wetter in Tausenden von Jahren gemeißelt hatte. Tagsüber hatte man eine unendlich weite Sicht über die von Menschen geformten Landschaften und Grenzen hinweg bis hin zu den Ausläufern des Himalajas. Nachts sah man nur noch die Dorfbewohner im flackernden Licht ihrer Lampen. Die Dunkelheit zeigt einem oft das Wesentliche. In letzter Zeit zog sich Thomas noch häufiger auf diesen Ausguck zurück. Er brauchte Abstand, um nachzudenken. Besonders seit einigen Wochen.

Stimmen stiegen vom Dorf auf. Auch wenn Thomas nur einige Wörter verstehen konnte, er liebte die Melodie dieser Sprache. Sajani versuchte, ihre Kinder ins Haus zu schicken, damit sie endlich ihre Schulaufgaben machten. Der alte Kunal legte – wie jeden Tag um fast genau die gleiche Zeit – schimpfend die Steine zurück, die die Ziegen bei ihren Kapriolen von seinem Mäuerchen gestoßen hatten. Eine friedliche Dämmerung beschloss einen Tag ohne Katastrophen. Was in dieser Gegend einem Wunder gleichkam.

Im Licht des Vollmonds beobachtete Thomas sie bei ihren jeweiligen Tätigkeiten. Mit präzisen, raschen Gesten schärfte Kailash seine Werkzeuge für den nächsten Tag; Rekha reparierte das Gitter seines Hühnerstalls. Thomas hatte mit jedem von ihnen wichtige Momente erlebt. Er hatte sie behandelt und manchmal gerettet. Doch viel zu oft hatte er das Schlimmste nicht verhindern können. In Glück und Unglück hatte er an ihrer Seite extreme Gefühle erlebt, Gefühle, die an die Grenzen dessen führen, was wir wirklich sind, sobald alles Künstliche nutzlos geworden ist, wenn das Leben sich auf ein so starkes Konzentrat von Emotionen reduziert, dass es einem die Eingeweide und das Herz zerreißen kann.

Thomas hatte sich für diese tapferen Menschen oft ein leichteres Leben gewünscht, das sich im Laufe der Tage so abmildern würde, dass sie es mit weniger Leid genießen könnten. Aber wer entscheidet über das, was wir aushalten müssen? Wer hat die Macht, zwischen den Schicksalsschlägen Pausen eintreten zu lassen? Wer kann uns das Nichtwiedergutzumachende ersparen? In Indien ist der Glaube überall, doch die Götter haben wohl so viele Lasten zu tragen, dass sie nicht die ganze Zeit auf ein paar arme Teufel aufpassen können. Hier akzeptiert das jeder und hofft weiter. Wesentlich ist, dass man eine Zukunft hat, auch wenn sie nur aus dem nächsten Tag besteht.

Weil er tagtäglich mit dem Dringendsten völlig ausgelastet gewesen war, hatte sich Thomas nie wirklich die Zeit genommen, über die Tragweite dessen nachzudenken, was er in Ambar erlebt hatte, doch in den letzten Wochen stiegen all die Erinnerungen auf. Als wäre es jetzt an der Zeit, Bilanz zu ziehen.

Acht Jahre zuvor war er mit einem internationalen Ärzteteam in den Distrikt Kupwara gekommen, um der unter dem heftigen Grenzkonflikt mit Pakistan leidenden Bevölkerung beizustehen. Von genau der Stelle aus, an der er sich heute Abend befand, hatte er zum ersten Mal die in die Hänge getriebenen breiten Terrassen gesehen, auf denen die Bauern mühsam das Lebensnotwendigste anbauten. Er hatte diese unschuldigen Menschen beobachtet, die aufgerieben wurden zwischen einem Territorialkrieg, auf den sie keinen Einfluss hatten, und der Natur, die ihnen ihre Aufgabe auch keineswegs immer leicht machte. Von oben gesehen wirkten die Einheimischen wie Insekten, die sich auf dürren Ästchen abmühten. Warum gehen sie nicht weg?, hatte er sich anfangs gefragt. Warum verlassen sie diese gefährliche Region nicht, in der die Hindus in der Minderzahl sind und das Leben so hart ist? Seither hatte er sie kennengelernt und wusste, dass sie nichts mit Insekten gemein hatten und hier an ihrem Platz waren.

