Ihre Tante starrte sie an und fragte: «Was hast du nur getan?», bevor Amelia ihr in die Brust schoss.
Plötzlich fuhr sie hoch und schlug mit dem Knie gegen das Steuer von Shanes Golf. Amelia spürte den Schmerz kaum. Sie war einfach nur froh, wach zu sein – und nicht mehr in diesem Albtraum. Alles kam ihr so furchtbar real vor. Sie hatte sogar gespürt, wie Blut auf ihr Gesicht gespritzt war, als sie ihre Eltern und Tante Ina aus nächster Nähe erschossen hatte.
Und jetzt musterte Amelia verstört ihr Bild im Rückspiegel. Sie berührte ihr Haar. Kein Tropfen Blut. Wenn sie es abgewaschen hätte, würde sie sich daran erinnern. Es war ein Traum – lebendig und beängstigend, aber trotzdem nur ein Traum.
Zitternd vor Kälte blickte Amelia sich um. Es dauerte eine Weile, bis ihr klar wurde, dass sie auf dem Vordersitz des VW eingeschlafen war. Sie hatte auf einem kleinen, tristen Platz vor einer mit Brettern vernagelten Würstchenbude geparkt, über der auf einem unbeleuchteten, rissigen Schild neben der Aufschrift WIENER WORLD HOT DOG EMPORIUM ein lächelnder Dackel abgebildet war.
Amelia wusste nicht genau, wo sie war, hörte aber hinter einigen immergrünen Bäumen gegenüber der WIENER WORLD Autos vorbeifahren. Sie musste in der Nähe eines Highways sein. Auf ihrer Armbanduhr war es 11.15 Uhr.
Ihr dröhnte der Schädel, und sie konnte vor Durst kaum schlucken. Sie hatte mehrere Wochen lang keinen Kater mehr gehabt und wurde nun schmerzhaft daran erinnert, wie sich das anfühlte. Amelia fiel wieder die Party vom Vorabend ein und ihr gemeines Verhalten gegenüber Shane. Sie wusste noch, wie sie diese Flasche Tequila genommen hatte und Richtung Wenatchee losgefahren war. Sie hatte dieses plötzliche Bedürfnis verspürt, zum Ferienhaus der Familie zu fahren und nachzusehen, ob mit ihren Eltern und ihrer Tante alles in Ordnung war. Sie war überzeugt gewesen, dass ihnen etwas zustoßen würde.
Amelia tastete unter dem Fahrersitz nach der Flasche Tequila. Es war noch etwas drin, und sie nahm einen Schluck. Doch selbst der Alkohol konnte die Bilder dieses Albtraums nicht aus ihrem Gehirn tilgen. Im Haus am See war etwas passiert, da war sie sich ganz sicher.
Amelia wünschte, sie könnte sich erinnern, doch zwischen dem Augenblick, als sie die Party verlassen hatte, und ihrem Erwachen gerade eben klaffte in ihrem Gedächtnis eine Lücke. Sie hatte öfter solche Blackouts – meist, wenn sie getrunken hatte, aber auch bei anderen Gelegenheiten. Mitunter behaupteten Leute, sie irgendwo gesehen zu haben, ohne dass Amelia sich daran erinnern konnte. Es war fast, als würde sie hin und wieder schlafwandeln.
Hatte sie in einem solchen Moment ihre Eltern und ihre Tante getötet? War das möglich?
Amelia stellte die Flasche ab, holte ihr Handy aus der Handtasche und wählte die Mobiltelefonnummer ihrer Mutter. Aber wenn sie noch in ihrem Ferienhaus waren, würde sie sie ohnehin nicht erreichen. Und so war es dann auch. Amelia biss sich auf die Lippe und versuchte es mit Tante Inas und Onkel Georges Nummer in Seattle. Ihr Onkel war an diesem Wochenende mit ihrer Cousine und ihrem Cousin zu Hause geblieben. Falls etwas passiert war, würde er vielleicht davon wissen.
