Amelias Onkel George öffnete die Tür; seine fünfjährige Tochter trug er dabei auf dem Arm.
Karen hatte nicht erwartet, dass er so attraktiv sein würde. Seine Jeans und das langärmlige weiße T-Shirt betonten seine schlanke, athletische Figur. Er hatte ein kräftiges Kinn mit dem Anflug eines Bartschattens und welliges schwarzes Haar, das allmählich ins Grau überging. Obwohl seine grünen Augen noch vom Weinen gerötet waren, strahlten sie Ruhe und Stärke aus.
Karen beobachtete, wie er das kleine Mädchen absetzte, um Amelia umarmen zu können. Das Kind hielt sich an seinem Bein fest und drückte das Gesicht an seine Hüfte. George zog Amelia kurz an sich und flüsterte ihr etwas ins Ohr.
«Danke, Onkel George», schniefte sie. Dann drehte sie sich um und deutete mit dem Kopf auf Karen und Jessie. «Das ist meine Therapeutin – und Freundin …»
«Hallo, ich bin Karen», sagte sie und schüttelte ihm die Hand. «Mein aufrichtiges Beileid …» Dann stellte sie ihm Jessie vor, die die Tüte mit dem Essen trug. «Jessie meinte, Sie und die Kinder könnten heute Abend ein hausgemachtes Essen vertragen –»
«Zeigen Sie uns einfach nur die Küche», meinte Jessie. «Ach, da vorne ist sie ja.»
Karen zog ihren Mantel aus, behielt ihn aber in der Hand. «Wenn wir irgendwie stören, sagen Sie es bitte.»
«Nein, ganz und gar nicht», entgegnete George. «Sie sind eine echte Lebensretterin, Karen.»
Amelia beugte sich zu Stephanie hinab und lockte sie vom Bein ihres Vaters weg. Das Kind klammerte sich nun an Amelia, die unendlich traurig wirkte. «Es tut mir ja so leid, Steffie», flüsterte sie tränenüberströmt.
«Warum sagst du das?», fragte das Kind. «Du hast doch nichts falsch gemacht.»
Amelia zuckte unwillkürlich zusammen, bevor sie ihre junge Cousine noch fester umarmte.
Karen konnte den Anblick der beiden kaum ertragen.
George nahm Amelia seine Tochter wieder ab. «Amelia, meinst du, du könntest mal mit Jody sprechen?», fragte er. «Er will nicht aus seinem Zimmer kommen. Ich mache mir Sorgen um ihn. Vielleicht redet er ja mit dir.»
Amelia wischte sich die Tränen aus den Augen und ging auf einen Flur zu, der im hinteren Teil des Hauses lag.
«Jody ist mein Sohn», flüsterte George Karen zu, während er seiner Tochter durchs Haar strich. Dann folgten sie Amelia. «Fünf Minuten nachdem ich ihm das von seiner Mutter erzählt hatte, schloss Jody sich in seinem Zimmer ein.»
In dem Flur blieben sie zurück und sahen zu, wie Amelia an Jodys Tür klopfte.
«Genau dasselbe hat er vor ein paar Monaten getan, als sein Cousin gestorben war», erklärte George. «Jody hat Collin richtiggehend verehrt. Er blieb zwei ganze Tage in seinem Zimmer. Ich dachte schon, er würde die Beerdigung verpassen. Meine Frau musste ihm das Essen vor die Tür stellen, und er aß trotzdem fast nichts. Er kam nur heraus, wenn er aufs Klo musste.» Ihm versagte kurz die Stimme. «Ich fühle mich so hilflos, wenn ich ihn leiden sehe …»
Karen ging es beim Anblick von Amelia nicht anders. Sie wünschte, sie könnte etwas tun, um den Schmerz zu lindern.
Amelia klopfte noch einmal an Jodys Tür und rief seinen Namen, aber er antwortete nicht. «Jody? Lass mich doch bitte rein», rief sie. «Ich weiß, wie du dich fühlst, glaub mir …»
«Tut mir leid», rief er mit rauer Stimme. «Ich muss jetzt allein sein, Amelia. Geh bitte weg.»
Mit gesenktem Kopf schlich Amelia von seiner Tür weg. Sie schaute ihren Onkel an und zuckte ratlos mit den Schultern. «Tut mir leid, Onkel George», murmelte sie. «Ich bin so müde. Meinst du, ich kann mich ein wenig hinlegen?»
Er nickte und küsste sie auf die Stirn. «Na klar, dein Bett ist schon gemacht.»
Amelia klopfte Stephanie auf die Schultern und ging dann zur Treppe ins Untergeschoss. Bevor sie hinabstieg, warf sie noch einen Blick zurück auf Karen.
«Vielleicht könnten Sie ja mal mit ihm reden?»
