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Die Luft war feuchtigkeitsgesättigt. Als er ins Wohnzimmer kam, um nachzuschauen, ob die Heizkörper ordnungsgemäß funktionierten, stieß Thomas unverhofft auf Pauline. Sie stand vor einer der Fenstertüren, die Stirn ans Glas gelehnt, und sah zu, wie der Regen fiel. Auf einem der Tische warteten die Einkaufstüten aus dem Supermarkt noch darauf, ausgeräumt zu werden, obwohl sie und Chantal schon vor mehr als einer Stunde nach Hause gekommen waren. Das sah ihr gar nicht ähnlich.
»Pauline, ist alles in Ordnung?«
Sie schrak zusammen. Er trat auf sie zu.
»Soll ich Ihnen helfen?«
Pauline wirkte überrascht, als Thomas auf die Einkäufe zeigte. Sie hatte sie vergessen.
»Tut mir leid. Lassen Sie nur, ich kümmer mich drum.«
»Aber Sie dürfen Ihren Sohn nicht zu spät abholen.«
Mechanisch griff sie nach den Tüten und brachte sie in die Küche, wo sie sie neben der Spüle abstellte, um den Inhalt zu sortieren. Thomas folgte ihr und half dabei.
»Sind Sie müde?«
»Bald ist Wochenende …«
Thomas spürte, dass da noch etwas anderes war, doch er wagte es nicht, sie zu bedrängen.
Nachdem sie die Milcherzeugnisse in den Kühlschrank geräumt hatte, fragte Pauline: »Doktor, würde es Ihnen etwas ausmachen, wenn ich meinen Zeitplan leicht ändern würde?«
»Inwiefern?«
»Ich würde gern später anfangen und erst am frühen Abend gehen.«
»Und was machen Sie dann mit Théo?«
»Er wird eben ein bisschen länger bei meiner Freundin bleiben. Ich habe einfach keine Wahl.«
»Darf ich Sie fragen, warum nicht?«
»Ich werde künftig mit öffentlichen Verkehrsmitteln kommen. Ich habe nicht mehr genug Geld, um den Wagen zu behalten. Ich schaffe es einfach nicht. Das Benzin, die Versicherung und der Stellplatz vor meinem Haus, das gibt mein Budget nicht mehr her. Ich werde ihn verkaufen.« Sie lächelte traurig. »Es tut mir wirklich leid, ich werde Sie nicht mehr in die Stadt mitnehmen können«, fügte sie noch hinzu.
»Werden Ihre Probleme dadurch dauerhaft gelöst?«
»Ich sehe schon, was Sie vorhaben. Aber ich werde nicht zulassen, dass Sie mir den Satz aus der Nase ziehen, den ich auf keinen Fall hören will, denn ich sage ihn mir selbst mindestens zwanzigmal am Tag. Mit Théo, dem man beim Wachsen zusehen kann und der mindestens alle drei Monate neue Kleidung braucht, und meiner Miete drängt sich dieser Satz auf: ›Pauline, du wirst es nicht schaffen. Du wirst zusätzlich zu deinem Job noch als Kellnerin jobben gehen müssen.‹«
»Verkaufen Sie mir Ihren Wagen.«
»Wie bitte?«
»Ich kaufe Ihnen Ihr Auto ab.«
»Machen Sie Witze? Es geht hier nicht um ein Erinnerungsstück aus meiner Kindheit, das ich verscherbeln will.«
»Ich verwechsle Ihr Auto durchaus nicht mit einem Teddybären. Bitte verkaufen Sie es mir. Es trifft sich wunderbar, denn ich wollte mir ohnehin eins kaufen, das habe ich Ihnen doch letzte Woche schon gesagt.«
»Das Auto ist ein echtes Wrack. Die Reifen sind total abgefahren, ich habe schon drei Ölwechsel ausfallen lassen, und ich glaube, die Lenkung hat zu viel Spiel.«
»Kein Zweifel, Sie sind eine begnadete Verkäuferin. Nachdem Sie mich mit diesen unschlagbaren Argumenten betört haben, ist die Sache klar, ich muss den Wagen haben. Verlangen Sie dafür, was Sie wollen, ich will ihn unbedingt. Zugegeben, das klingt nicht sehr rational, aber Sie wissen ja, was man über Männer und Autos sagt …«
»Sie sind verrückt.«
»Wenn Sie nett zu mir sind, leihe ich es Ihnen. Und außerdem befehle ich Ihnen als Ihr Vorgesetzter, damit einverstanden zu sein, dass die Heimbewohner und ich für Ihre Kekse und alles Übrige, was Sie hier kochen und backen, bezahlen.«
»Dann bin ich also jetzt eine reiche Frau!«
»Kaufen Sie sich ein Auto, und dann liefern wir uns ein Rennen. Ich habe auch eins, einen echten Boliden, der von seiner früheren Besitzerin mit der Rasanz einer Formel-1-Fahrerin gesteuert wurde. Dagegen haben Sie keine Chance …«
»Sie sind geisteskrank.«
»Und Sie Fußgängerin.«
Eine Stimme vom Flur her unterbrach sie.