«Könnten Sie diese Durchsage bitte wiederholen?», bat George McMillan die Frau an der Information im Pacific Place Shopping Center.
Die hübsche Frau mit dem welligen rotbraunen Haar und der kakaofarbenen Haut nickte und schenkte ihm ein gequältes, mitfühlendes Lächeln, bevor sie ein paar Ziffern wählte.
«Stephanie McMillan, Achtung bitte.» Ihre Stimme unterbrach die Musik in der Lautsprecheranlage. «An den Rolltreppen im Erdgeschoss wartet dein Vater auf dich.» Dann wiederholte sie ihre Durchsage noch einmal.
George bedankte sich und trommelte nervös mit den Fingern auf den Informationsschalter. Er blickte hoch zu den Menschen, die auf allen vier Ebenen des weitläufigen, von Tageslicht erhellten Innenhofs an den Geländern entlanghasteten. Von Steffie keine Spur. Auch unter den Kunden auf den Rolltreppen war sie nicht. Sein Magen verkrampfte sich.
Seine Tochter war seit etwa fünfzehn Minuten verschwunden. George hatte bereits sein Hemd durchgeschwitzt. Er stellte sich alles vor, was ihr an Schrecklichem zugestoßen sein mochte. Er sah Stephanies Gesicht auf Milchtüten und dachte über die telefonische Bitte der Polizei nach, den Leichnam einer hübschen, sommersprossigen Fünfjährigen mit rotbraunem Haar zu identifizieren. Er stellte sich vor, wie er nach dem kleinen erdbeerroten Mal an ihrem Arm suchte, um sicherzugehen, dass es sich nicht um eine Doppelgängerin handelte. Als ob es noch eine wie sie gäbe.
Sein elfjähriger Sohn Jody hätte eigentlich auf sie aufpassen sollen. George hatte die Kinder am Morgen zum Old Navy im Zentrum von Seattle gebracht. Seine Frau Ina hatte ihm eine Einkaufsliste mit Kleidung für die Kinder und ein paar anderen Dingen gegeben. Nach dem Old Navy hatte er bei Pottery Barn im Pacific Place vorbeigeschaut, um Kerzen zu kaufen – vor allem «zwanzig Zentimeter lange in Feige». George hatte eine große Einkaufstüte vom Old Navy an dem einen Arm hängen gehabt und Steffi am anderen. Er war nicht sicher, ob «Feige» ein helles oder ein dunkleres Braun sein sollte oder gar Grün. Oder vielleicht ein Violettton – nein, das war «Pflaume». Er hatte Stephanie bei ihrem Bruder gelassen und dann nach einer Verkäuferin gesucht.
Er fragte sich immer noch, warum zum Teufel Ina die blöden Kerzen ausgerechnet jetzt brauchte. Sie hatte für die nächste Zeit keine Gäste eingeladen. Warum kaufte sie sie nicht einfach selbst, wenn sie wieder da war? Angesichts der Begleitung und ihrer Situation hatte George keine Lust gehabt, an diesem Wochenendausflug zum Lake Wenatchee teilzunehmen. Außerdem musste sich jemand um die Kinder kümmern. Jenna und Mark hatten Amelias Dienste als Babysitter angeboten, aber George traute das seiner Nichte nicht zu, jedenfalls nicht für das ganze Wochenende.
Die letzten Monate waren für alle ziemlich hart gewesen. Der Tod seines Neffen Collin hatte George schwer getroffen. Collin hatte ein sehr enges Verhältnis zu seinem Onkel gehabt und war für Jody wie ein Bruder gewesen. Sein Tod war für beide Familien ein schwerer Schlag gewesen. George war danach wochenlang wie benommen. Vielleicht merkte er deswegen nicht, was zwischen Ina und ihrem Schwager lief.
