Kapitel vier

«Was ist mit der Frau, die weiter hinten am Seeufer wohnt?», fragte George. «Dein Dad hat erzählt, dass sie schon mal in Notfällen bei ihr telefoniert haben. Hast du die Nummer?»

«O Gott, Miss Sumner», murmelte Amelia am anderen Ende der Leitung; sie wirkte wie benommen. «Die hatte ich ganz vergessen. Wir haben ihre Nummer irgendwo, wahrscheinlich zu Hause in Bellingham.»

«Weißt du, wie sie mit Vornamen heißt?»

«Augenblick mal, Onkel George. Da kommt gerade ein Tunnel.»

«Ich dachte, du hättest angehalten. Du sollst doch beim Fahren nicht telefonieren –»

«Gott, du klingst genau wie Dad. Ist schon okay. Freunde von mir simsen sogar beim Fahren.»

«Dann sind sie Idioten», sagte George und merkte, dass er keine Verbindung mehr hatte. Sie war wohl bereits im Tunnel.

Mit dem schnurlosen Telefon am Ohr schaute er zu den Wohnzimmerfenstern. Von dieser Stelle in der Küche konnte er durch die dünnen Vorhänge auf den Hof hinausblicken. Er hatte Jody und Stephanie hinausgeschickt, um mit Amelia telefonieren zu können, ohne dass die Kinder es mitbekamen. Sie brauchten nicht zu wissen, dass er sich Sorgen um ihre Mutter machte.

Auf dem Heimweg vom Zentrum hatte George sich immer mehr Sorgen gemacht. Ina hatte versprochen, heute Morgen anzurufen.

Auf dem Anrufbeantworter waren keine Nachrichten gewesen, als er nach Hause gekommen war, außer zwei neueren von einer völlig panischen Amelia. Ihre «Vorahnung», dass Ina, Mark und Jenna ermordet worden waren, erschien ihm zwar völlig grotesk, beunruhigte ihn aber trotzdem.

«Weißt du noch, wie ich vor allen anderen wusste, dass Collin gestorben ist?», hatte sie gefragt. George aber erinnerte sich nur daran, dass Amelia nach seinem Ertrinken behauptet hatte, alles gesehen zu haben – im Geiste. Sie glaubte nicht, dass Collin einfach vom Kai gefallen und mit dem Kopf gegen einen der Pfähle geschlagen war. Sie sah mehr darin. Sie hatte so ein Gefühl 

George und Ina waren davon ausgegangen, dass ihre süße, aber etwas verkorkste Nichte nur um Aufmerksamkeit buhlen wollte. Neben ihrem einnehmenden jüngeren Bruder musste Amelia sich wie das fünfte Rad am Wagen vorgekommen sein. Im Jahr 1992 hatten Mark und Jenna vergeblich versucht, ein Kind zu bekommen, und schließlich die hübsche vierjährige Amelia adoptiert. Sie waren von der Kleinen hellauf begeistert gewesen – bis Jenna zwei Monate später erfuhr, dass sie schwanger war.

Amelia liebte ihren kleinen Bruder über alles, wurde selbst aber offenbar immer schwieriger. Mark und Jenna verbrachten wegen Amelias Albträumen mehr schlaflose Stunden als mit dem Stillen des Babys. Und selbst als Collin eigentlich hätte durchschlafen sollen, weckte Amelia ihn jedes Mal auf, wenn sie schreiend aus dem Bett sprang. Die Albträume hatten noch nicht aufgehört, als Amelia begann, unter Phantomschmerzen zu leiden und Krankheiten vorzutäuschen. «Es fühlt sich an, als ob mir jemand den Arm abdreht!», hatte sie einmal zu Thanksgiving in Georges und Inas Haus geschrien und dann minutenlang geheult. Jenna zufolge behauptete Amelia noch zwei Tage später, dass ihr Arm schmerze, obwohl nichts zu sehen war. Bei anderen Gelegenheiten meinte sie, es fühle sich an, als ob jemand sie schlagen oder treten würde. Mehrmals fuhren sie völlig grundlos zum Arzt oder zur Notaufnahme. Zu Beginn ihrer Highschool-Zeit veranlassten solche Phantomschmerzen Jenna, mit ihr zu einem Gynäkologen zu gehen. Jenna hatte befürchtet, jemand könnte Amelia sexuell belästigen, doch die Ärzte fanden keinerlei Hinweise darauf.

