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An den Tagen darauf war Thomas nur noch ein Schatten seiner selbst. Er versuchte zwar, normal zu wirken, doch er konnte niemandem etwas vormachen. Jedes Mal wenn das Telefon klingelte, stürzte er hin. Und kam jedes Mal mit düsterer Miene und verschlossenem Gesicht zurück. Sein Handy war immer eingeschaltet und Tag und Nacht in seiner Nähe, er fürchtete und erhoffte zugleich einen Anruf von Romain oder, schlimmer noch, von Emma.
Sein Mieter war nicht mehr in die Wohnung zurückgekehrt. Er war verschwunden und hatte alle seine Sachen zurückgelassen. Thomas hatte sich derart um ihn gesorgt, dass er in allen Krankenhäusern und der Leichenhalle nach ihm gefragt hatte. Doch Romain war anscheinend an einen anderen Ort geflohen. Manchmal öffnete Thomas seine Wohnungstür und sah sich von der Schwelle aus, die er nicht zu übertreten wagte, um. Der Kaffeebecher auf der Spüle, die Kleidungsstücke auf der Rückenlehne des Stuhls, das ungemachte Bett, auf dem das Kopfkissen noch den Eindruck seines Kopfes zeigte, die aufgeschlagene Computerzeitschrift auf dem Tisch. Spuren seines Alltags, als würde er jeden Moment zurückkehren, obwohl er vermutlich niemals zurückkommen würde.
Die Heimbewohner lieferten sich einen edlen Wettstreit, um die Atmosphäre zu entspannen, doch nichts half. Selbst der Wettbewerb um die schlimmsten Blutergebnisse, der sonst immer so lustig war, hatte ihm nur ein schwaches Lächeln entlockt. Chantal hatte in der Kategorie Triglyceride gewonnen, doch beim Cholesterin war sie von Françoise vernichtend geschlagen worden. Bei den Blutzuckerwerten hinkte Jean-Michel hinterher, was ein gutes Zeichen war. Doch am schlimmsten krank von allen war paradoxerweise eindeutig der Doktor.
Attila kam langsam wieder zu Kräften und begann zu laufen. Pauline wechselte jeden Morgen seine Verbände. Théo hatte ihm ein Bild gemalt, das jetzt über seiner Decke hing. Um den Hund zum Essen zu ermuntern, ging der Junge, sobald ihm seine Mutter den Rücken kehrte, immer wieder auf alle viere hinunter und aß aus dem Fressnapf.
Wenn es gerade nicht regnete, kümmerte sich Michael um die Reha seines Hundes, indem er mit ihm im Garten spazieren ging. Langsam schritten sie Seite an Seite einher, und Michael sprach ihm unablässig gut zu. Die Katzen waren nie sehr weit, und manchmal wurden sie auch von Jean-Michel begleitet. Der war sehr stolz, dass er schneller laufen konnte als der Hund, und erzählte es überall herum. Dennoch hoffte er in seinem tiefsten Innern, dass es nicht mehr lange so sein würde. Man muss seinen Gegner lieben, um gegen ihn unterliegen zu wollen.
Ein einziges Mal hatten Thomas und Pauline auf der Bank am Flussufer gesessen. Aber sie hatten dabei kein Wort gewechselt. Pauline hätte viel auf dem Herzen gehabt, doch sie zog es vor, das Schweigen zu respektieren, in das Thomas sich eingeschlossen hatte. Alles, was sie für ihn tun konnte, war, bei ihm zu sitzen und ihm das Geschenk ihrer treuen Anwesenheit zu machen. Wenn sie doch bloß hätte schnurren können …
Heute Abend saß Thomas allein auf der Bank. Seine Stimmung glich dem Himmel, dunkle Wolken, so weit das Auge reichte. Trotz allem, was er in den vergangenen Monaten erlebt hatte, trotz all seinen Mühen war er immer noch in denselben Ängsten und Zweifeln gefangen. Seit dem tragischen Abend, an dem Romain alles entdeckt hatte, hatte Thomas nicht einmal mehr die Kraft gehabt, Kishan zu schreiben. Die Tage, an denen ihm das Glück aus nächster Nähe zu winken schien, waren ganz entschieden vorbei.
Als er hinter sich eine Bewegung wahrnahm, machte er sich auf Paulines Ankunft gefasst. Er richtete sich unauffällig auf, um nicht allzu niedergeschlagen zu wirken. Er war entschlossen, dieses Mal liebenswürdiger zu der Frau zu sein, die ihm ihre unerschütterliche Unterstützung schenkte.
»Störe ich?«
Das war nicht Paulines Stimme. Thomas wandte sich um. In einigen Metern Entfernung stand Romain.
»Monsieur Lanzac hat mir gesagt, dass Sie hier sind«, fügte er hinzu.
Thomas versuchte sich trotz seiner Überraschung so natürlich wie möglich zu verhalten.
