Kapitel eins

Moses Lake, Washington 1992

 

Sie drehte den Zündschlüssel, doch außer einem hohlen «Klick, klick, klick» tat sich nichts.

«O Scheiße», murmelte Kristen. Sie verspürte ein flaues Gefühl im Magen.

Die Batterie war jedenfalls nicht hinüber, denn beim Einsteigen war die Innenbeleuchtung angegangen.

Kristen biss sich auf die Unterlippe und versuchte es noch einmal. «Klick, klick, klick.» Sonst nichts.

Es war 23.20 Uhr in einer frostigen Oktobernacht. Ihr Wagen war der einzige auf dem Parkplatz des Restaurants. Kristen hatte gerade ihre siebenstündige Schicht im Friendly Fajita hinter sich und das Lokal gemeinsam mit Rafael abgeschlossen, dem ständig geilen neunzehnjährigen Kellnerlehrling, der gerade mit seiner rostigen alten Harley abgedüst war. Kristen hörte noch immer seinen Motor röhren, aber sonst vernahm sie nichts.

Im Restaurant gab es natürlich ein Telefon, und sie hatte einen Schlüssel. Aber die Alarmanlage war bereits eingeschaltet und würde losgehen, wenn sie wieder hineinginge, und sie konnte sich nie an den Code erinnern – schon gar nicht, wenn das schrille Alarmsignal unablässig ertönte. Sie musste also anderswo nach einem Telefon suchen, um ein Abschleppunternehmen oder ein Taxi zu rufen. Ihr Freund Brian konnte ihr nicht helfen, denn er war gerade bei einem Golfturnier in San Diego.

«Bitte, bitte, bitte», flüsterte sie und drehte den Zündschlüssel noch einmal. Doch außer «Klick, klick, klick» gab der Wagen kein Geräusch von sich.

«Verdammte Scheiße», schimpfte sie. Dann schnappte sie sich ihr Täschchen und ihre Windjacke vom Beifahrersitz, stieg aus und schlug die Tür zu, ohne abzuschließen.

Sie blickte lange die Straße hinunter. Die meisten anderen Läden waren bereits geschlossen. Ein Stück weiter unten gab es noch ein paar Kneipen, aber Kristen war schon die bloße Vorstellung zuwider, mehrere Häuserblocks weit die Straße entlangtippeln zu müssen. Ihre Windjacke bedeckte ihre alberne Kellnerinnenuniform nur unvollständig. Der Besitzer des Friendly Fajita, Stan Munch – ungefähr genauso mexikanisch wie sie –, bestand auf dieser Señorita-Aufmachung mit weißer, schulterfreier Bauernbluse und knallbuntem Rock über einem Petticoat. Mit ihrem kurzen blonden Haar, ihren grünen Augen und ihrem blassen Teint sah sie darin wie eine Idiotin aus. Aber in solchen Klamotten würde wohl jede Frau lächerlich wirken, fast wie in einem Halloween-Kostüm.

Das Friendly Fajita war seit vier Monaten geöffnet, und die Geschäfte liefen mau. Moses Lake brauchte kein weiteres mexikanisches Restaurant, schon gar keines mit mittelmäßigem, überteuertem Essen. Zu allem Überfluss liefen als «authentische» Hintergrundmusik immer dieselben zwei CDs von Herb Alpert. Kristen konnte The Lonely Bull nicht mehr hören.

Vielleicht konnte sie ja ein Polizeifahrzeug anhalten oder einen guten Samariter. Kristen öffnete die Motorhaube und schaltete das Warnblinklicht ein, um zu signalisieren, dass sie Hilfe brauchte – wohl wissend, dass sie damit womöglich auch der falschen Person anzeigte, dass sie hier festsaß.

Plötzlich kam Kristen der Verdacht, jemand könnte ihr Auto manipuliert haben. Ein bisschen Zucker im Tank genügte. Sie hatte gelesen, dass der junge Ted Bundy, bevor er zum Serienkiller wurde, an den Autos von Frauen herumschraubte, um sie später beobachten zu können, wenn sie unterwegs mit dem Wagen liegenblieben und in ihrer Not so verletzlich wirkten.

Er sah ihnen einfach nur zu. Es törnte ihn an.

Kristen fragte sich, ob auch sie beobachtet wurde, hier neben ihrem defekten Fahrzeug vor einem geschlossenen Restaurant. Vielleicht stand er ja am Blumenladen gegenüber, versteckt hinter den Büschen dort, und glotzte durch ein Fernglas zu ihr herüber.

Oder er war sogar noch näher.

Sie schauderte und rieb sich die Arme. «Blödsinn», murmelte sie vor sich hin. «Dir kann gar nichts passieren. In Moses Lake gibt’s keine Serienmörder.»

Dennoch griff sie in ihre Handtasche und fummelte nach dem Pfefferspray. Ob es überhaupt noch funktionierte? Sie besaß die kleine Sprühdose schon seit ihrer Uni-Zeit in Cheney vor zwei Jahren, wo sie ihren Abschluss in Grafik-Design gemacht hatte. Danach hatte sie nach Seattle ziehen wollen, aber dann bekam Brian einen Job als Golflehrer auf einem der Plätze von Moses Lake, einem großen Ferienort. Kristen beschloss, Seattle aufzuschieben und ein Weilchen mit Brian zusammenzuleben. Allerdings hielt sich der Bedarf an Grafikerinnen in Moses Lake in Grenzen. Und so war es gekommen, dass sie nun, gekleidet wie ein mexikanisches Bauernmädchen, in einer kalten Mittwochnacht um 23.30 Uhr vor dem Friendly Fajita festsaß.

Kristen umklammerte krampfhaft das Pfefferspray.

