Epilog

Karen öffnete die Augen, als der Streifenwagen in ihre Straße einbog. Zu ihrer Verwunderung standen weder Übertragungswagen von Fernsehsendern noch Polizeifahrzeuge vor ihrem Haus, weder Reporter noch Schaulustige. In ihrer Straße war alles ruhig an diesem Morgen um 6.40 Uhr.

Ebenso wie Amelia war sie in den zurückliegenden fünfundvierzig Minuten mehrmals auf dem Rücksitz des Streifenwagens eingenickt. Dies war ihre vierte Fahrt in einem Polizeifahrzeug, seit sie den Lake Wenatchee vor so vielen Stunden verlassen hatten.

Bei der ersten Fahrt – zum Polizeirevier von Wenatchee – hatte Karen Amelia von ihren leiblichen Eltern erzählt und von etwas, das Amelia schon so lange hatte wissen wollen. Polizei und Rettungswagen schalteten ihre Sirenen nur ein, wenn andere Fahrzeuge oder Fußgänger in der Nähe waren, aber ihre roten Blinklichter blieben die ganze Zeit über an. «Bei unserer ersten Sitzung hast du etwas erwähnt», sagte Karen während einer dieser ruhigen Abschnitte. Amelia nahm ihre Hand. Der Krankenwagen mit Amelias toter Zwillingsschwester fuhr vor ihnen, und das rote Licht auf seinem Dach fiel in den Streifenwagen. «Du sagtest, als einige deiner anderen Therapeuten dich hypnotisieren wollten, um aus dir Informationen über deine Kindheit herauszuholen, hättest du dich am meisten für den Namen dieses netten Nachbarn mit dem Spielhaus interessiert.»

Amelia nickte. «Ja, und ich interessiere mich immer noch dafür.»

«Er hieß Clay Spalding», klärte Karen sie lächelnd auf. «Und er war ein guter Mensch.»

Um Mitternacht trafen zwei Polizisten von Moses Lake in der Polizeizentrale von Wenatchee ein. Karen klärte sie darüber auf, wie die Sache mit Clay wirklich gewesen war. Schließlich hatte Naomi Rankin an ihrem Arbeitsplatz und auch überall sonst nie etwas auf Clay kommen lassen und sich ihrer Freundschaft zu ihm nie geschämt. Und jetzt sollten ihre Mitbürger verstehen, warum das so gewesen war.

Ein Arzt versorgte Amelias und Karens Verletzungen. Amelias Hand musste nicht genäht, sondern nur bandagiert werden. Karen bekam eine Eispackung auf den Kopf, denn dort, wo Annabelle sie mit dem Totschläger getroffen hatte, schwoll eine Beule an. Beide erhielten außerdem Schmerzmittel.

Zusammen tranken sie auf der Wache literweise schlechten Kaffee, während sie wieder und wieder Dutzende von Fragen beantworteten. Die Wache von Wenatchee war von Reportern, Fernsehteams und Neugierigen umlagert. Und drinnen war die Hölle los: Die Beamten führten unzählige Telefonate mit ihren Kollegen in Moses Lake, Salem, Seattle und Issaquah und tauschten E-Mails und Faxe aus.

Im Aufenthaltsraum stand ein Fernseher, bei dem CNN eingeschaltet war. Sie waren landesweit in den Nachrichten vertreten. Karen und Amelia sahen ein kurzes Interview mit George vor dem Haupteingang der Polizeiwache von West Seattle. Er wirkte müde und abgespannt, aber trotz allem immer noch attraktiv. Reporter hielten ihm ihre Mikrophone entgegen. «Nein, ich halte mich nicht für einen Helden oder so», erklärte er kopfschüttelnd. «Meine Freundin Jessie Shriver, mein Sohn Jody und meine Tochter Stephanie sind die wahren Helden. Und dann möchte ich noch Jodys Freund Brad Reece für seine Hilfe danken. Aber am meisten möchte ich Karen Carlisle danken. Sie ist eine Freundin meiner lieben Nichte Amelia Faraday. Karen hat mehr als jeder andere dazu beigetragen, meine Familie zu retten.»