Karen drehte sich erstaunt zu George um. «Sie möchten, dass ich mit Ihrem Sohn rede?»
«Sie sind doch Therapeutin», meinte er achselzuckend. «Sie wissen vielleicht eher, was man in so einem Fall sagt …»
«Ich denke, wir sollten einfach Jodys Bedürfnis respektieren, allein zu sein», flüsterte sie und legte ihm die Hand auf den Arm. «Zumindest eine Zeitlang. Wenn er um seinen Cousin auch so getrauert hat, ist es das, was er in einer solchen Situation kennt. Wie wär’s, wenn wir ihm Zeit geben, bis das Essen fertig ist, und es dann noch einmal versuchen?»
George starrte sie einen Moment lang an und nickte dann. «Ich habe das Gefühl, Sie sind eine sehr kluge Frau. Danke, Karen.»
Sie lächelte ihn an. «Ich sehe jetzt mal nach Amelia.»
«Treppe runter und dann rechts. Das Gästezimmer ist die erste Tür links.»
Drunten verharrte Karen eine Zeitlang im großen Aufenthalts- und Fitnessraum. Er hatte einen Linoleumboden und hohe Fenster, die nicht viel Licht hereinließen. Ausgestattet war er mit einem großen Fernseher, einer Couchgarnitur und einem Laufband. In einer Ecke lag ein Sortiment an Spielzeugen, darunter auch ein Puppenhaus. Karen legte ihren Mantel über einen Sessel und sah sich die gerahmten Familienfotos an der Wand an. Sie nahm an, dass es sich bei der eleganten und attraktiven Rothaarigen auf den Bildern um Georges ermordete Frau handelte. Es gab auch ein paar Fotos von Amelia mit ihrer Familie. Karen hatte seit Monaten von den Faradays gehört, sie aber bis zu diesem Augenblick nie gesehen. Sie erkannte die Ähnlichkeit zwischen den Schwestern Jenna und Ina. Als sie sich die Aufnahmen von Mark Faraday genauer ansah, fragte sie sich, wie es sein konnte, dass dieser sympathisch und etwas schwerfällig wirkende Mann die beiden Frauen und sich selbst umgebracht hatte. Es fiel ihr schwer, zu verstehen, dass sie alle tot waren. In einer Nacht hatte Amelia fast alle ihre engsten Verwandten verloren, noch dazu auf so schreckliche Weise.
Es gab auch Fotos von Collin Faraday. Aufgrund der Art, wie Amelia über ihren toten Bruder gesprochen hatte, war Karen davon ausgegangen, dass er ein blendend aussehender Teenager gewesen sein musste; in Wahrheit aber wirkte er wie ein ganz normaler, netter Junge mit einem eher albernen Lächeln.
«Der Tod meines Bruders war kein Unfall», hatte Amelia bei ihrer ersten Sitzung erklärt. «Ich weiß es. Weil ich ihn getötet habe.»
Karen hatte sie nur angestarrt und sich gefragt, wie sie das wohl gemeint haben konnte.
«Ich hatte mir fest vorgenommen, es nie zu erwähnen», hatte Amelia hinzugefügt. «Es ist viel zu früh, um Ihnen mit einer solchen Granate zu kommen, und jetzt ist unsere Sitzung schon fast vorbei. Bitte, Karen, sagen Sie, dass wir uns wiedersehen können. Ich vertraue Ihnen und kann das nicht länger für mich behalten. Bitte schicken Sie mich nicht weg …»
«Schon gut, ich höre», hatte Karen ruhig geantwortet. «Wir haben genug Zeit.» Sie war keine dieser Therapeutinnen, die ständig auf die Uhr schauten. Offenbarte ihr ein Patient gerade etwas Wichtiges, schnitt sie ihm nie das Wort ab, nur weil die Zeit abgelaufen war. In diesem Fall hatte sie zum Glück keine anschließenden Termine und konnte sich zur Not auch noch eine Stunde mit Amelia Faraday befassen, um sie besser zu verstehen. Sie verspürte bereits jetzt den Wunsch, diesem Mädchen zu helfen und es zu beschützen.
«Wie meinen Sie das – dass Sie ihn getötet haben?», fragte Karen so sanft wie möglich. «Können Sie darüber reden?»
Amelia nickte. «Ich war mit dieser Alkoholiker-Selbsthilfegruppe in Port Townsend», erwiderte sie schniefend. «Wir hatten zu sechst ein Wohnmobil gemietet. Ich hatte schon das ganze Wochenende diese Vorahnung von einem Unheil, das Collin drohte – diese Hassgefühle auf ihn, die ich mir selbst nicht erklären konnte. Ich dachte ständig darüber nach, wie ich ihn töten würde, es war verrückt. Ich wollte es nicht … wollte nicht einmal darüber nachdenken. Ich habe meinen Bruder geliebt. Er war so ein lieber Kerl …» Sie begann wieder zu schluchzen. «Tut mir leid.»