In der Highschool begann Amelia dann zu trinken. Trotz ihrer Probleme war sie eine sehr gute Schülerin und ausgesprochen entzückend und warmherzig. Nieste jemand im Supermarkt im nächsten Gang, rief sie laut «Gesundheit!». George vermutete, dass ihr starkes Verlangen, anderen zu gefallen, in Verbindung mit dem üblichen Konkurrenzkampf unter Gleichaltrigen sie zum Trinken verführte. Sie hatte ohne Erfolg mehrere Therapeuten abgeklappert, bis sie vor kurzem bei dieser Karen gelandet war. Amelia mochte sie sehr, aber George blieb skeptisch.

Am besten schien Ina zu Amelia durchzudringen. Seit Amelia an die Uni ging, hatten sie sich viel öfter gesehen. Ina genoss es, wie sehr die junge Studentin sie bewunderte. Sie gingen gemeinsam in angesagte Restaurants und Studentenkneipen, zum Einkaufsbummel oder zur Pediküre und Maniküre in Inas bevorzugtem Wellness-Tempel. Ina wurde Amelias Freundin und Vertraute.

George fragte sich, ob Ina in dieser Rolle besser war als in der als Ehefrau und Mutter. Der Gedanke erschreckte ihn selbst, hatte er doch erst vor einer Stunde Gott versprochen, es noch einmal mit Ina zu versuchen.

George starrte noch immer mit dem Hörer am Ohr aus dem Fenster. Eines der Nachbarskinder – Jodys Freund Brad Reece – schloss sich den Kindern auf dem Rasen vor dem Haus an, und nun spielten die Jungs Frisbee und ignorierten Stephanie.

«Onkel George, bist du noch dran?»

«Ja. Ich dachte schon, die Verbindung wäre abgerissen.»

«Die alte Dame heißt Helene. Helene Sumner in Lake Wenatchee. Ich rufe gleich die Auskunft an –»

«Lass mal, ich mach das schon.» Er nahm einen Stift und notierte den Namen. «Ich möchte nicht, dass du ständig beim Fahren telefonierst. Wo bist du eigentlich? Wo ist dieser Tunnel?»

Sie zögerte.

«Amelia?»

«Bin gerade über die Brücke auf der I-90. Ich … ich war bei einer Freundin in Bellevue.»

«Hör mal, wenn du nichts anderes vorhast, kannst du gern vorbeikommen –»

«Äh … das geht gerade nicht, Onkel George. Muss zu meiner Therapeutin. Vielleicht später, ja?»

«Okay. Ich rufe diese Helene Sumner an und bitte sie, einmal nachzusehen. Sobald ich etwas weiß, melde ich mich.»

«Mein Akku ist fast leer. Ich gebe dir Karens Nummer, falls du mich nicht erreichen kannst. Karen Carlisle, meine Therapeutin. Hast du was zu schreiben?»

«Hab ich.» George schrieb die Nummer in Seattle auf. «Ich ruf dich an. Und mach dir keine Sorgen. Ist bestimmt alles in Ordnung.»

 

Amelia raste im Wagen ihres Freundes über die Interstate 90, beendete mit einem Tastendruck das Gespräch und warf das Handy auf den Beifahrersitz. Sie umklammerte das Steuer mit beiden Händen und begann zu weinen.

Onkel George hatte gemeint, alles wäre gut, aber er wusste nicht, was sie wusste. Amelia hatte ihm nicht die ganze Geschichte erzählt. Sie hatte nicht gesagt, dass höchstwahrscheinlich sie selbst ihre Eltern und Ina umgebracht hatte.

Gelogen war auch, dass sie bei einer Freundin gewesen war. Nach ihrem Erwachen auf dem leeren Parkplatz war sie zehn Minuten herumgefahren, bis sie die Auffahrt zur Schnellstraße gefunden hatte. Erst als sie ein Ortsschild sah, wusste sie, wo sie war: Easton, Washington – eine Kleinstadt hundertfünfzig Kilometer östlich von Seattle. Der Ort lag auf halber Strecke nach Wenatchee – oder von Wenatchee. War sie letzte Nacht dort gewesen? Hatte sie in Easton Rast gemacht, um auf dem Rückweg von der Ermordung ihrer Eltern und ihrer Tante ein paar Stunden zu schlafen?