Als George dann den angefangenen Brief Inas an Mark fand, wurde ihm klar, dass seine Frau offenbar wollte, dass er es merkte.
Es war ohnehin schon geschehen – im Hotel Alexis. «Lieber Mark», hatte sie auf das Briefpapier des Hotels gekritzelt.
Ich schreibe das, während Du in der Dusche bist. Ich spüre Dich noch immer überall auf mir und in mir. Ich weiß, dass wir einen Fehler gemacht haben. Aber wir sind beide gute Menschen, denen Schmerz zugefügt wurde. Wir haben etwas gefunden, das unser Leid und unsere Einsamkeit vertrieben hat. Ob es Liebe ist, weiß ich nicht – nur, dass zwischen uns beiden schon immer eine Verbindung bestand. Du hast nicht –
So weit war sie gekommen, bevor sie den Zettel zerknüllt und weggeworfen hatte – ausgerechnet in ihrem gemeinsamen Badezimmer, wo er ganz oben im silbernen Abfallkorb lag. George bemerkte das Blatt, als er auf der Toilette saß. Offenbar hatte sie gewollt, dass er es sah, sonst hätte sie den Brief bereits im Hotelzimmer entsorgt oder zerrissen und die Toilette hinuntergespült oder zumindest unter ein paar gebrauchten Kleenextüchern im Abfall versteckt.
Ina leugnete nichts.
«Du hast diesen Liebesbrief ganz offen liegenlassen», entrüstete sich George. «Was hast du dir dabei gedacht? Stell dir vor, Jody hätte ihn gefunden! Ich weiß schon, was du dir dabei gedacht hast …» Sie waren in ihrem Schlafzimmer, und er sprach so leise, dass Jody und Stephanie es unten nicht hören konnten. «Du wolltest, dass ich das mit dir und Mark erfahre.»
«Warum sollte ich das wollen?», fragte sie kopfschüttelnd.
«Keine Ahnung. Das musst du doch wohl wissen, Ina!»
George fragte sich, ob sie noch weitere Hinweise auf ihre Untreue gestreut hatte. Auf dem Zettel stand, Mark sei gerade in der Dusche. Hatte sie sich eigentlich die Mühe gemacht, im Alexis zu baden, oder gewollt, dass ihr Trottel von Mann den Geruch eines anderen an ihr entdeckte?
«Ich verstehe nicht, wie das geschehen konnte», sagte er schließlich. «Du liebst ihn doch nicht. Hast du geglaubt, ich würde die Scheidung wollen, wenn ich herausfinde, dass du mit Mark herumgefickt hast? Willst du so unsere Ehe beenden? Du hast noch nicht einmal gesagt, dass es dir leidtut.»
Sie warf ihr langes, lockiges Haar zurück, drehte sich um und ging zur Tür. «Ich muss jetzt Essen machen», murmelte sie.
«Liebst du ihn?», fragte George unverblümt, und Ina blieb abrupt stehen. «Oder hast du ihn nur benutzt, um unsere Ehe zu zerstören? Um Himmels willen, Ina, er ist der Mann deiner Schwester. Sag mir die Wahrheit – liebst du ihn?»
Sie zuckte verlegen die Achseln, den Blick zur Tür gewandt. «Ich weiß es wirklich nicht», flüsterte sie. Dann weinte sie, noch immer stand sie mit dem Rücken zu ihm. «Es tut mir ja so leid, Liebling. Hörst du? Ich entschuldige mich. Ich habe alles vermasselt. Vielleicht wollte ich wirklich, dass du es erfährst. Mein Gott, ich schäme mich so. Du bist ein guter Mensch, George, und ein guter Ehemann. Das hast du nicht verdient …»
Er starrte auf ihren Rücken. «Ich will ehrlich zu dir sein. Im Augenblick bin ich so wütend auf dich und so verletzt, dass ich nicht weiß, ob ich dir das je verzeihen kann. Ich muss erst einmal wissen, ob es sich überhaupt lohnt, es zu versuchen. Willst du, dass wir diese Ehe fortführen?»