«Lassen Sie sich ruhig Zeit.»
Amelia wischte sich die Tränen aus den Augen und atmete tief durch. «Ich muss einen Blackout gehabt haben, weil ich mich nur noch bruchstückhaft an das Geschehene erinnern kann.»
Wieder Bruchstücke, dachte Karen und notierte sich das.
«Ich stand mit Collin am Hafenbecken hinter unserem Haus», erklärte Amelia. «In Bellingham, am Lake Whatcom. Ich schlug ihm ein Brett oder so etwas Ähnliches über den Schädel. Er schaute mich verblüfft an, und plötzlich klaffte auf seiner Stirn eine Wunde. Dann stieß er diesen abgehackten, schwachen Schrei aus …» Sie zuckte zusammen und schüttelte den Kopf. «Mein Gott, das war so ein seltsamer, hoher Laut, fast unmenschlich. Und dann fiel er vom Kai ins Wasser. An mehr erinnere ich mich nicht. Wahrscheinlich fehlt mir fast alles von diesem Nachmittag, weil das Nächste, woran ich mich erinnern kann, ist, wie ich gegen Mittag im Wohnmobil in Port Townsend aufwachte. Aber diese Bilder waren in meinem Kopf. Wie konnte ich vor allen anderen wissen, was Collin passiert war? Ich versuchte, meine Eltern anzurufen und ihnen zu erklären, dass etwas geschehen war, aber sie verbrachten das Wochenende im Ferienhaus, und der Handy-Empfang dort ist gleich null …»
«Niemand war mit Collin zu Hause geblieben?», fragte Karen.
Amelia schüttelte den Kopf. «Er war am Wochenende allein. Bevor meine Eltern abfuhren, machte ich noch Witzchen darüber, wie er den Schnapsschrank plündern und Pornos gucken würde … Nachmittags kam dann ein Freund, der ihn schließlich gefunden hat. Als Collin nicht aufmachte, ging sein Kumpel ums Haus und sah ihn im Wasser treiben. Sein Ärmel hatte sich irgendwo verhakt. Man nahm an, dass er zu viel getrunken hatte, von der Kaimauer gestürzt war und sich dabei irgendwo den Kopf angeschlagen hatte. Er hatte auch tatsächlich Alkohol im Blut, wie sich herausstellte, aber er starb nicht so, wie alle glauben.»
Karen blickte sie mit zusammengekniffenen Augen an. «Haben Sie mit jemandem darüber gesprochen?»
Amelia seufzte. «Nur mit Tante Ina. Sie meinte, ich wäre verrückt vor Trauer und sollte es keinem anderen gegenüber wiederholen, weil das alles nur noch schlimmer machen würde.»
«Sie sagten, Sie wären mit Leuten von Ihrer Selbsthilfegruppe unterwegs gewesen. Wie konnten Sie da ausbüxen und nach Bellingham und zurück fahren, ohne dass die das merkten? Das sind mindestens hundertsechzig Kilometer pro Strecke, und dazu noch eine Fahrt mit der Fähre. Dafür hätten Sie den ganzen Nachmittag gebraucht.»
Amelia schien in der Ecke von Karens Sofa versinken zu wollen. Sie rieb sich die Stirn. «Ich weiß nicht, wie ich hingekommen bin. Aber was geschehen ist, weiß ich. Außerdem hat mich eine Nachbarin dort gesehen. Die Polizei meinte, Collin müsse zwischen 14.00 und 15.00 Uhr gestorben sein. Unsere Nachbarin, Mrs. Hornsby, sah, wie ich den Kai mit einem Schlauch abspritzte, aber weil ich am Wochenende offiziell ja weg war, hat ihr keiner geglaubt. Sie ist alt, und man nahm an, dass sie es sich nur eingebildet hatte oder sich wichtig machen wollte. Und später hat sie selbst erklärt, dass sie sich getäuscht haben könnte. Aber ich glaube das nicht.»
Karen beugte sich in ihrem Sitz vor. «Aber sie muss sich geirrt haben, Amelia. Ihre Freunde hätten doch bemerkt, wenn Sie den Campingplatz verlassen hätten –»
«Ich weiß!», rief sie weinend. Sie zitterte am ganzen Körper. «Aber ich habe diese bruchstückhaften Erinnerungen, die mir sagen, dass ich ihn getötet habe. Wenn ich nachts im Bett liege, höre ich noch immer, wie er diesen seltsamen, schrecklichen Laut von sich gibt. Ich höre noch immer, wie er stirbt.»