Gegen Morgen erfuhr Karen, dass die Polizei von Salem und das örtliche FBI auf der Schlessinger-Ranch die ganze Nacht durchgearbeitet und dabei bislang sieben Leichen ausgegraben hatten. Sie wollten den ganzen Tag weitersuchen. Zudem rollten sie die Fälle vermisster junger Frauen in der Umgebung von Salem und Moses Lake neu auf – und ebenso in Pasco, wo Duane Lee Savitt bis zu seinem Tod im Jahr 1993 gelebt hatte.

Erschöpft, aber auch aufgedreht von so viel Kaffee, wurden Karen und Amelia per Hubschrauber nach Issaquah gebracht. Nach der Landung fuhren sie erneut auf der Rücksitzbank eines Polizeifahrzeugs. Diesmal wurden sie in den Cougar Mountain Wildland Park gebracht, wo Karen der örtlichen Polizei den Wanderweg zeigte, auf dem sie gegangen war, als sie vergeblich nach dem Leichnam von Detective Russ Koehler gesucht hatte.

Mit Karens Hilfe hatten die Polizisten mehr Glück als sie zwei Nächte zuvor. Sie fanden Koehlers angenagte, halb vergrabene Leiche in weniger als einer Stunde.

Karen schlug vor, zu überprüfen, ob er mit derselben Waffe erschossen worden war wie Shane. Sie zweifelte nicht, dass in beiden Fällen Annabelle die Täterin gewesen war.

Jemand hatte der Presse offenbar einen Tipp gegeben, denn der Cougar Mountain Park war bereits von Reportern überschwemmt, als Karen und Amelia ihn wieder verließen.

Das war vor vierzig Minuten gewesen, und Karen hatte einen ähnlichen Auflauf vor ihrem Haus erwartet.

«Vielleicht sollte ich es nicht herbeireden», murmelte sie, als sie aus ihrem Nickerchen im Streifenwagen erwachte, «aber ich kann mir nicht vorstellen, dass hier keine Reporter sind.»

«Schätze, die müssen auch mal schlafen», erwiderte der Polizist hinterm Lenkrad. «Genießen Sie die Ruhe, solange Sie es noch können.»

Amelia wirkte fast wie eine Schlafwandlerin, als die beiden Frauen auf das Haus zugingen. Karen hatte einen Arm um sie gelegt und musste sie beinahe stützen. Noch bevor sie die Veranda erreichten, öffnete Jessie die Tür, und Rufus kam herausgestürmt. Winselnd rieb er die Schnauze wieder und wieder an Karens Bein, und sie streichelte ihn und kraulte ihn hinter den Ohren. Auch Amelia strich ihm übers Fell. Als ihre Zwillingsschwester hierhergekommen war, hatte er sie angeknurrt und die Zähne gefletscht. Irgendwie konnte er die beiden offenbar voneinander unterscheiden. Er jaulte auf vor Glück.

Jessie trug einen blauen Trainingsanzug – eines der wenigen Kleidungsstücke, die sie im Haus aufbewahrte seit der Zeit, als sie sich um Karens Vater gekümmert hatte. Angesichts dessen, was sie in der Nacht zuvor durchgemacht hatte, wirkte sie überraschend frisch und ausgeruht.

Sie winkte die Neuankömmlinge herein und hielt einen Zeigefinger an die Lippen. «Psst, die Kinder schlafen noch im zweiten Gästezimmer. George kam erst morgens um drei zurück. Er hat versucht, auf Sie zu warten, ist dann aber auf dem Wohnzimmersofa eingenickt.»

Dann begrüßte sie Karen mit einer langen Umarmung. «Gott sei Dank leben Sie noch», sagte sie und klopfte ihr auf die Schulter. «Haben Sie eigentlich was zu essen bekommen?»

«Donuts», murmelte Karen. «Aber ich fürchte, wir brauchen erst mal nur Schlaf.»