«Ich … ich bin mir nicht sicher», wisperte sie. «Im Augenblick bin ich mir über gar nichts mehr sicher.»
«He, Dad!», rief Jody von unten. «Dad?»
George hastete auf dem Weg zur Schlafzimmertür an ihr vorbei. «Da hast du uns ja was Schönes eingebrockt», knurrte er und ging zu seinem Sohn hinunter.
Ina war nicht als Einzige verunsichert. In den Wochen danach wusste auch George nicht mehr, ob er bei ihr bleiben wollte. Sie hatten schon seit mindestens zwei Jahren Probleme. Sie waren bei einer Eheberaterin gewesen – genauer gesagt bei sechs Eheberaterinnen, bis ihr eine gefiel: eine Gefühlsärztin (so jedenfalls stand es auf ihrem Schild) mit haufenweise Türkisen am Hals und grün gefärbter Brille. Gerahmte Hinweise auf einen akademischen Grad hatte George vergeblich gesucht, und doch hatte sie darauf bestanden, «Doktor» genannt zu werden. Sie hatte zwanzig Minuten lang eine räudige Katze auf ihrem Schoß gestreichelt, ausschließlich Ina angehört und dann eine Scheidung vorgeschlagen, woraufhin George empört hinausgestürmt war. Ina war dagegen weiterhin alle zwei Wochen allein zu ihr gegangen. Nur allzu oft hatte Ina ihre Beraterin zitiert: «Dr. Racine meint, ich müsste mich behaupten. Dr. Racine meint, ich müsste egoistischer werden. Dr. Racine meint, ich müsste mehr Zeit auf mich selbst verwenden.»
Er musste sich schwer zusammennehmen, wenn Ina mit solchen Sprüchen kam. Sie war schön, witzig und intelligent, aber ihre Schwester Jenna hatte nicht ohne Grund mehrfach gesagt: «Ina geht es nur gut, wenn sich alles um sie dreht.»
Das hatte George zwar bereits von Anfang an gewusst, aber er war eben verliebt gewesen und so unendlich glücklich. Schließlich hatte er als einfacher Hochschullehrer mit bescheidenem Einkommen diese Traumfrau ergattert. Außerdem waren sie und ihre Schwester auch noch reich, obwohl ihm das nie wirklich wichtig war. Aber Ina hätte sich leicht einen Polo spielenden und Porsche fahrenden Millionär angeln können. George hatte nicht einmal ein Auto, als sie sich kennenlernten, und war schon zufrieden damit, am Strand zu sitzen und eine neue Roosevelt-Biographie zu verschlingen. Und dennoch hatte sie ihn gewollt.
Irgendwo im Hinterkopf hatte er immer befürchtet, dass er sie eines Tages langweilen würde. Und nun, da es so weit war, brach es ihm das Herz.
Erst kürzlich hatte er begonnen, sich das Leben ohne sie vorzustellen und über eine Scheidung nachzudenken – nach vierzehn Jahren Ehe. Sie würde natürlich das Haus bekommen. Sie hatten es von ihrem Geld gekauft – ein zweistöckiges Haus mit fünf Zimmern in West Seattle. Sie hatte viel Mühe in die Einrichtung investiert. Er würde es nicht vermissen. Eine Wohnung in Uni-Nähe würde ihm genügen, aber sie müsste schon drei Zimmer haben, damit seine Kinder ihn besuchen konnten. Schon die bloße Vorstellung, Jody und Steffie nur noch zu solchen Gelegenheiten sehen zu können, machte ihn krank.