Karen ließ es zu, dass sie sich ausweinte. «Es gibt viele Erklärungen für diese fragmentarischen Sinneswahrnehmungen», sagte Karen schließlich. «Sie beweisen nicht, dass Sie Ihren Bruder getötet haben, Amelia. Ihr plötzlicher Hass auf ihn ist nicht so ungewöhnlich, wie Sie denken. Es kommt öfter vor, dass jemand plötzlich und ohne besonderen Grund so etwas wie Wut auf jemanden verspürt, den er eigentlich liebt, und dann wenige Tage nach diesem unerklärlichen Wutanfall den geliebten Menschen verliert. Selbst wenn der Tod unerwartet kommt, kann sich unsere außersinnliche Wahrnehmung einschalten, um uns vor dem bevorstehenden Verlust zu schützen.»
Amelia warf ihr aus der Sofaecke einen skeptischen Blick zu, hörte aber auf zu weinen.
«Sie sagten, Sie und Collin hätten einander sehr nahegestanden», fuhr Karen fort. «Oft spüren wir es, wenn mit Familienmitgliedern oder geliebten Menschen etwas nicht stimmt – selbst über eine Entfernung von mehr als hundert Kilometern hinweg. Wir merken einfach, dass er in Schwierigkeiten steckt. Vielleicht haben Sie sich unbewusst in Collins Frequenz eingeklinkt und verfügen über ein besonderes Talent für außersinnliche Wahrnehmung.»
«Meinen Sie wirklich?», murmelte Amelia, noch immer mit skeptischem Blick.
«Das ist doch zumindest eher nachvollziehbar als die Vorstellung, dass Sie über dreihundert Kilometer gefahren sein sollen, ohne Port Townsend je verlassen zu haben, oder?»
Seufzend griff Amelia nach ihrer Wasserflasche.
«Ich habe Sie eben erst kennengelernt, Amelia», fuhr Karen fort, «aber wie eine Mörderin kommen Sie mir nicht vor. Welches Motiv sollten Sie auch haben? Sie liebten Ihren Bruder. Und warum glauben Sie dieser Nachbarin immer noch, obwohl sie eingeräumt hat, dass sie sich geirrt haben könnte? Keiner glaubte ihr außer Ihnen. Warum wollen Sie unbedingt die Schuld auf sich nehmen?»
Karen hatte noch einige Minuten so weiterargumentiert, bis Amelia sich allmählich beruhigt und versprochen hatte, auch in Zukunft ihre Selbsthilfegruppe zu besuchen. Dann hatten beide vereinbart, sich zweimal wöchentlich zu treffen.
Das war vor vier Monaten gewesen. Selbst ohne Amelias Erinnerung an die Situation, in der ihre leibliche Mutter sie gefragt hatte, ob jemand sie «dort unten» berührt habe, wäre Karen davon ausgegangen, dass Amelia als Kind auf irgendeine Weise missbraucht worden war. Alle klassischen Anzeichen für Kindesmissbrauch waren bei der Neunzehnjährigen vorhanden: niedriges Selbstwertgefühl, Albträume, Flashbacks, Erinnerungslücken und die Tendenz, immer die Schuld auf sich zu nehmen.
Ein perfektes Beispiel dafür war die Episode mit Shane, in der Amelia sofort davon ausgegangen war, etwas Schlimmes getan zu haben, als er behauptet hatte, sie in einem Wagen mit einem anderen gesehen zu haben. Amelia hatte sich gleich untersuchen lassen, weil sie automatisch angenommen hatte, untreu gewesen zu sein. Auf die Idee, dass Shane sich geirrt haben könnte, war sie nicht gekommen.
In den nächsten vier Monaten hatten sie eine Menge Probleme abzuarbeiten, und in dieser Zeit baute Karen eine besondere Verbindung zu dieser jungen Frau auf, die so sehr von ihr abhängig war. Sie war eher Amelias große Schwester als ihre Therapeutin.
Amelia hielt ihr Versprechen, an den Treffen der Selbsthilfegruppe teilzunehmen, und blieb trotz gelegentlicher Probleme auch mit Shane zusammen. Ihre Noten besserten sich, und Mark und Jenna Faraday gratulierten Karen per E-Mail zu ihrer erstklassigen Arbeit.
Karen war daraufhin ernsthaft versucht gewesen, die Faradays zu bitten, sich noch einmal zu überlegen, ob sie nicht doch einen Privatdetektiv einschalten sollten, um etwas über Amelias leibliche Eltern herauszufinden. Dann aber hatte sie Amelia die Entscheidung überlassen. Amelia war mit neunzehn alt genug, um das mit ihren Eltern selbst zu besprechen. Leider hatte Amelia sich seit zwei Monaten davor gedrückt – aus Angst, wie sie sagte. «Aber weniger aus Angst davor, herauszufinden, dass ich missbraucht worden sein könnte oder so», meinte sie. «Ich habe einfach Schiss, ich könnte etwas ganz Schreckliches getan haben.»