Shane hatte auf ihrer Mailbox drei Nachrichten hinterlassen und nach seinem Auto gefragt. Amelia fuhr gerade durch Snoqualmie, als sie ihn zurückrief. Sie log, sie habe am Vorabend das plötzliche Bedürfnis verspürt, die Wasserfälle von Snoqualmie zu sehen. Ja, sie habe sich ein bisschen betrunken und ihren Rausch auf dem Parkplatz der Snoqualmie Lodge ausgeschlafen. Ja, es gehe ihr gut. Sie habe nur ein schlechtes Gewissen, weil sie sein Auto entführt und sich bei der Party so blöd benommen hatte.

Sie konnte Shane nicht die Wahrheit sagen. Wirklich reden konnte sie nur mit ihrer Therapeutin Karen.

Merkwürdigerweise waren die beiden Personen, denen sie am meisten vertraute, zwei Frauen in den Dreißigern. Ansonsten waren die beiden jedoch sehr unterschiedlich. Karen mit ihrem welligen, schulterlangen kastanienbraunen Haar und den braunen Augen hatte die natürliche Schönheit, die andere Frauen bewunderten, die aber nur den wenigsten Männern auffiel. Sie war sehr bodenständig, hatte aber trotzdem etwas Außergewöhnliches an sich. Selbst in Jeans und einem schwarzen, langärmligen T-Shirt wirkte sie elegant. Amelias Tante Ina dagegen war sehr auffällig, und alle Blicke richteten sich auf sie, wenn sie einen Raum betrat.

Amelia wusste noch, wie glücklich sie gewesen war, als ihre coole Tanta Ina beschlossen hatte, mehr Zeit mit ihr zu verbringen. Sie gingen in Galerien, ins Theater und in all diese In-Restaurants. Dann aber lernte Amelia die mitfühlende und warmherzige Karen kennen. Nach einer Weile vertraute sie sich Ina nicht mehr an, doch die war ohnehin keine gute Zuhörerin. Amelia merkte, wie egozentrisch ihre Lieblingstante sein konnte. Manchmal kam sie sich vor wie Inas Schoßhündchen – sie, das dumme College-Mädchen, das bewundernd zu ihrer frivolen Tante aufblickte und ihr kritiklos hinterhertippelte.

Amelia erinnerte sich. Du selbstsüchtige Schlampe, hatte sie letzte Nacht gedacht, als sie auf ihre Tante Ina gezielt hatte. Amelia ist doch nicht dein Haustier!

Es war, als habe jemand anders an ihrer Stelle gesprochen – und getötet. Aber Amelia erinnerte sich, den Abzug betätigt zu haben. Sie erinnerte sich an den Rückstoß und an den Knall.

Mein Gott, bitte, mach, dass ich das nicht getan habe! Mach, dass sie gesund und munter sind!

Sie drückte das Gaspedal weiter durch.

Während sie weiterhin nach vorn auf die Straße blickte, wischte sich Amelia die Tränen aus den Augen. Dann griff sie nach dem Handy.

Sie hatte eine Kurzwahl für Karen einprogrammiert.

 

«Frank, nimm jetzt bitte das Messer runter», sagte Karen mit fester, ruhiger Stimme.

Alle anderen um sie herum drehten völlig durch, während sie versuchte, ruhig zu bleiben und Blickkontakt zu dem dreiundsiebzigjährigen Alzheimer-Patienten zu halten. Der unrasierte Mann hatte fettiges, langes graues Haar und ein rötliches Gesicht. Sein vom Essen beflecktes T-Shirt trug er verkehrt herum. Auch die hellgrüne Schlafanzughose war schmuddelig. In seiner zittrigen Hand hielt er ein Schlachtermesser. Er sah verängstigter aus als alle anderen in der Cafeteria des Pflegeheims. Wenige Augenblicke zuvor hatte er versehentlich einen Stapel schmutziger Servierbretter umgestoßen, als er einem übertrieben aggressiven Mitglied des Küchenpersonals ausgewichen war.