Er wollte die Ehe der Kinder wegen retten. Aber Ina war nicht gerade eine vorbildliche Mutter; zumindest kam ihm das in letzter Zeit so vor. Inas Schwächen waren ihm besonders ins Auge gesprungen, seit er von ihr und Mark wusste. Er beobachtete, wie sie Jody und Stephanie behandelte, und merkte, wenn sie die beiden ignorierte, anblaffte oder Sachen für sie erledigen ließ, weil sie zu faul war, selbst den Hintern zu heben. «Jody, Liebling, hol doch mal meine Handtasche …»
Andererseits war er Ina gegenüber vielleicht überkritisch, weil bei seinem Ringen mit seiner Gekränktheit, Verwirrung und Wut seine Liebe zu ihr auf der Strecke geblieben war.
Er musste fair bleiben. Sie war keine schlechte Mutter, und er hatte gerade jetzt kein Recht, ihre elterlichen Fähigkeiten zu kritisieren. Jedenfalls hatte sie beim Einkaufen noch kein Kind verloren.
Es war so schnell gegangen. George hatte eine Verkäuferin aufgetrieben und mit ihr die blöden Kerzen in «Feige» gefunden. Sie hatte gerade seinen Einkauf eingetippt, als Jody zur Kasse gekommen war und seinen Vater angeblinzelt hatte. «Wo ist Steffie?», hatte Jody gefragt und sich umgesehen. «Ist sie nicht zu dir zurückgekommen, Dad? Sie sagte, sie wollte …»
«Aber du solltest doch auf sie aufpassen», hatte George gemurmelt.
Sie war jetzt schon fast zwanzig Minuten verschwunden. In seiner Jackentasche fand George ihr Asthmaspray. Wenn sie jetzt einen Anfall hatte …
Er wurde das schreckliche Gefühl nicht los, seine Tochter nie wiederzusehen. Mein Gott, wenn ich Steffie finde, versöhne ich mich mit Ina. Ich tue, was sie will. Gehe mit ihr sogar zu dieser blöden Dr. Racine. Bring mir nur Steffie wieder.
Jody hatte in verschiedene Geschäfte auf der Hauptebene des Einkaufszentrums geschaut. Jetzt kam er zu George an den Informationsschalter zurück. Jody schüttelte verzweifelt den Kopf. «Tut mir leid, Dad», sagte er mit zitternder Unterlippe. «Das ist alles nur meine Schuld …»
George fuhr seinem Sohn durchs widerspenstige braune Haar. «Schon gut, Jody, wir finden sie schon wieder.»
Er bat die Frau an der Information, die Durchsage noch einmal zu wiederholen. Dann stellte er seine Einkaufstüten ab und wandte sich an Jody. «Du bleibst hier und hältst die Augen offen. Ich fange im obersten Stock an. Sag der Frau, sie soll mich ausrufen, wenn Steffie auftaucht, okay?»
Jody nickte. George küsste ihn auf die Stirn und hastete zur Rolltreppe. «Stephanie! Steffie?», rief er laut. Die Leute starrten ihn an, einige mit finsterem Blick, aber das war ihm egal. Er schob andere Kunden auf der Rolltreppe beiseite und sagte immer wieder «Entschuldigung». Er rief noch mehrere Male nach Stephanie und sah sich jedes Mal um, wenn er mit einer Rolltreppe ein Stockwerk erreichte und zur nächsten schritt.
Als George den obersten Stock mit den Restaurants und Kinosälen erreichte, vibrierte sein Handy. Er blieb stehen, holte das Handy aus der Jackentasche und nahm per Tastendruck den Anruf entgegen. «Ja, hallo?», fragte er besorgt.
«Onkel George?»
«Amelia?»
«Ja, ich bin’s. Eine Frage: Hat Tante Ina dich heute aus der Hütte angerufen?»
Verwirrt schüttelte er den Kopf. «Noch nicht. Sie wollte von dem Restaurant aus anrufen, wenn sie dort frühstücken. Tut mir leid, Amelia, aber ich –»
«Onkel George, es ist schon nach Mittag. Sie hätte längst anrufen müssen –»
«Amelia, tut mir leid, aber ich bin gerade sehr beschäftigt. Ich rufe dich zurück.»