«Du warst doch erst vier, Amelia», hatte Karen entgegnet. «So viel kannst du in dem Alter nicht angestellt haben. Wie viele ausgesprochen bösartige Vierjährige kennst du – außer Damien in Das Omen? Wir müssen diese Zeit in deinem Leben erforschen.»
Ohne zu wissen, was Amelia als Kind zugestoßen war, konnte sie Amelia nicht erfolgreich behandeln.
Karen schaute sich nun ein gerahmtes Foto von Jenna und Mark Faraday an, auf dem sie Arm in Arm in sommerlicher Freizeitkleidung auf einem Kai standen. Der herrliche See glitzerte im Hintergrund. Karen fragte sich, ob das dieselbe Stelle war, an der ihr Sohn getötet worden war. Falls ja, musste dieses Bild vor dieser Tragödie aufgenommen worden sein, in einer glücklicheren Zeit. Wie hätten sie wissen sollen, was hier geschehen würde? Und dass nur wenige Monate später auch sie tot sein würden.
Mit einem langen Seufzer ging Karen auf die erste Tür links zu. George zufolge war es das Gästezimmer. Die Tür war verschlossen. Karen wollte schon klopfen, zögerte dann aber, als sie Amelia etwas murmeln hörte. Karen konnte nicht sagen, ob Amelia wach war oder im Schlaf redete.
«Nein», flüsterte Amelia, «du willst doch nicht, dass das passiert. Du darfst nicht einmal daran denken.»
«Ja, danke», sagte George ins schnurlose Telefon, während er mit Stephanie auf dem Schoß am Frühstückstisch saß. «Ich warte hier. Auf Wiederhören.»
Benommen schaltete er das Telefon aus. «Das war die Polizei», erklärte er Jessie.
Sie stand mit einer Gabel in der Hand am Herd und warf ihm einen erwartungsvollen Blick zu.
«Sie wollen mir ein paar Fragen stellen. Dürfte ich Sie und Karen bitten, ein Auge auf die Kinder zu haben, bis die Polizei wieder weg ist? Die wollen wahrscheinlich auch mit Amelia sprechen. Ich denke, wir machen es am besten in meinem Arbeitszimmer.» Er schaute zu Stephanie hinab und setzte sie auf seinem Schoß zurecht.
Jessie nickte. «Keine Sorge, ich kann hierbleiben, solange Sie mich brauchen.»
Er griff nach seiner Brieftasche. «Ich möchte Ihnen aber wenigstens etwas bezahlen für all Ihre –»
«Nicht heute Abend», lehnte Jessie ab. «Aber falls Sie später jemanden zum Kochen, Putzen und Babysitten brauchen sollten, nehme ich gerne an.»
Lächelnd steckte George seine Brieftasche wieder ein. «Ich kenne Sie nicht sehr gut, Jessie, habe aber das Gefühl, dass Sie ein wahres Juwel sind.»
Sie grinste ihn an, bevor ihr Blick auf Stephanie fiel. «He, Süße, kannst du mir beim Kochen helfen?»
Stephanie starrte sie zunächst nur argwöhnisch an.
«Ach komm, hilf mir doch. Rührst du die Soße für mich?»
«Okay», murmelte Stephanie und rutschte vom Schoß ihres Vaters.
Jessie zog einen der Stühle unter dem Frühstückstisch hervor, stellte eine Schüssel mit der Soßenmischung darauf und gab Stephanie einen Plastiklöffel. George sah zu, wie seine Tochter mit entschlossener Miene umrührte.
Es war, als schnürte sich ihm die Kehle zu, aber er wollte nicht vor ihr zusammenbrechen – nicht jetzt, da sie selbst gerade erst aufgehört hatte zu weinen.
Er dachte an die Polizei, die alle möglichen Fragen über ihre persönlichen Probleme und schmutzigen Geheimnisse stellen würde. Sie würden wissen wollen, was Mark dazu gebracht hatte, durchzudrehen und etwas so Schreckliches zu tun.
George würde ihnen erklären müssen, wie Marks und Jennas Ehe nach Collins Tod gelitten hatte. Er hatte sich allerdings nie vorstellen können, dass sein Schwager jemandem absichtlich wehtun könnte. Andererseits hatte er sich bis vor kurzem auch nie vorstellen können, dass sein Schwager mit der Schwester seiner Frau ins Bett steigen könnte.
Der Gedanke, dies der Polizei gegenüber zuzugeben, behagte ihm ganz und gar nicht. Dennoch fragte er sich, ob Inas und Marks Verhältnis etwas mit dem zu tun hatte, was in der Nacht zuvor geschehen war. George hatte nicht den geringsten Hinweis darauf, was in Marks Kopf vorgegangen sein mochte, als er zu schießen begann.