Das Ärzteteam hatte schließlich zusammengepackt und war gegangen. Er nicht. Eigentlich hatte er nur eine knappe Woche länger bleiben sollen, um sich um einen kleinen Jungen zu kümmern, der an starkem Fieber litt. Anders als viele andere war der Kleine durchgekommen, trotzdem war Thomas geblieben. Wieso, hatte er sich nie gefragt, bis vor Kurzem. Wahrscheinlich hatte er damals noch weniger Gründe gehabt zu gehen, als zu bleiben. Hier hatte er sich sofort nützlich gefühlt. Die Leute brauchten ihn. Mit der Zeit hatte dieser hellhäutige Mann schließlich seinen Platz gefunden. In tödlichen Wintern, brennenden Sommern und unter Monsunregenfällen, die alles mit sich rissen, hatte Thomas in Ambar den Wert des Lebens entdeckt. Und seine Zerbrechlichkeit.

Ein Rascheln in den Büschen riss Thomas aus seinen Überlegungen. Er drehte sich um und bohrte den Blick in die Dunkelheit. Sein Herz schlug schneller. Kein Zweifel, ganz in seiner Nähe hatte sich etwas bewegt. Mehr als alles andere fürchtete er, die Augen oder Reißzähne eines wilden Hundes aufblitzen zu sehen. Plötzlich wurde ihm bewusst, dass er den Knüppel vergessen hatte, den Kishan immer mitnahm, wenn er hier heraufkam. Alle Leute der Gegend fürchteten sich vor den wilden Hunden. Diese Teufel waren zu jeder Tollkühnheit fähig, vor allem wenn Futter oder eine leichte Beute winkten. Thomas hatte es einige Jahre zuvor, als er Neetu gerettet hatte, am eigenen Leibe erlebt. Während er die junge Frau nach ihrem schweren Sturz in einem Nachbartal zu stützen versuchte, hatte er gegen ein Rudel Hunde – manche behaupteten sogar, es seien Wölfe gewesen – kämpfen müssen, die vom Geruch ihres Blutes angelockt worden waren. Schreiend, um sich tretend und mit dem freien Arm fuchtelnd hatte er die Tiere so lange auf Distanz halten können, bis seine Hilferufe gehört wurden. Er hasste es, sich an diese Geschichte zu erinnern, erstens weil er wirklich geglaubt hatte, die Hunde würden ihn zerreißen, und dann, weil er sich so lächerlich gefühlt hatte, als er da schreiend herumgefuchtelt hatte, kaum fähig, Neetu zu beschützen und die Situation wieder unter Kontrolle zu bekommen. Er hatte mit einem Mal erfahren, wie es ist, wenn man nichts mehr beherrscht und fürchtet, das Ende sei nahe. Er, der an die Kraft hehrer Ideen geglaubt hatte, hatte nüchtern feststellen müssen, dass die schönsten Ideale und ein reines Herz nichts gegen eine Horde streunender Hunde ausrichten können. Es hatte ihn zutiefst verängstigt. Sich daran zu erinnern, und sei es nur ganz kurz, ließ ein eisiges Frösteln über seinen Rücken gehen. Diese Erfahrung hatte zwei konkrete Konsequenzen für Thomas’ Leben gehabt: Er hatte jetzt den – seiner Ansicht nach völlig unberechtigten – Ruf, ein tapferer Mann zu sein, und außerdem eine panische Angst vor Hunden, die bei den Kindern regelmäßig große Heiterkeit auslöste.

Wieder raschelte es in der Dunkelheit, ohne dass Thomas den Urheber des Geräuschs hätte ausmachen können. Er erschauerte. Adrenalin schoss durch seine Adern. Ohne seine Umgebung aus den Augen zu lassen, tastete er nach dem nächstbesten Stein. Der war viel zu klein und würde ihm nichts nützen, dennoch beruhigte er ihn. Ein Knacken. Nicht mehr aus dem Gebüsch, sondern vom Pfad her. Wenn diese verdammten Biester sich über den Pfad näherten, schnitten sie ihm den Weg ab. Keine Möglichkeit zur Flucht. Thomas, der Panik in sich aufsteigen fühlte, überlegte, welche Überlebenschancen er hätte, wenn er vom Felsvorsprung Richtung Dorf spränge. Er stellte sich schon vor, wie er auf das Dach einer Hütte stürzte, das seinem Gewicht sicher nicht standhalten würde. Plötzlich tauchte eine Gestalt aus dem Dunkel auf.