«Ihr Dad hat Sie im Aufenthaltsraum seines Heims in den Nachrichten von Channel Five gesehen», erklärte Jessie. «Er hat erst vor ein paar Minuten hier angerufen. Vielleicht sollten Sie kurz zurückrufen, bevor Sie sich flachlegen, damit er weiß, dass es Ihnen gutgeht.»

Jessie entließ Karen aus ihrer Umarmung und führte Amelia ins Haus. «Armes Ding, du schläfst ja schon im Stehen. Ich habe das Bett im Gästezimmer für dich neu bezogen. Da steht sogar eine Klangmaschine. Schlaf, solange du willst. Ich werde mich darum kümmern, dass die Kinder ruhig bleiben.»

Von der Haustür aus sah Karen zu, wie Jessie und Amelia die Treppe hochgingen. Seufzend setzte sie sich auf die Veranda, zog ihr Handy aus der Handtasche und rief das Heim an. Sie bat darum, mit dem Aufenthaltsraum verbunden zu werden, und erkannte kurz darauf die Stimme der diensthabenden Schwester.

«Hallo, Lugene, Karen hier», sagte sie ruhig. «Ist mein Dad noch im Fernsehraum?»

«Ja, er ist hier, Karen. Wir haben Sie in den Nachrichten gesehen. Wenn Sie das nächste Mal kommen, werden Sie Autogramme geben müssen. Wie geht’s Ihnen denn? Alles klar?»

«Ja, aber ich bin fix und fertig.»

«Okay, dann hole ich mal Frank. Er kann es gar nicht erwarten, mit Ihnen zu reden. Scheint übrigens einen seiner guten Tage zu haben.»

Während Karen auf ihren Vater wartete, legte ihr Rufus den Kopf aufs Knie.

«Ist da mein Mädchen?», fragte ihr Vater. «Meine berühmte Tochter?»

«Hallo, Papa», erwiderte sie und tätschelte dabei Rufus’ Kopf. «Wie ich höre, hast du mich in den Nachrichten gesehen.»

«Geht’s dir gut? Bist du schon zu Hause?»

«Ja, ich sitze gerade mit Rufus vor der Haustür. Ich bin ziemlich kaputt.»

«Jessie hat gesagt, dieser gutaussehende Kerl, der auch in den Nachrichten kam, übernachtet mit seinen Kindern da. Na, da hast du ja ein volles Haus. Das hat’s ja schon lange nicht mehr gegeben.»

Karen lächelte wehmütig. «Stimmt, Papa. Ist ’ne Weile her.»

«Ist bestimmt schön», meinte er. «Aber jetzt muss ich Schluss machen. Ich muss mich anziehen. Ich gehe nicht gern im Bademantel zum Frühstück, wie manche das hier machen. Heute Morgen gibt’s Blaubeerpfannkuchen. Sie machen hier sehr gute Blaubeerpfannkuchen. Und jetzt schläfst du dich erst mal aus, Liebes, klar?»

«Klar, Papa. Lass dir dein Frühstück schmecken. Ich schaue bald mal vorbei.»

«Mein Engel», sagte er, bevor er auflegte.

Karen wartete, bis Rufus hineintrottete; dann ging auch sie ins Haus und verschloss schnell die Haustür hinter ihm. Sie hörte die Dusche im Obergeschoss und wusste, dass es Amelia war. Obwohl sie sich völlig verdreckt fühlte, war Karen nicht sicher, was sie dringender brauchte – ihr Bett oder ein Bad.

Als sie ins verdunkelte Wohnzimmer spähte, sah sie George zusammengerollt auf dem Sofa liegen. Die Schuhe hatte er ausgezogen, und das Sakko, mit dem er sich offenbar zugedeckt hatte, war herabgerutscht. Karen holte aus dem Schrank im Flur den alten Bademantel ihres Vaters, mit dem sie sich immer selbst zudeckte, wenn sie auf derselben Couch ein Nickerchen hielt. Sie schlich auf Zehenspitzen ins Wohnzimmer zurück und breitete sanft den Bademantel über George. Mit seinen Bartstoppeln und seiner im Schlaf so friedlichen Miene war er ausgesprochen attraktiv.