Die drei waren tot. Konnte man sie nicht einfach in Ruhe lassen?
Nein. Die Medien würden wie Aasgeier über die Geschichte herfallen. Was für eine Exklusivmeldung: ein Liebesverhältnis als Hintergrund für die Bluttat! Vielleicht würde sich die Aufregung ja legen, bevor Stephanie alt genug war, um den Klatsch zu verstehen. Aber der arme Jody … Alle seine Freunde würden erfahren, dass seine Mutter mit seinem Onkel gebumst hatte – zwei Monate bevor der sie, seine Frau und sich selbst erschoss.
Noch jetzt war ein Teil von ihm wütend auf Ina, weil sie das ihrer Familie und sich selbst angetan hatte. Dabei war sie immer so sehr darauf bedacht gewesen, den schönen Schein zu wahren und andere zu beeindrucken. Wie hätte sie sich wohl gefühlt, wenn sie gewusst hätte, dass ihre erbärmliche kleine Affäre vor der Öffentlichkeit ausgebreitet würde?
Vielleicht konnte er ja die Polizei dazu bringen, Informationen über diese heikle private Geschichte nicht an die Zeitungen weiterzuleiten. Er musste es zumindest versuchen.
Er dachte an Amelia, die im Untergeschoss schlief. Der Polizei von Ina und Mark zu erzählen würde bedeuten, es auch Amelia beichten zu müssen. Wie würde sie das wohl aufnehmen?
«Mache ich das nicht gut, Daddy?», fragte Stephanie und schaute von ihrer Arbeit auf.
«Wunderbar, Liebling», antwortete er.
Als sie sich wieder dem Einrühren saurer Sahne in die Hühnercremesuppe zuwandte, beugte sich George mit Tränen in den Augen zu ihr hinab und küsste sie auf den Kopf.
«Amelia, bist du wach?», flüsterte Karen, als sie die Tür öffnete und in das schwach beleuchtete Gästezimmer spitzte.
Amelia lag auf einem der beiden Betten. Die hellgrünen Steppdecken mit Paisleymuster passten zu den geschlossenen Gardinen, und überhaupt schien das ganze Zimmer wie aus einem Katalog, so austauschbar wirkte die Ausstattung. An der Wand hingen zwei Robert-Capra-Poster – Schwarz-Weiß-Szenen aus Paris.
Amelia setzte sich auf und blinzelte Karen an. «Oh, hallo.»
«Hast du gerade mit dem Handy telefoniert?», fragte Karen. «Ich hörte, wie du jemandem etwas zugeflüstert hast.»
«Ich … äh, ich muss wohl im Schlaf gesprochen haben», meinte sie achselzuckend.
Karen schloss die Tür hinter sich und setzte sich dann auf das Bett gegenüber von Amelia. Sie griff nach der Lampe auf dem Nachttischchen zwischen ihnen.
«Nein, bitte nicht», sagte Amelia.
Also saßen sie für ein paar Augenblicke in der Dunkelheit. Karen hörte ein gedämpftes Schluchzen und blickte hoch zu einer Lüftungsöffnung in der Decke.
«Das kommt aus Jodys Zimmer», erklärte Amelia.
Karen hörte noch kurz zu und seufzte dann. «Du gibst dir doch nicht etwa die Schuld für das, was letzte Nacht im Ferienhaus passiert ist?»
Amelia schüttelte schnell den Kopf. «Nein.»
«Es wird dir guttun, darüber zu reden.»
Amelia blickte zur Lüftungsöffnung hoch. Jodys Schluchzen schien sie zu deprimieren. Sie wischte sich eine Träne von der Wange.
«Das ist nicht deine Schuld», flüsterte Karen.
«O doch», murmelte sie und packte ihr Kopfkissen. Sie legte sich seitlich aufs Bett und rollte sich zusammen. «Es war genau wie bei Collins Tod. Den ganzen gestrigen Tag über hatte ich das schreckliche Gefühl, dass Mom, Dad und Tante Ina den Tod verdient hätten.»
«Aber warum denn?»
«Keine Ahnung. Ich hatte etwas Bösartiges in mir und spielte mit dem Gedanken, zum Lake Wenatchee zu fahren und sie alle zu erschießen. Ich weiß, das ergibt alles keinen Sinn. Ich war so durcheinander und wollte dich anrufen, aber du warst nicht zu Hause. Und mit Shane konnte ich nicht darüber sprechen. Wir waren letzte Nacht auf einer Party, und ich wollte mich einfach nur betrinken. Ich hatte nur ein paar Bier, aber das hat mir gereicht. Ich nahm mir eine halbvolle Flasche Tequila, lieh Shanes Wagen und fuhr einfach los. Das ist alles, woran ich mich erinnere; was danach geschah, ist weg.»
«Mein Gott», flüsterte Karen kopfschüttelnd.