»Wenn ich gemein wäre, hätte ich ein Hundeknurren nachgeahmt … Du solltest dich mal sehen! Du bist bleicher als der Mond!«

Kishans Gesicht wurde von einem Lächeln erhellt.

»Du hast mir vielleicht eine Angst eingejagt«, sagte Thomas atemlos.

»Dann denkst du wenigstens beim nächsten Mal an den Knüppel.«

Thomas ging seinem Freund entgegen.

»Endlich bist du zurück.«

»Ich bin gerade erst angekommen. Rajat hat mir gesagt, dass er dich hier hinaufsteigen sah.«

»Du solltest doch gestern schon zurück sein. Ich habe mir Sorgen gemacht. Dein Vater sagte mir, dass du bis nach Srinagar musstest.«

»Ja. In einer wichtigen Angelegenheit.«

Thomas fragte nicht nach, doch es wunderte ihn, dass Kishan keinen Grund für seine Reise nannte. Normalerweise hatten sie keine Geheimnisse voreinander.

»Ich habe die Gelegenheit genutzt und beim Roten Kreuz in der Ambulanz vorbeigeschaut«, sagte Kishan. »Um etwas für unseren Arzneischrank mitzubringen.«

»Es war noch nicht dringend, aber danke.«

Die beiden Männer setzten sich, zum Tal gewandt, nebeneinander. Irgendwo unten begann eine Frau leise zu singen. Thomas seufzte, er war wirklich froh, nicht mehr mit seinen Gedanken allein zu sein.

»Heute Morgen habe ich den alten Paranjay besucht«, sagte er nach kurzem Schweigen.

»Wie ist sein Zustand?«

»Nicht schlecht, aber es wäre besser, wenn er näher am Dorf leben würde. Dieses Mal hat er noch Glück gehabt. Trotzdem, wenn wir ihn nicht eines Morgens tot in seiner Hütte finden wollen, müssen wir ihn im Auge behalten.«

»Mein Vater wird mit ihm sprechen. Wir finden einen Platz für ihn.«

Sie schwiegen eine Weile.

»Du kommst immer öfter hier herauf, nicht wahr?«, fragte Kishan plötzlich.

»Es tut mir gut.«

»Denkst du an diese Frau, zu Hause in eurem Land?«

Thomas senkte den Blick.

»Ich denke weniger an sie als an das, was sie wahrscheinlich erlebt hat, nachdem ich sie verlassen habe.«

Obwohl er normalerweise auch vor den direktesten Fragen nicht zurückschreckte, zögerte Kishan, bevor er fragte: »Mein Freund, weißt du, welchen Tag wir heute haben?«

»Nein.«

»Wir feiern Raksha Bandhan, das Fest der Brüderlichkeit.«

»Aber das habt ihr doch in den letzten Jahren nicht gefeiert …«

»Heute Abend ist es anders. Für die Brüder und Schwestern, für die, die nicht unbedingt derselben Familie entstammen, aber enge Beziehungen unterhalten, ist das der Tag, an dem man sich sagt, wie wichtig man füreinander ist.«

Thomas beäugte seinen Freund misstrauisch. Selbst im Halbdunkel konnte er seinen Blick auffangen.

»Wenn du mir mal wieder einen dieser Tränke anzudrehen versuchst, die ein ausgewachsenes Yak umwerfen …«

»Nein, Thomas, ich habe drei kleine Schwestern und einen jüngeren Bruder. Aber heute Abend möchte ich dir sagen, dass ich dich als meinen großen Bruder betrachte.«

Am Klang der Stimme merkte Thomas, dass es seinem Freund ernst damit war.

»Danke, Kishan. Das bedeutet mir enorm viel. Du weißt, wie wichtig auch du mir bist.«

Beide hatten das Bedürfnis, sich in die Arme zu schließen, doch das verbot ihnen ihr Schamgefühl.