«Nein! Nicht auflegen, bitte! Onkel George, im Haus am Lake Wenatchee ist etwas Schreckliches passiert.»
Er stand am Eingang eines Restaurants im Stil der Fünfziger mit dem Handy an einem Ohr und einem Finger im anderen, um den Lärm abzuhalten. «Was redest du da?», fragte er und versuchte, nicht zu ungeduldig zu klingen.
«Weißt du noch, wie ich vor allen anderen wusste, dass Collin gestorben ist? Die Vorahnung, die ich hatte? Jetzt ist es genauso. Ich fühle es. Ich weiß, dass etwas passiert ist. Du hältst mich wahrscheinlich für verrückt, aber ich habe eine Heidenangst, Onkel George. Mein Gefühl sagt mir, dass sie alle tot sind. Ich hoffe, ich irre mich –»
«Amelia, tut mir leid, aber ich kann jetzt nicht mit dir reden. Es ist ein Notfall. Ich rufe dich zurück –»
«Das hier ist auch ein Notfall, Onkel George! Ich meine es ernst –»
«Liebes, ich muss jetzt Schluss machen. Ich rufe dich so schnell wie möglich zurück, okay?» Schweren Herzens beendete George mit einem Tastendruck das Gespräch, aber er hatte im Augenblick einfach nicht den Nerv für Amelias Theatralik.
Er hatte das Handy kaum eingesteckt, als es erneut vibrierte. «Mein Gott, Amelia, lass mich jetzt bitte in Ruhe», murmelte er, nahm aber trotzdem den Anruf entgegen und meldete sich seufzend: «Ja, bitte?»
«Mr. McMillan, hier ist Jennifer von der Information. Ihrer Tochter geht es gut. Sie war gar nicht weit weg. Sie hat die letzte Durchsage gehört und ist gleich gekommen. Sie wartet jetzt hier auf Sie …»
«Gott sei Dank», flüsterte er. «Danke, Jennifer. Vielen Dank.»
Fünfzehn Minuten später ging er mit den Kindern zurück zum Parkplatz. George nahm Stephanies kleine Hand. Ihm war, als wäre er gerade um ein Haar einer Kugel ausgewichen. Er hatte sich bei Jennifer bedankt, der Verkäuferin bei Pottery Barn erklärt, dass alles in Ordnung sei, und Jody versichert, dass er nicht böse auf ihn war. Aber er hatte noch etwas anderes zu erledigen.
Er musste Amelia zurückrufen, auch wenn er keine Lust dazu hatte, wieder dieses Geschwätz über eine «Vorahnung» vom Tod ihrer Eltern und ihrer Tante Ina zu hören.
«So, Finger und Füße weg von der Tür», sagte er, als er Stephanie in den Kindersitz half. Dann schloss er die Wagentür und prüfte nach, ob sie abgesperrt war. Während Jody auf den Beifahrersitz kletterte, verstaute George die Einkaufstüten im Kofferraum, schlug die Klappe zu und schaute auf seine Armbanduhr: 12.35 Uhr.
Ina hätte wirklich längst anrufen müssen.
Er sah auf seinem Handy nach, ob er einen Anruf verpasst hatte. Keine Nachrichten. Der einzige Anruf war der von Amelia gewesen.
Die elfjährige Collie-Hündin zerrte an der Leine. Abby wusste genau, wo ihr Frauchen hin wollte. Sie hatte jenen sechsten Sinn, den manche Hunde besaßen. Als sie an eine Wegkreuzung kamen, schnupperte Abby am Boden und bog dann rasch auf den Pfad am Ufer ein, der zum Haus der Faradays führte.