Plötzlich öffnete er die Augen und nahm ihre Hand. «Ich habe versucht, wach zu bleiben», erklärte er mit einem schläfrigen Lächeln. «Alles in Ordnung mit Ihnen, Karen?»

Sie beugte sich über ihn und nickte. «Ja, ich bin einfach nur müde.»

Er blinzelte sie an. «Jody hat eine Beule auf der Stirn, an genau derselben Stelle wie Sie. Sind Sie sicher, dass es Ihnen gutgeht?», fragte er und drückte ihre Hand.

Sie nickte erneut.

«Jessie meint, wir beide müssten unbedingt bald mal zusammen essen gehen und besprechen, wie viele Überstunden wir ihr für gestern und heute schuldig sind. Darum kommen wir wohl nicht herum, meinen Sie nicht auch?»

Karen lächelte und nickte wieder.

Er führte ihre Hand an sein Gesicht und küsste sie. «Danke für meine Familie, Karen.»

 

«Karen?», rief Amelia aus dem Gästezimmer.

Sie kam gerade aus dem Bad, gefolgt von einer Dampfwolke. Karen trug ihren Frotteebademantel und hatte sich ein Handtuch um den Kopf gewickelt. Sie hatte beschlossen, zu duschen, bevor sie schlafen ging, und war jetzt froh, dass sie sich dazu hatte aufraffen können. Sie fühlte sich, als hätte sie all das Schreckliche der letzten vierundzwanzig Stunden von sich abgewaschen.

Jessie hatte sich für ein Nickerchen ins Schlafzimmer von Karens Vater gelegt. Sie wollte in einer Stunde einkaufen gehen und danach ein opulentes Frühstück zubereiten.

Karen hatte schon geglaubt, sie sei als Einzige im Haus noch wach.

«Karen, bist du das?», rief Amelia leise.

Die Tür zum Gästezimmer stand halb offen. Karen drückte sie auf und ging zu Amelia hinein.

Die Rollläden waren heruntergezogen, und die Klangmaschine lief. Amelia setzte sich im Bett auf. Sie trug eines von Karens T-Shirts. Ihr dunkles Haar war noch ganz zottelig nach der Dusche vor zwanzig Minuten.

«Kannst du nicht schlafen?», fragte Karen und setzte sich auf die Bettkante.

«Ich denke die ganze Zeit nach», flüsterte Amelia, deren Stimme von Wellen- und Seemöwengeräuschen untermalt wurde. «Ich freue mich schon darauf, bald Onkel George und Jody und Steffie zu sehen. Seit Collins Tod konnte ich ihnen nicht mehr in die Augen schauen. Sosehr ich es auch versucht habe und sosehr du mir zu helfen versucht hast, wurde ich nie ganz das Gefühl los, ihn getötet zu haben. Jetzt kenne ich die Wahrheit. Nach so vielen Monaten kann ich endlich wieder meinem Onkel, meinem Cousin und meiner Cousine in die Augen schauen.»

Karen strich Amelia das zerzauste Haar zurück.

Amelias Blick fiel auf einen schwarzen Onyxring auf dem Nachttisch. Daneben lag ein ausgebleichtes, abgegriffenes Foto zweier völlig gleich aussehender, dunkelhaariger kleiner Mädchen in Overalls. Sie lächelten und hielten Händchen.

Amelia seufzte. «Jetzt wird mir erst richtig klar, was Annabelle durchgemacht hat und wie sehr sie gelitten haben muss.» Sie zuckte mit den Schultern und schüttelte den Kopf. «Aber ich … ich kann trotzdem nicht um sie weinen …»

Amelia schlang die Arme um Karen und legte ihr den Kopf auf die Schulter.

«Schon gut», sagte Karen und hielt sie fest. Sie wusste, dass die Tränen später kommen würden.

Und dass sie da sein würde, um Amelia über all das hinwegzuhelfen.