«Lass das verdammte Messer fallen», knurrte der kleine Mann in den Dreißigern. Unter seiner Schürze trug er T-Shirt und Khakihose. Seine dünnen Arme waren mit Tätowierungen übersät. Zentimeterweise näherte er sich dem hoffnungslos verwirrten Patienten. «Komm schon, lass es fallen! Ich hab nicht den ganzen Tag Zeit!» Er kickte einen Stuhl weg, der den alten Mann nur knapp verfehlte. «Hörst du, Opa? Lass es fallen!»

«Zurück!», blaffte Karen. «Sehen Sie nicht, dass er total verängstigt ist?»

Zwei Pfleger und etliche ältere Mitbewohner hatten sich hinter ihr versammelt, um nachzusehen, was los war. Die Heimleiterin – eine attraktive weißhaarige Frau in den Sechzigern namens Roseann – hatte es geschafft, alle Übrigen aus der Cafeteria zu scheuchen. Sie stand an Karens Seite. «Hast du gehört, Earl?», schrie Roseann den Küchenangestellten an. «Überlass das Karen. Sie weiß schon, was sie tut!»

Earl aber hörte nicht. Er näherte sich dem Mann, als wolle er ihn gleich anspringen. «Du solltest besser keine Messer aus meiner Küche klauen, Opa …»

«Nein – nein!», schrie der Patient und wedelte mit dem Messer.

Karen sah, wie der verängstigte alte Mann sich zum Stapel mit den Servierbrettern zurückdrängen ließ. Er war barfuß, und auf dem Boden lagen Glasscherben.

Roseann rang nach Luft. «Earl, nicht –»

Earl stürzte sich auf den Mann, der jedoch zurückwich und dabei mit dem Messer den Angreifer am Arm verletzte. Ein paar Heimbewohner hinter Karen schrien auf.

Der kleine Mann heulte auf und zuckte zurück. «Dreckskerl!»

Einer der Pfleger eilte ihm zu Hilfe. Earl brummte Schimpfwörter vor sich hin und hielt sich den blutenden Arm.

«Nein!», wiederholte der Alte.

«Alles in Ordnung!», rief der Pfleger, nachdem er Earls Wunde begutachtet und ihn zum Ausgang der Cafeteria gezogen hatte. «Sieht nicht allzu tief aus …»

«Gar nichts ist in Ordnung!», blaffte Earl. «Ich verblute!»

Der Pfleger beruhigte ihn und führte ihn hinaus.

Karen blickte dem Alten noch immer in die Augen. «Das war doch nur ein Unfall, Frank», erklärte sie ruhig. «Wir alle haben es gesehen. Niemand ist böse auf dich. Und jetzt leg bitte das Messer weg, ja?»

Er schüttelte mit weit aufgerissenen Augen den Kopf und kam den Glasscherben auf dem Boden wieder einen Schritt näher.

«Frank, was meinst du – wie werden wohl die Cubs in dieser Saison abschneiden?», fragte Karen unvermittelt.

Ihr war wieder eingefallen, dass er bei ihrem letzten Besuch ständig über die Chicago Cubs geplappert hatte, als lebten sie noch im Jahr 1968, als er ein erfolgreicher dreiunddreißigjähriger Anwalt in Illinois gewesen war und eine bildhübsche Frau namens Elaine sowie zwei Kinder, Frank junior und Sheila, gehabt hatte. Der alte Mann mit den fleckigen Kleidern hatte einst teure Anzüge getragen. Nach ihrem Umzug nach Seattle im Jahr 1971 bekamen sie ein drittes Kind, ein Mädchen. Frank baute seine eigene Kanzlei auf, blieb aber die ganze Zeit über immer ein Fan der Cubs.

Auch wenn das typisch für Alzheimer-Patienten ist, fand Karen es irgendwie witzig, dass Frank sich oft nicht an die Namen seiner toten Frau, seiner drei Kinder oder seiner sieben Enkel erinnerte, aber an die Aufstellung der Cubs von 1968.