»Der Tradition gemäß tauscht man am Raksha-Bandhan-Tag geflochtene Armbänder und manchmal auch Geschenke aus … Es ist natürlich vor allem symbolisch. Aber ich habe ein Geschenk für dich, Thomas. Ich glaube, es ist ein wichtiges Geschenk, auch wenn es dir das Leben nicht leichter machen wird …«

»Wenn es ein Welpe ist, behalt dein Geschenk!«

Sie lachten.

»Und ich, was kann ich dir schenken?«, überlegte Thomas dann. »Ah! Ich weiß! Ich schenke dir mein Schweizer Messer, das hat dir doch immer so gefallen. Aber du musst mir dafür ein Geldstück geben. Das ist in meinem Land so Sitte. Es heißt, wenn man etwas mit einer Schneide verschenkt, ohne ein Geldstück dafür zu bekommen, riskiert man es, die Freundschaft zu zerschneiden.«

Ausnahmsweise ging Kishan nicht auf den scherzhaften Ton ein, den sein Freund anzuschlagen versuchte. Er wirkte sehr konzentriert.

»Dein Messer ist ein sehr schönes Geschenk, aber bitte lass mich ausreden.«

Er schwieg kurz und fuhr dann fort: »In all den Jahren, die du nun schon bei uns im Dorf lebst, hast du mir viel beigebracht. Du weißt Tausende von Dingen, von denen ich nicht die geringste Ahnung habe. Aber heute Abend weiß ich etwas, das du nicht weißt und das dein Leben verändern wird.«

»Du beunruhigst mich …«

»Ich kenne dich, Bruder, und ich schwöre dir, es ist für mich seltsam zu wissen, dass dein Leben heute Abend auf den Kopf gestellt wird. Ich freue mich, dabei sein zu dürfen, auch wenn mir das, was dann folgt, Schmerz bereiten wird.«

»Wovon redest du? Du machst mir wirklich Angst.«

»Mein Stolz ist größer als meine Sorge, weil ich dem Schicksal mit meinem Geschenk helfe, dir deinen Weg zu zeigen. Und ich weiß, dass dieser Weg, der sich jetzt abzeichnet, der einzig richtige ist.«

Kishan zog einen Umschlag aus seiner Jacke und stand auf, um ihn Thomas wie eine Opfergabe mit beiden Händen zu überreichen.

»Das ist für dich.«

»Was ist das?«

»Mach ihn auf.«

Kishan richtete seine Taschenlampe auf den Umschlag. Am Schwanken des Lichtstrahls erkannte Thomas, dass die Hände seines Freundes zitterten. Er schlitzte den Umschlag auf und zog drei Blätter heraus. Im Lichtkreis erkannte Thomas das Foto eines jungen Mädchens. »Emma«. Unter dem Vornamen eine Adresse in Frankreich. Auf allen Seiten waren unterschiedlich große Fotos abgedruckt. Eine jüngere Emma auf einem Pony. Emma, fröhlich auf einer Geburtstagsparty. Emma als Pirat verkleidet. Eine ganz kleine Emma neben einer Sandburg, die größer ist als sie. Emma, auf einem Stuhl stehend und in einem Kochtopf rührend. Emma als junges Mädchen im langen Kleid mit Freunden auf einem Ball. Emma auf Skiern, strahlend und umrahmt von zwei Jungen, die sie auf die Wangen küssen …

Kishan kommentierte die Bilder: »Sie hat deine Augen, und ihr Haar hat dieselbe Farbe wie deins. Sieh mal da auf dem kleinen Pferd, sie hat genau deine Haltung. Und ihre Grübchen, erkennst du sie wieder? Sieben Monate nachdem du deine Freundin verlassen hast, ist sie zur Welt gekommen. Es gibt keinen Zweifel. Es ist so, wie es aussieht. Sie ist deine Tochter.«

Thomas antwortete nicht. Eine Sturzwelle ergoss sich in ihm und überflutete Herz und Hirn. Er hatte oft um die Kinder anderer geweint, doch jetzt weinte er zum ersten Mal um sein eigenes Kind. Mit brüchiger Stimme fragte er:

»Bist du deshalb bis nach Srinagar gegangen?«

»Ich wollte die Antwort auf die Frage finden, die dich quält, seit du diesem Kindheitsfreund begegnet bist. Ich habe gesehen, wie du reagiert hast, als er von deiner früheren Freundin und ihrem Kind sprach.«