«Das Nächste, was ich weiß, ist, dass ich heute Morgen auf diesem leeren Parkplatz in Easton aufgewacht bin. Weißt du, wo Easton liegt?» Amelia setzte sich auf und starrte sie an. «An der I-90, auf halber Strecke zwischen hier und Wenatchee. Ich muss dort auf dem Rückweg angehalten haben. Erst dachte ich, das wäre ein Albtraum, und betete, es möge nicht wahr sein, auch wenn ich genau wusste, dass es das war. Du hättest mir gar nicht erzählen müssen, dass sie tot waren. Ich wusste sogar, wie es geschehen war, weil ich sie getötet habe.»
«Aber du sagtest doch, du hättest einen Blackout gehabt», wandte Karen ein. «Du kannst also gar nicht sicher sein –»
«Das war kein Traum, Karen. Ich erinnere mich an meinen Vater im Schaukelstuhl am Kamin.» Amelia heulte nun hemmungslos. «Ich … ich schoss ihm in den Kopf. Meine Mutter muss davon aufgewacht sein. Ich sehe sie vor mir, wie sie aus dem Schlafzimmer gerannt kommt. Ich habe auch auf sie geschossen – ins Gesicht …» Sie rollte sich wieder zusammen und schluchzte ins Kissen. «Tante Ina … Das muss wohl später gewesen sein, aber ich weiß es nicht genau. Ich weiß nur noch, wie sie da im Wohnzimmer stand, meinen Dad anstarrte und dann mich. ‹O mein Gott, Liebes, was hast du da getan?›, fragte sie. Ich sagte nichts und schoss ihr einfach in die Brust …»
Karen starrte sie entsetzt an. «Amelia, das ist ausgeschlossen. Du bist gar nicht fähig zu derart kaltblütigen –»
«Woher weiß ich dann, was geschehen ist?», fiel Amelia ihr ins Wort. «Keiner in diesem Haus weiß es außer mir. Also muss ich wohl dort gewesen sein. Ich habe sie alle getötet.»
«Das ist nicht wahr, Amelia», widersprach Karen und legte ihr eine Hand auf die Schulter. «So war das nicht. Hör mir jetzt mal zu. Wenn du es getan hast – welche Art von Gewehr hast du benutzt?»
Amelia zuckte mit den Achseln. «Wahrscheinlich das Jagdgewehr meines Vaters. Ich erinnere mich daran, dass ich bei jedem der drei Schüsse einen fürchterlichen Rückschlag an der Schulter gespürt habe. Es war wie der Hieb mit einem Baseballschläger.»
«Hast du letzte Nacht zum ersten Mal damit geschossen?»
«Ich denke schon.»
«Und du wusstest sofort, wie man es bedient? Wie man es lädt und entsichert?» Karen wartete nicht auf eine Antwort, sondern schaltete die Nachttischlampe ein. «Sind das dieselben Kleider, die du letzte Nacht anhattest? So, wie du es erzählt hast, hättest du sie aus der Nähe erschossen. Aber wo ist das Blut auf deinen Kleidern, Amelia?»
«Ich muss es wohl ausgewaschen haben», murmelte Amelia und blickte an sich hinab.
«Wo? Wann? Während deines Blackouts? Blut lässt sich nicht so leicht auswaschen.»
Amelia zuckte nur die Achseln und schüttelte den Kopf.
«Hör mal, du warst gar nicht da», erklärte Karen. «Überleg doch mal, wie viel Geld du gestern Abend dabeihattest.»
«Um die zwölf Dollar. Warum?»
«Zum Lake Wenatchee sind es rund zweihundertfünfzig Kilometer, also um die fünfhundert hin und zurück, über die I-90 sogar noch mehr. Du hättest irgendwo tanken müssen. Erinnerst du dich, getankt zu haben?»
Amelia biss sich auf die Lippe und schüttelte erneut den Kopf.
«Natürlich nicht», bekräftigte Karen, die das Gefühl hatte, allmählich zu ihr durchzudringen. «Du hattest gar nicht genug Geld für Sprit, und der Kreditrahmen deiner Visa-Karte war ausgeschöpft, wie du mir am Dienstag selbst erzählt hast. Wir sprachen noch darüber, dass du deine Ausgaben besser kontrollieren musst. Schau in deinem Geldbeutel nach. Ich wette, die zwölf Dollar sind noch da.» Karen griff nach Amelias Handtasche, die zwischen ihnen auf dem Fußboden lag. «Darf ich nachsehen?»
Amelia nickte.
Karen fand in der Tasche einen Dollarschein, etwas Kleingeld und dann in Amelias Geldbeutel zwei Fünfer und noch einen Einer. «Das wären genau zwölf Dollar zweiundsechzig. Du hast keinen Sprit gekauft.»