«Braves Mädchen», lobte Helene Sumner, die Leine fest im Griff. Ein frischer Wind blies über den See, und sie schlug den Kragen ihrer Jacke hoch. Helene war siebenundsechzig, dünn und hatte kurzes graues Haar. Sie war Künstlerin und machte Siebdrucke. Sie hatte ein Studio in ihrem Haus, einen knappen Kilometer von dem der Faradays entfernt.
Helene hatte in der Nacht zuvor kaum Schlaf gefunden. Als gegen 2.30 Uhr diese Schüsse gefallen waren, hatte Abby zu bellen begonnen und war von ihrer kleinen Decke in der Ecke des Schlafzimmers auf Helenes Bett gesprungen. Das arme Ding zitterte, Helene ebenso. Sie war es nicht gewohnt, mitten in der Nacht so geweckt zu werden.
Die Jagd war hier verboten, und selbst wenn sie erlaubt gewesen wäre, hätte ja wohl niemand um diese Stunde gejagt, oder? Die hohen Bäume um den See beeinflussten die Akustik so, dass Geräusche über das Wasser getragen wurden. Helene hatte diese Schüsse so deutlich gehört, als wären sie in ihrem Hof gefallen. Aber sie wusste, woher sie gekommen waren.
Sie war gerade wieder dabei einzudösen, als sie gegen 5.00 Uhr einen weiteren lauten Knall gehört hatte. Helene war widerwillig aufgestanden und hatte ihre Windjacke angezogen. Dann hatte sie durch ihr Fernglas vom Seeufer aus zum Haus der Faradays hinübergeschaut. Keine Bewegung, kein Licht, nichts.
Sie war wieder ins Haus gegangen und hatte bis 10.30 Uhr geschlafen, was für sie sehr ungewöhnlich war.
Vor einer Stunde beim Frühstück – Kaffee mit den letzten ihrer selbstgebackenen Kekse – hatte Helene herausgefunden, wer und was ihre Nachtruhe gestört haben musste. Die drei lauten Schussgeräusche in den frühen Morgenstunden konnten nur von irgendwelchen Feuerwerkskörpern gekommen sein.
Als sie jetzt mit Abby den Pfad am See entlangging und zum Haus der Faradays hinüberschaute, musste Helene an deren Tochter Amelia denken. Sie war immer so höflich und rücksichtsvoll gewesen – und so hübsch. Aber sie hatte auch etwas Trauriges an sich. Und dann das tragische Ertrinken ihres Bruders. Etwa um diese Zeit, vielleicht sogar schon vorher, hatten Amelia und ihr proletenhafter Freund damit begonnen, ohne Eltern im Wochenendhaus aufzutauchen. Sie hatten sich widerlich benommen. Das Nacktbaden störte Helene nicht weiter, aber dieser Lärm! Die ganze Nacht über hörte sie ihre Schreie und ihr Gelächter, manchmal auch das Klirren zerschlagener Flaschen. Außerdem verschmutzten sie den See. Nach jedem ihrer heimlichen Besuche wurden Verpackungen, Kippen und Bierdosen am Ufer angeschwemmt. Diese Kids machten aus ihrem See eine Müllkippe.
Etwa vor einem Monat, als die Faradays für ein Wochenende gekommen waren, hatte Helene ihnen einen Gugelhupf gebracht und ihnen nachträglich ihr Beileid wegen Collin ausgesprochen. Dann hatte sie unter vier Augen mit Amelia über ihre heimlichen Feiern mit ihrem Freund gesprochen.
«Was du mit ihm treibst, geht mich nichts an», erklärte sie, als sie mit dem Mädchen auf dem Pfad entlang dem See spazierte. «Aber es wäre schön, wenn ihr etwas weniger Lärm machen könntet. Und wenn ich auch nur ein Stückchen Müll in diesem See finde, sage ich es deinen Eltern. Das ist auch mein See, und ich lasse nicht zu, dass ihr ihn verdreckt.»