»Bitte entschuldigen Sie!«
Thomas streckte den Kopf aus der Küche.
»Was ist?«
Romain stand sehr aufrecht in der Halle.
»Gibt es ein Problem?«
»Nein, Monsieur, gar keins. Verzeihen Sie, dass ich Sie störe. Ich wollte Sie nur um etwas bitten … Tut mir leid, es geht um meine Freundin.«
Romain konnte von seinem Standort aus wahrscheinlich nicht sehen, dass Thomas die Augen zusammenkniff, als hätte er sich auf einen Nagel gesetzt. Obwohl man in Romains Alter natürlich noch gute Augen hat.
»Ich hatte gehofft«, fuhr dieser nun zögernd fort, »wir würden uns zufällig begegnen, aber es ist nicht dazu gekommen … Und sie bedrängt mich so, weil sie Ihre Antwort, jedenfalls im Prinzip, schon morgen früh haben will.«
»Wenn Sie mir sagen, was sie will …«
»Sie sind doch Arzt?«
»Was für eine komische Frage. Ja, ich bin Arzt.«
»Sie haben mir doch gesagt, dass Sie an humanitären Einsätzen im Ausland teilgenommen haben, oder?«
»Ja, das stimmt.«
»Emma macht eine Ausbildung als Krankenschwester …« Romain unterbrach sich. »Verzeihung, ich mache solch ein Durcheinander daraus. Ich vergaß, Ihnen zu sagen, dass meine Freundin Emma heißt. Und sie braucht für eine Hausarbeit eine Art Interview mit einem Profi. Ich weiß nichts Genaueres, aber als ich ihr von Ihnen erzählte, wirkte sie sehr interessiert.«
»Sie haben ihr von mir erzählt, und sie interessiert sich für mich?«
Thomas bemühte sich, es ganz natürlich und lässig wirken zu lassen, als er sich an die Wand lehnte.
Romain fragte eifrig: »Wären Sie damit einverstanden, dass sie Sie anruft und Ihnen ein paar Fragen stellt?«
Thomas gab die kürzestmögliche Antwort, weil ihm plötzlich die Luft knapp geworden war.
»Ja.«
»Sie sagen mir dann, wann es Ihnen am besten passt. Es wird nicht lange dauern. Versprochen.«
»Wir finden schon einen Termin.«
»Toll! Sie wird sich total freuen. Heute Abend treffe ich mich mit ihr. Dann kann ich es ihr sagen.«
»Ja.«
Romain verabschiedete sich und ging wieder hinauf, um von dort aus das Haus zu verlassen.
Thomas hörte, wie er, immer drei Stufen auf einmal nehmend, die Treppe hinaufsprang und dann die Außentür hinter sich schloss. Er hörte sogar, wie später der Wagen angelassen wurde. Mitten in dem in seinem Kopf herrschenden Chaos stellte er die Überlegung an, dass man in seinem Alter doch noch recht gut hören konnte.
»Alles in Ordnung, Doktor?«
»Würde es Ihnen etwas ausmachen, wenn ich mich vor Ihren Wagen werfe? Oder soll ich damit warten, bis er mir gehört?«