«Wie wird sich wohl Ernie Banks machen, Frank?»

Er blieb stehen, und seine milchig blauen Augen verengten sich. «Äh … Sie sollten vor allem auf Ron Santo achten. Das wird sein Jahr.» Er senkte das Messer, als habe er plötzlich vergessen, dass er es in der Hand hielt.

«Ich dachte, du wärst ein Fan von Ernie Banks», sagte sie. «Hinter dir liegen übrigens Scherben. Also Vorsicht!»

Er drehte sich um und schaute auf den Boden. «Ja, Ernie muss man einfach mögen, nicht wahr?»

In Karens Jeanstasche vibrierte ihr Handy, doch sie ignorierte es und trat auf ihn zu. «Du solltest jetzt wirklich das Messer weglegen. Holen wir uns ein wenig Eis?»

Stirnrunzelnd starrte er das Messer in seiner Hand an und legte es dann auf einen der Tische.

«Möchten Sie Eis, Frank?», mischte Roseann sich ein. «Ich finde, das ist eine gute Idee von Karen. Sie erkennen sie doch?»

Der zweite Pfleger griff vorsichtig nach dem Messer und nahm es an sich. Ein paar Heimbewohner hinter Karen seufzten erleichtert auf, und ein älterer Mann klatschte Beifall.

Karen legte den Arm um Frank. Sein Körper- und Mundgeruch waren schrecklich, aber sie lächelte ihn an. «Du erkennst mich doch, Papa?»

Ein Lächeln huschte über sein Gesicht, und für eine Sekunde war er wieder ihr Dad. «Natürlich», flüsterte er. «Du bist mein kleines Mädchen.»

Sie drückte seine Schulter. «Genau, Papa. Und jetzt waschen wir dich, okay?» Sie führte ihn auf die Tür zu.

Als der Pfleger Mr. Carlisle umzog und wieder zu Bett brachte, hörte Karen im Aufenthaltsraum ihre Mailbox ab. Sie arbeitete schon ein halbes Jahr lang einmal wöchentlich freiwillig im Pflegeheim Sandpoint View und kannte die gesamte Belegschaft. So erreichte sie es, dass man sich besonders gut um ihren Vater kümmerte und zugleich ihr schlechtes Gewissen – das sie plagte, seit sie ihn dorthin gebracht hatte – ein wenig beruhigt wurde.

Außer an ihrem freiwilligen Arbeitstag besuchte Karen ihren Vater etwa zweimal die Woche. Sie war gerade auf dem Weg zu ihm gewesen, als Roseann angerufen und ihr gesagt hatte, dass es wieder einmal einen «Vorfall» mit ihrem Vater gab. Frank hatte sich schon ein paarmal der Überwachung entzogen und einmal sogar das Heimgelände verlassen. Noch nie zuvor aber hatte er andere in Gefahr gebracht.

Karen wusste, dass Roseann nach der Sache in der Cafeteria etwas unternehmen musste. Wahrscheinlich würden sie es mit neuen Medikamenten versuchen, was ihn aber nur noch benommener und noch schwerer zugänglich machen würde. Oder sie verlegten ihn in die Station mit den schweren Fällen.

Doch daran wollte Karen jetzt nicht denken.

Sie nickte einer Schwester grüßend zu, die mit ihrem iPod und einem Sandwich am Tisch saß. Der kleine Aufenthaltsraum hatte ein Fenster mit heruntergelassenen Läden und gelbgestrichene Betonziegelwände, an denen jemand diese rührselig-kitschigen Poster mit den Titeln «Erfolg», «Freundschaft» und «Gelassenheit» gehängt hatte. Die Fotos – Menschen vor Sonnenuntergang, Goldfisch im Glas und Drachen vor blauem Himmel – waren mit einem Weichzeichner aufgenommen, die gefühlsduseligen Sprüche in Schreibschrift gehalten. Ansonsten gab es noch ein leicht ramponiertes Sofa, einen Minikühlschrank, einen Münzautomaten und, neben der Spüle, eine Kaffeemaschine.

Karen goss sich eine Tasse von dem grauenhaften Kaffee ein. Dann checkte sie ihre Mailbox. Amelia Faraday hatte angerufen.