»Wie hast du es angestellt?«

»Der Sohn eines Cousins meines Vaters ist beim Militär. Er hat Zugang zu einem Computer mit Internetanschluss. Er konnte recherchieren und mir die Ergebnisse ausdrucken.«

Thomas konnte den Blick nicht von den Fotos lösen. »Emma«. Auf wenigen eher unscharfen Bildern zeichneten sich die Jahre ab, in denen ein kleines Mädchen zur jungen Frau herangewachsen war. Auf einem der Abzüge erkannte er im Hintergrund die Mutter, Céline. Er fühlte einen Kloß im Hals. Seither hatte er für keine Frau mehr wirklich etwas empfunden. Warum hatte sie ihm nichts davon gesagt? Am schlimmsten wäre es gewesen, wenn sie es versucht hätte, aber vergeblich … Er hatte so oft den Einsatzort gewechselt. Es war Thomas unmöglich, sich auszumalen, was dieses kleine Mädchen und seine Mutter in der Zeit zwischen diesen Fotos erlebt haben mochten; schon bei dem Versuch wurde ihm schwindelig. Inzwischen war Emma etwa so alt wie Thomas, als er fortgegangen war. Das junge Mädchen wirkte fröhlich, die Mutter auch, doch was hatten sie durchmachen müssen, um ohne den Mann, der bei ihnen hätte sein müssen, im Leben voranzukommen? Thomas wischte sich die Augen. Seine Hände zitterten jetzt viel stärker als Kishans. Dieser zwang sich ein Lächeln ab.

»Und jetzt, Bruder, welchen Satz möchtest du auf keinen Fall hören?«

»Nein, Kishan, bitte nicht dieses Spiel … Nicht jetzt. Normalerweise stelle ich dir diese Frage.«

»Heute Abend bin ich an der Reihe. Und ich werde dir sagen, was du auf keinen Fall hören willst: Es bleibt dir hier nichts mehr zu tun. Du hast uns viel geschenkt. Du gehörst zu uns. Hier im Tal lobt jeder den Tag, an dem du beschlossen hast, bei uns zu bleiben. Ohne dich wäre meine kleine Schwester nicht mehr am Leben, und meine Frau wäre vor zwei Wintern gestorben. Wir alle schulden dir etwas. Du hast ohne Rücksicht auf dich selbst immer nur gegeben. Es wird sehr wehtun, wenn du fortgehst, aber jetzt musst du in dein Land zurückkehren. Seit du etwas von der Existenz deiner Tochter ahnst, bist du nicht mehr du selbst. Ich sehe es deutlich. Also geh zu ihr. Deine Zeit bei uns ist jetzt zu Ende. Wenn du länger bleibst, wird es dich nur zerstören.«

Thomas’ Tränen begannen wieder zu fließen, ohne dass er es merkte. Eingesperrte Gefühle suchen sich ihren Weg, wie sie können.

»Trockne deine Tränen, mein Freund. Sie locken nur die wilden Hunde an, die dich verschlingen werden.«

»Spotte ruhig über mich, aber du hast deinen Knüppel auch vergessen.«

»Ich hatte anderes im Kopf, als ich hier heraufkam …«

Kishan sprang plötzlich auf und streckte den Finger aus.

»Da! Hinter dir! Ich sehe einen großen Hund mit gebleckten Zähnen!«

Thomas rannte den Hang hinunter, doch als er seinen Freund schallend lachen hörte, begriff er, dass es nur ein Scherz war, einer der vielen, die sie sich gern erlaubten.

»Innerhalb weniger Minuten enthüllst du mir Emmas Existenz und willst mir weismachen, dass mich Hunde angreifen. Du willst wohl ausprobieren, wie robust mein Herz ist?«

»Ich kenne dein Herz sehr genau, und ein Herzanfall wäre jetzt wirklich keine gute Idee, denn du bist der einzige Arzt im Umkreis von vierzig Kilometern!«

Kishan streckte Thomas die Hand hin, um ihm wieder auf den Pfad zu helfen.

»Komm. Mein Vater erwartet uns im Tal.«

Unmöglich zu sagen, von wem es ausging, doch jetzt wagten sie es, sich zu umarmen.

Monsieur Thomas und das Geschenk der Liebe
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