«Schon möglich», räumte Amelia ein. «Aber ich bin schon mal mit einer Tankfüllung bis Wenatchee und zurück gekommen.»
«Dann ruf Shane an und frag ihn, wann er das letzte Mal getankt hat. Und lass ihn die Tankanzeige kontrollieren; dann wissen wir in etwa, wie weit du höchstens gefahren sein kannst. Vielleicht wolltest du ja wirklich nach Wenatchee, aber ich wette, du bist nie hingekommen.» Karen steckte das Geld wieder in Amelias Geldbeutel und legte diesen in ihre Handtasche. Dann holte sie Amelias Handy heraus. «Es ist schon schlimm genug, dass das alles passiert ist. Mach es nicht noch schlimmer, indem du dir die Schuld gibst. Du kannst es nicht getan haben. Also ruf Shane an und frag ihn nach dem Benzin.»
Amelia zögerte, bevor sie das Handy nahm.
Karen hörte etwas draußen. Sie stand auf, schob den Vorhang zurück und schaute hinaus. Eine weiße Limousine und ein Streifenwagen fuhren hintereinander in die Einfahrt der McMillans. «Die Polizei», sagte sie leise, fast wie zu sich selbst.
«O mein Gott.» Amelia schaltete mit panischer Miene das Handy aus. «Die wollen bestimmt mit mir reden. Hilf mir bitte, Karen. Was soll ich ihnen denn sagen?»
Karen wandte sich zu ihr um. «Gar nichts.» Sie nahm ihre eigene Handtasche vom Bett und fand das Fläschchen Diazepam. «Du bist nicht in der Verfassung dazu. Nimm noch eine von diesen Pillen. Ich sage der Polizei, dass du schläfst und nicht gestört werden darfst. Und du wirst wirklich schlafen, wenn du dich zurücklegst und die Tablette wirken lässt. Ruf Shane an, aber leise. Ich hole dir noch etwas Wasser.»
Karen verließ das Gästezimmer und fand unmittelbar daneben das Bad. Sie hörte jemanden oben im Eingangsbereich. Rasch spülte sie ein Glas aus und ließ kaltes Wasser ein. Dann blieb sie vor dem Spiegelschrank stehen und öffnete ihn, um nach Medikamenten zu schauen. Sie fand eine Packung Aspirin: Die Tabletten darin hatten genau dieselbe zylindrische Form wie die im Diazepam-Fläschchen. Zwar waren sie nicht hellblau, aber im dunklen Zimmer würde Amelia das kaum merken. Karen wollte nicht, dass sie noch eine Diazepam-Tablette nahm; Amelia sollte lediglich glauben, entspannt und schläfrig zu sein.
Als Karen aus dem Badezimmer trat, hörte sie, dass oben gesprochen wurde.
«Ich glaube, sie schläft jetzt», sagte George. «Ihre Therapeutin sieht gerade unten im Gästezimmer nach ihr. Könnten Sie sie noch ein wenig ausruhen lassen und mich zuerst befragen?»
Sein Gegenüber murmelte eine Antwort.
«Danke», erwiderte George. «Gehen wir da rein …»
Karen schlich wieder ins Gästezimmer und schloss leise die Tür.
«Ich muss jetzt Schluss machen», flüsterte Amelia in ihr Handy. «Ich erkläre alles später, versprochen. Ich lieb dich auch. Tschüs.» Sie beendete das Gespräch und blickte mit einem Funken Hoffnung in den Augen zu Karen hoch. «Er hat gerade den Wagen von deinem Haus abgeholt. Der Tank ist etwa zu einem Viertel voll. Er meint, er war zu drei Vierteln gefüllt, als wir letzte Nacht zur Party gefahren sind.»
Karen schaltete das Licht aus und setzte sich neben sie. Dann gab sie ihr das Aspirin und das Wasserglas. «Das kommt etwa hin, oder? Gut zweihundertfünfzig Kilometer bis Easton und zurück, das ist ungefähr eine halbe Tankfüllung. Ohne Nachtanken wärst du nie bis Wenatchee und zurück gekommen.»
Amelia nickte, schluckte das Aspirin mit etwas Wasser und gab Karen das Glas zurück, Tränen in den Augen. «Ich verstehe das alles immer noch nicht. Wenn ich es nicht getan habe, wie kommen dann diese Bilder in meinen Kopf?»
«Das weiß ich noch nicht, aber das finden wir heraus. Versprochen.» Karen strich ihr über den Arm. «Nur weil du bestimmte Bilder im Kopf hast, müssen die noch lange nicht wahr sein. Wir wissen doch noch nicht einmal, wie es passiert ist.»
Amelia legte sich wieder hin und schlang die Arme um ihr Kissen. «Warum sprichst du nicht mit der Polizei, Karen? Dann erfahren wir, ob ich recht habe oder nicht.»