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Sie dachten doch, dass diese Leute Monate brauchen würden …«
»Ich hätte darauf gewettet. Ich verstehe das nicht.«
Noch einmal überflog Thomas das behördliche Schreiben, um sicherzugehen, dass ihm keine Einzelheit entgangen war.
»Sie bitten mich nicht einmal um eine Stellungnahme oder einen Betriebsbericht. Dabei bin doch vorerst noch ich der Direktor hier!«
»Woher kommt die Frau, die hier die Inspektorin spielen soll?«
»Anscheinend aus dem städtischen Sozialamt.«
»Wie finden Sie das Ganze?«
»Ich weiß auch nicht, Pauline. Dass sie jemanden schicken, bedeutet vermutlich, dass die Kritik des Exdirektors offene Ohren gefunden hat. Der Gedanke, das Heim zu schließen, liegt denen wohl nicht völlig fern.«
»Ist Ihnen klar, was für ein Schock das für die Heimbewohner wäre? Ein Trauma für jeden Einzelnen von ihnen. Warum haben die es eigentlich so auf uns abgesehen? Wir stören doch hier niemanden. Wir sind zwischen einem Schrottplatz und einer zerfallenen Fabrik eingeklemmt – ein wunderbares Symbol! Bis hierher wagen sich die Leute nicht mal im Auto …«
»Wir kosten Geld, Pauline, und wenn ich das Klima, das ich nach meiner Rückkehr erlebe, richtig einschätze, dann versucht hier jeder, wo immer es möglich ist, noch ein bisschen mehr herauszuschlagen.«
Pauline zuckte müde die Schultern.
»Wie dem auch sei, ich muss mich jetzt um die Morgentoilette kümmern, ich bin schon spät dran.«
Sie entfernte sich durch den Gang, doch an der Ecke blieb sie noch einmal stehen.
»Wissen Sie, Doktor, dass ich meinen Job verlöre und gehen müsste, wäre noch nicht einmal das Schlimmste für mich. Ich mag diesen Ort. Und vor allem mag ich, was ich hier erlebe. Inzwischen hänge ich an den Heimbewohnern. Ich höre ihnen gern zu, wenn sie ihre Dummheiten erzählen. Ich mag es, wie sie sich kabbeln und doch sehr besorgt umeinander sind. Ich mag es, dass mein Sohn allen Fragen stellt, und ich höre ihn gern laut lachen, wenn er draußen mit dem Hund spielt. Und ich mag es auch sehr, wenn wir beide am Flussufer sitzen. Es ist sicherlich dumm, aber ich fühle mich hier ein bisschen wie in der Familie, die ich nicht habe gründen können.«
Thomas machte einige Schritte auf sie zu.
»Das verstehe ich. Auch ich habe viel zu verlieren. Ich war nicht auf das gefasst, was ich hier gefunden habe. Es wäre furchtbar für mich, nicht mehr im Team mit Ihnen zu arbeiten. Sie würden mir alle fehlen, sogar Michael und Romain, die ich hier eigentlich gar nicht unterbringen darf. Aber zum Glück müssen wir ja noch nicht die Koffer packen. Es ist nur ein Besuch zu Inspektionszwecken. Es erinnert mich übrigens an einen ähnlichen Fall in einem kleinen Lager in Südostasien. Da hatten wir auch so ein Problem …«
»Was ist damals passiert?«
»Sie wollten uns umsiedeln, um die Logistik der Nahrungsmittellieferungen zu vereinfachen. Sie schickten Kontrolleure, die aber letzten Endes beschlossen, uns da zu belassen, wo wir waren.«
»Warum?«
»Weil wir ihnen weisgemacht hatten, drei Viertel der Flüchtlinge seien nicht transportfähig beziehungsweise hochansteckend.«
Eine Art Leuchten ging durch Paulines Augen.