»Wie geht es dir?«
»Besser als neulich Abend.«
Und, nach einer Pause: »Ich musste mir Klarheit verschaffen.«
»Kann ich mir denken.«
Mit einer Handbewegung bot ihm Thomas den Platz neben sich an. Romain trat langsam näher, und Thomas hätte nicht zu sagen gewusst, ob diese Zögerlichkeit Schüchternheit ausdrückte oder den Wunsch, auf Distanz zu bleiben. Schließlich setzte sich Romain, achtete dabei jedoch auf den größtmöglichen Abstand zu Thomas.
»Romain, ich habe Angst vor dem, was du mir sagen wirst. In gewisser Weise hängt ein bisschen mein Leben davon ab. Es tut mir leid, dass die Dinge sich so entwickelt haben. Ich will ehrlich sein: Ich wusste immer, dass ich dir früher oder später die Wahrheit hätte sagen wollen, aber ich weiß nicht, ob ich den Mut aufgebracht hätte …«
»Ich habe Emma nichts gesagt, und ich werde ihr nichts sagen.«
Diese Ankündigung wirkte in Thomas’ Brust wie eine auf einen Staudamm geworfene Bombe. Es grollte in seinem Innern wie bei einem Erdbeben, und dann brach der Deich. Ein viel zu lange aufgestauter Wasserlauf riss Schutt und Schmerzen mit sich. Viele Ängste wurden durch die Bruchstelle gespült, sie verteilten sich in den Tälern und zerrannen in der Landschaft. Doch es waren nicht alle.
»Soll ich verschwinden?«
»Nein.«
Thomas wandte sich Romain zu.
»Was soll ich dann tun?«
»An den Tagen danach, als mein Zorn sich abgekühlt hatte, habe ich mich gefragt, was ich an Ihrer Stelle getan hätte. Wenn ich in Ihrem Alter entdeckt hätte, dass ich ein Kind zurückgelassen habe. Ich habe tagelang versucht, es mir vorzustellen, aber es gelang mir nicht. Ich bin anders als Sie, vor allem weil ich Emma heute um keiner Sache, auch nicht der besten willen verlassen würde. Und ich will Sie gleich beruhigen: Soweit ich weiß, ist Ihre Tochter nicht schwanger! Ich glaube, ich kann Ihre Situation nicht wirklich begreifen, weil ich gar nicht alles hätte auf mich nehmen können, was Sie in diese Situation gebracht hat. Ihre letzten Sätze neulich abends haben mir vieles klargemacht: ›Ich habe in ihrem Leben nie eine Rolle gespielt. Ich will nicht nur dieses Debakel sein.‹ Das hat mir eingeleuchtet.«
»Und deshalb bist du zurückgekommen?«
»Unter anderem. Ich weiß immer noch nicht genau, woran ich bin … Aber Sie widern mich nicht mehr an.«
»Danke.«
»Als ich eben ankam, wollten Madame Quenon und die Krankenschwester unbedingt mit mir sprechen. Sie sagten mir, sie wären von Anfang an in Ihre Pläne eingeweiht gewesen und hätten bei manchen Aktionen sogar mitgewirkt – auf dem Flohmarkt, als Sie uns verfolgten und sogar um mich in diese Wohnung zu locken. Die beiden versicherten mir, sie hätten Sie nie bei Ihren Inszenierungen unterstützt, wenn sie Ihre Beweggründe nicht richtig gefunden hätten. Besonders Pauline hat darauf beharrt. Sie war wirklich rührend. Die beiden sind Ihnen ja in keiner Weise verpflichtet. Und da habe ich mir gesagt, wenn so verschiedene Menschen, die mir persönlich liebenswert erscheinen, Ihnen so viel Vertrauen schenken können, dann war es vielleicht auch nicht falsch, Ihnen meins zu schenken …«
Um seine Gefühle in Schach zu halten, sah Thomas in die Ferne.
Und Romain fügte hinzu: »Ich weiß nicht, wie Sie es mit Emma halten wollen. Vielleicht wird sie nie wissen, wer Sie wirklich sind. Aber auch wenn Sie nicht den Titel haben, so können Sie doch seine Aufgaben übernehmen. Werden Sie ihr Freund. Ich helfe Ihnen.«
»Danke, Romain. Vielen Dank. Ich bitte dich um Verzeihung dafür, dass ich zu feige war, dir früher die Wahrheit zu sagen. Ich kam zurück, um meine Tochter kennenzulernen, und bin dabei vielleicht einem Sohn begegnet.«
Romain streckte ihm die Hand entgegen, und Thomas ergriff sie, ohne zu zögern.
Francis hatte recht: Die jungen Leute machen es oft besser als wir. Die beiden Männer schüttelten sich lange die Hand. Und die Hindus wissen es, ein Händedruck kann viele Dinge heilen.
»Übrigens, Doktor, diese schreckliche Kastratenstimme, die mich wegen der Annonce angerufen hat, wer war das?«