Von ihren einunddreißig Patienten ging ihr Amelia am nächsten. Zunächst hatte Amelia sie an einen anderen Menschen erinnert, den sie verloren hatte. Irgendwie glaubte Karen, sich selbst helfen zu können, wenn sie Amelia half, ihre Probleme zu lösen. Das würde zwar die Toten nicht wieder zum Leben erwecken, aber vielleicht ihren eigenen Schmerz lindern.

Als sie ihre Mailbox abhörte, schlug ihr Amelias schrille, panische Stimme wie ein Vorwurf entgegen. «Karen? Ich habe dir zu Hause ein paar Nachrichten hinterlassen …» Sie atmete schwer und begann zu weinen. «Mein Gott, Karen, mir ist etwas Schreckliches passiert. Ich muss unbedingt mit dir reden. Bitte … bitte, ruf mich zurück …»

Sie wollte gerade zurückrufen, als Earl in den Aufenthaltsraum gewankt kam, einen Verband um den verletzten Arm.

«Sie!», knurrte der unheimliche kleine Mann und zeigte mit dem Finger auf sie. «Sie können von Glück reden, dass ich nicht genäht werden musste …»

Karen legte das Handy hin. «Earl, das mit Ihrem Arm tut mir leid …»

«Davon wird es auch nicht besser», fiel er ihr ins Wort.

Die Schwester nahm die Ohrhörer ihres iPod ab und beobachtete die beiden.

«Ich sorge dafür, dass Ihr Alter ans Bett gefesselt wird. Der ist ja gemeingefährlich!» Earl näherte sich Karen, bis er ihr fast ins Gesicht brüllte. «Noch besser wäre es, wenn sie diesen verrückten alten Idioten zu den anderen Spinnern auf Station E stecken würden, bevor er jemanden umbringt. Ich kann auf diese Scheiße verzichten. Ich sorge schon dafür, dass sie ihn einschließen –»

«Nein, Earl», widersprach Karen entschieden. «Sorgen Sie besser dafür, dass die Küchenmesser eingeschlossen werden. Über ein Drittel der Heimbewohner hier hat Alzheimer oder eine andere Form von Demenz, und Sie lassen Messer so offen herumliegen, dass jeder sie nehmen kann. Mein Vater ist zu verantwortlichem Handeln nicht mehr fähig, Sie dagegen schon. Und wenn Sie mich hätten machen lassen, wäre Ihrem Arm auch nichts passiert.»

Er starrte sie mit offenem Mund an und schüttelte den Kopf.

«Noch was, Earl: Wenn Sie meinen Vater noch einmal als verrückten alten Idioten bezeichnen, schlage ich Sie kurz und klein – oder ich bezahle einen der Pfleger dafür, dass er es tut.»

Die Schwester, die sie beobachtete, lachte spontan auf.

Earl schüttelte noch immer den Kopf. «Sie wollen mir drohen?»

«Earl?»

Er wirbelte herum und sah Roseann in der Tür stehen, die Arme vor der Brust verschränkt. «Karen hat recht wegen der Messer», sagte sie. «Ich habe Ihnen das auch schon erklärt. Sorgen Sie dafür, dass es nicht wieder vorkommt. Was stehen Sie hier rum – haben Sie eigentlich nichts zu tun?»

Er brummte trotzig, warf Karen noch einen finsteren Blick zu und stampfte aus dem Raum.

Roseann blickte stirnrunzelnd zur Schwester. «Die Show ist zu Ende, Michelle. Ihre Pause auch, schon seit zehn Minuten.»

Die Schwester nickte, biss noch einmal von ihrem Sandwich, steckte ihre Sachen ein und verzog sich.

«Danke fürs Eingreifen», sagte Karen mit einem erschöpften Lächeln. «Wie geht’s meinem Dad?»

«Ruhiggestellt.» Roseann setzte sich an den Tisch. «Er kriegt einen Gutschein für das Eis. Hören Sie, wir müssen noch einmal über Frank reden.»

Karen nickte. «Das habe ich kommen sehen.» Aber sie hatte sich geweigert, das Unvermeidliche zur Kenntnis zu nehmen. Ihr Vater entfernte sich immer weiter von ihr.