Amelia blieb stehen und blickte sie mit ihren großen, schönen Augen an wie die Unschuld in Person. «Ich weiß gar nicht, wovon Sie sprechen, Miss Sumner», murmelte sie. «Ich war noch nie mit meinem Freund hier, ehrlich. Sie müssen sich irren.»
Helene schüttelte den Kopf. «Ich weiß, was ich gesehen habe, Amelia. Ich bin wirklich enttäuscht von dir …»
Nun, da sie sich der Veranda der Faradays näherte, nahm Helene an, dass sie von Amelia gleich dasselbe unschuldige Getue hören müsste wie beim letzten Mal. Sie würde das Mädchen und ihren Freund vermutlich wecken, da die beiden bis in den frühen Morgen Böller gezündet hatten.
Doch dann fiel Helene plötzlich etwas ein, das sie innehalten ließ. Warum hatte sie weder Gelächter noch Geschrei gehört? Die Leute lachten, schrien oder jubelten doch immer, wenn sie Feuerwerkskörper hochgehen ließen. Sie aber hatte keinen menschlichen Laut gehört – nur diese Schussgeräusche.
Abby schnupperte kurz an der Vordertür des alten Hauses und begann zu jaulen und zu bellen. Dann schlich sich die Hündin mit eingekniffenem Schwanz davon. Sie hatte den sechsten Sinn.
In diesem Haus stimmte etwas nicht.
Obwohl Abby versuchte, ihr Frauchen in die andere Richtung zu ziehen, ging Helene zur Tür und klopfte. Abby hörte nicht auf zu jaulen. «Sei still, Mädchen», zischte Helene und lauschte nach Anzeichen von Leben im Haus. Nichts. Helene klopfte wieder und wartete. Sie fragte sich, ob sie nicht besser auf Abby hören und verschwinden sollte. Stattdessen klopfte sie noch einmal und drückte dann die Klinke. Die Tür war nicht abgeschlossen.
Abby bellte ein weiteres Mal warnend auf, aber es war zu spät. Helene öffnete bereits die Tür. Von der Schwelle aus konnte sie die Treppe nach oben und einen Teil des Flurs im ersten Stock sehen, wo an der hellblauen Wand ein hässlicher rotbrauner Fleck zu erkennen war. Bestürzt ging Helene die Treppe hoch, wobei sie Abby an der Leine hinter sich herzerren musste. Nur wenige Stufen vor dem Treppenabsatz blieb sie wie erstarrt stehen, als ihr klar wurde, dass es sich bei dem großen Fleck an der Wand um Blut handelte. Unter ihm lag Jenna Faraday mit dem Gesicht zur Wand. Ihr übergroßes T-Shirt war durch und durch rot. Ihre Beine wirkten geschwollen und blass, fast grau.
Nach Luft ringend, ging Helene mit Abby die Treppe hinab. Ihr Blick fiel ins Wohnzimmer. Erneut blieb sie wie versteinert stehen. Einen Schritt vor der Tür zur Küche lag eine zweite Tote auf dem Boden. Sie hatte wunderschönes welliges, kastanienbraunes Haar, doch ihr Gesicht war zu einer Grimasse des Entsetzens erstarrt. Morgenmantel und Nachthemd, beide burgunderrot, hatten nahezu dieselbe Farbe wie die Blutlache, in der die Leiche lag. Der Schuss hatte die Vorderseite des Spitzennachthemds zerfetzt. Helene sah die tödliche, klaffende Wunde in der Brust.
Unweit der zweiten toten Frau saß Mark Faradays Leichnam aufrecht in einem Schaukelstuhl. Zumindest glaubte Helene, dass er es war. Sein Bademantel war blutgetränkt. Der Kolben des Jagdgewehrs war zwischen seinen leblosen Beinen eingeklemmt, und der lange Lauf zeigte schräg von seinem verstümmelten, geschwollenen Gesicht weg.
Eine Hand lag noch immer auf dem Gewehr, der Zeigefinger am Abzug.