«Tun Sie sich selbst einen Gefallen», hörte sie Roseann sagen. «Sprechen Sie mit einem psychologischen Berater oder schließen Sie sich einer Alzheimer-Selbsthilfegruppe an. Sie haben die ganze Zeit über keinerlei Hilfe erhalten. Es geht nicht nur um Ihren Vater. Das letzte Jahr war auch schlimm für Sie, nach allem, was Sie mir über Ihre gescheiterte Beziehung und die Sache mit dem armen Mädchen erzählt haben. Wie hieß sie nochmal?»

«Haley Lombard», sagte Karen ruhig.

«Was für ein Jammer», seufzte Roseann. «Jedenfalls wären Sie die Erste, die jemandem in Ihrer Situation empfehlen würde, psychologischen Rat einzuholen.»

Roseann hatte natürlich recht, aber Karen lebte davon, den ganzen Tag lang die Probleme anderer Leute anzuhören, und was ihr dann an Zeit noch blieb, ging für ihren Vater drauf. Sie wollte nicht ihre wenige Freizeit mit einer Therapie oder Gesprächen über Alzheimer verbringen. Ihre Therapie war ein Filmklassiker auf DVD, denn das war fast wie der Besuch eines alten Freundes. Ein Abend zu Hause mit Cary Grant und Eva Marie Saint oder mit Gregory Peck und Audrey Hepburn heilte ihren Schmerz zwar nicht, linderte ihn aber zumindest ein wenig.

«Wer weiß, vielleicht lernen Sie in einer dieser Alzheimer-Gruppen ja einen netten unverheirateten Mann kennen», meinte Roseann.

«Na klar.» Karen nippte ein letztes Mal an dem schlechten Kaffee, bevor sie den Rest in den Ausguss schüttete und ihre Tasse ausspülte. «Als ob ich jemanden bräuchte, dessen Leben dank Alzheimer genauso verkorkst ist wie meines. Außerdem würde ich am Ende diese verdammten Treffen nur selber leiten.»

«Ja, vermutlich», murmelte Roseann und nickte. «Aber Sie würden es verdammt gut machen. Wenn es darum geht, sich selbst zu helfen, sind Sie leider nicht so gut, Karen.»

Bevor Karen antworten konnte, vibrierte erneut ihr Handy. Karen sah nach: Es war wieder Amelia. Karen seufzte und drückte das Handy ans Ohr. «Tut mir leid, Roseann, ich muss da ran … Hallo? Amelia?»

«Oh, Gott sei Dank!», begann das Mädchen. «Tut mir leid, falls ich störe, Karen, aber es ist etwas Schreckliches passiert –»

«Wo bist du jetzt?»

«In Shanes Wagen – auf deiner Einfahrt. Ich kann mit niemandem sonst darüber reden, nur mit dir. Ich habe wieder einen Blackout gehabt und fürchte, ich habe etwas getan …»

«Das wird schon wieder», meinte Karen ruhig und schaute auf ihre Armbanduhr. «Meine Haushälterin Jessie müsste bald kommen. Sag ihr, sie soll dich hineinlassen, und warte auf mich. Im Kühlschrank steht Diät-Cola. Ich bin in einer halben Stunde da, okay?»

«Ja, danke, Karen. Vielen Dank.»

«Bis gleich.» Karen steckte das Handy wieder ein und warf Roseann ein blasses Lächeln zu. «Tut mir leid, Ro. Können wir das mit meinem Dad ein andermal besprechen? Eine meiner Patientinnen braucht dringend meine Hilfe.»

Roseann nickte. «Na klar. Helfen Sie ihr. Darin sind Sie wirklich gut, wie ich schon sagte.»

Karen klopfte Roseann auf die Schulter und verließ den Aufenthaltsraum.

Bevor sie das Heim verließ, schaute sie noch kurz bei ihrem Vater vorbei. Der Pfleger hatte ihn gewaschen und umgezogen, und nun schlummerte er friedlich. Sie fragte sich, ob er wohl in seinen Träumen so wie früher war, nicht mehr verängstigt und verwirrt. Sie musste wieder an ihre Highschool-Zeit denken, als sie allein mit ihrem Vater in ihrem großen weißen Haus unweit von Seattles Volunteer Park gewohnt hatte. Ihre Mutter war an Krebs gestorben, als Karen vierzehn gewesen war. Ihr Bruder Frank war verheiratet und lebte in Atlanta, ihre Schwester Sheila ging anderswo aufs College. Sie hatten eine Haushälterin, aber meist kümmerte sich Karen ums Einkaufen und Kochen. Der Aufwand war groß und ließ ihr wenig Freizeit. Manchmal wollte sie nach der Schule nur noch schlafen, und ihr Vater gönnte es ihr. Oft kam er in ihr Zimmer, wenn sie nachmittags ein Schläfchen hielt, und deckte sie mit seinem karierten Flanellbademantel zu. Dann wartete er eine Weile, bevor er ihr Abendessen bereitete – entweder Hamburger oder Eier mit Speck. Mehr konnte er nicht. Sie erinnerte sich, wie sie aufgewacht war, das Essen gerochen und den weichen Bademantel über sich gespürt hatte. Sheila hatte ihm vor Jahren einen neuen Bademantel aus blauem Frottee gebracht, den er mit ins Pflegeheim genommen hatte. Doch der alte aus Flanell hing noch immer in seinem Schrank, und manchmal deckte sich Karen mit ihm zu, wenn sie am späten Nachmittag ein Nickerchen hielt.

Beim Anblick ihres Vaters auf einem Lager, das wie ein Krankenhausbett aussah, kamen ihr die Tränen. Während der Highschool hatte sie sich meist ziemlich elend gefühlt, aber jetzt vermisste sie diese Zeit – und ihren Vater. Karen wischte sich über die Augen und küsste ihn auf die Stirn. «Bis morgen, Papa», flüsterte sie, obwohl sie wusste, dass er sie nicht hörte.

Sie verließ das Zimmer, wischte sich noch einmal die Tränen aus den Augen und schaute in den Flur. Sie sah Amelia – oder dachte zumindest, dass sie es war. Die junge hübsche Brünette am Ende des Korridors blickte ihr nur kurz in die Augen, bevor sie sich umdrehte und um die Ecke bog.

 

Als er die Nummer von Helene Sumner in Wenatchee wählte, kam sich George wie ein Idiot vor. Er hatte sich doch tatsächlich von Amelias verrückter Vorahnung verunsichern lassen. Ina hatte zwar anrufen wollen, aber sie hatte schließlich nicht zum ersten Mal ein Versprechen gebrochen. Wahrscheinlich war sie mit Mark und Jenna irgendwohin frühstücken gefahren. Oder sie hatten im Haus gegessen und waren dann wandern gegangen.

Und dennoch war er dabei, diese alte Dame zu bitten, sich einen knappen Kilometer am See entlangzuschleppen, um nachzusehen, ob alles in Ordnung war. Während er dem Wählton lauschte, sah er durch die Vorhänge, wie seine Kinder noch immer mit Jodys Freund spielten.

«Ja, hallo?» Die Frau am anderen Ende der Leitung klang sehr erschöpft.

«Hallo, spreche ich mit Helene?»

«Ja. Sind Sie von der Polizei? Ich dachte, es müsste längst jemand hier sein!»

«Nein, hier ist nicht die Polizei», erwiderte George verwirrt. «Ich rufe aus Seattle an. Ihre Nachbarn, Mark und Jenna Faraday, sind mein Schwager und meine Schwägerin. Mein Name –»

«Sie sind tot», schnitt die Frau ihm weinend das Wort ab. «Er hat die beiden Frauen erschossen und dann sich selbst …»

George fühlte sich wie nach einem Schlag in die Magengrube. Einen Augenblick lang bekam er keine Luft. Er schluckte und warf einen weiteren Blick auf seine Kinder vor dem Haus. Stephanie schrie laut auf und lachte über etwas.

«Ich habe vor zwanzig Minuten die Polizei gerufen», erklärte die Frau mit zittriger Stimme. «Sie sind immer noch nicht da. Mein Gott, ich kann es selber noch nicht fassen, aber ich war im Haus und habe ihre Leichen gesehen und das ganze Blut. Sie sind tot, sie sind alle tot …»