Ein Fahrzeug fuhr vorüber, ohne auch nur abzubremsen. Sie wartete und winkte zaghaft einem nahenden Pick-up, doch auch der rauschte vorbei. Kristen schaute auf ihre Armbanduhr – nur zwei Autos in knapp fünf Minuten. Kein gutes Zeichen.

Dann sah sie in der Ferne Scheinwerfer. Kristen ging zum Parkplatzeingang und winkte erneut, diesmal entschlossener. Das Fahrzeug kam näher. Es erwies sich als alter, verbeulter Kombi, in dem nur eine einzige Person zu sitzen schien. Sah aus wie ein Mann. Ja, jetzt konnte sie ihn sehen: Er lächelte – fast so, als habe er erwartet, sie hier anzutreffen.

Ihr lief es eiskalt den Rücken hinunter. Kristen hörte auf zu winken und trat automatisch ein paar Schritte zurück.

Der Kombi bog auf den Parkplatz ein. Argwöhnisch beäugte Kristen den Fahrer. Er war Ende dreißig und hatte vielleicht einmal ganz gut ausgesehen, wirkte nun aber reichlich verlottert. Sein Gesicht war aufgedunsen, sein dünnes braunes Haar auf dem Rückzug. Seine Augen aber leuchteten, und vielleicht hätte sie sein Lächeln sogar sexy gefunden, wäre sie in diesem Augenblick nicht so verletzlich gewesen. Sie hatte keinen Bedarf an Typen, die ihr anzügliche Blicke zuwarfen.

Er kurbelte das Seitenfenster herunter. «Sieht aus, als könnten Sie Hilfe brauchen.» Es klang fast wie eine Anmache.

Kristen schüttelte den Kopf und entfernte sich rückwärts vom Kombi. «Äh … ich habe schon jemanden angerufen, der jeden Augenblick hier sein müsste. Aber trotzdem vielen Dank.»

«Sind Sie sicher?», fragte der Mann, nun nicht mehr grinsend.

«Klar, ich …» Kristen zögerte, als sie das hübsche kleine Mädchen auf dem Beifahrersitz sah. Das Kind hatte ein Buch und eine Puppe auf dem Schoß und lächelte sie an.

«Ich habe leider nicht viel Ahnung von Motoren», meinte der Mann. «Sonst würde ich mal nachsehen, aber das hätte wenig Sinn. Sollen wir vielleicht bei Ihnen bleiben, falls diese Person, die Sie angerufen haben, doch nicht auftaucht?» Er wandte sich an das Kind. «Macht dir doch nichts aus zu warten, Annie, oder?»

Die Kleine schüttelte den Kopf und blickte daumenlutschend auf ihr Bilderbuch.

Der Vater strich ihr zärtlich durchs Haar, und als er wieder zu Kristen aufblickte, sah das gar nicht mehr nach Anmache aus. «Möchten Sie, dass wir warten?»

Kristen kam sich reichlich dumm vor. Sie zuckte die Achseln. «Ist schon eine Weile her, dass ich diese Leute angerufen habe. Vielleicht sollte ich es nochmal versuchen.» Mit einer Kopfbewegung in Richtung Stadtzentrum fügte sie hinzu: «Ich glaube, in dieser Kneipe am Broadway gibt’s ein Telefon. Könnten Sie mich hinbringen?»

«Wenn Sie in der Gegend wohnen, bringen wir Sie auch nach Hause.» Er wandte sich wieder an seine Tochter. «Sollen wir die nette Lady hier zu ihrem Haus fahren, Liebes?»

Das Mädchen lächelte und nickte entschieden. «Ja!», rief es und hüpfte sogar ein wenig auf dem Sitz auf und ab.

Kristen entfuhr ein leises Lachen. «Ich möchte Ihnen aber keine Umstände machen.»

«Unsinn», erwiderte der Mann und stieg bei laufendem Motor aus. «Wir haben einstimmig entschieden, Sie nach Hause zu bringen.»

Auf dem Weg zur Beifahrertür streifte er Kristens Schulter. Er öffnete die Tür und half der Kleinen aus dem Vordersitz. «Das ist meine Tochter Annabelle», erklärte er, «und ihre Puppe Gertrude.»

«Das ist nicht Gertrude!», protestierte das Mädchen. «Das ist Daisy! Gertrude ist zu Hause bei –»

«Oh, Verzeihung», fiel der Vater dem Kind ins Wort und zwinkerte Kristen zu. «Ich habe unverzeihlicherweise die Namen ihrer Puppen verwechselt.» Er öffnete seiner Tochter die hintere Tür. «Komm rein, Schatz, schnall dich an und halt Daisy gut fest. Wir müssen uns jetzt beeilen; diese nette Lady ist müde und will nach Hause.»

Kristen eilte zurück zu ihrem Wagen, schaltete das Warnblinklicht aus, schloss die Türen ab und schlug die Motorhaube zu. «Ich wohne am West Peninsula Drive», sagte sie beim Einsteigen. Der Mann machte ihr die Tür zu.

Es war warm im Auto und roch ein wenig nach Pommes frites. Sie registrierte eine leere Coladose und eine zerknitterte Tüte von Arby’s Imbiss auf dem Boden zu ihren Füßen.

Der Mann ging vorne ums Auto, setzte sich ans Steuer und fuhr vom Parkplatz.

Kristen warf einen letzten Blick auf ihren Ford. Sie würde am nächsten Morgen den Abschleppwagen rufen. Im Augenblick wollte sie nur noch nach Hause und duschen. «Ich weiß das wirklich sehr zu schätzen», erklärte sie und lächelte den Mann an.

Er nickte nur, den Blick auf die Straße gerichtet. Offenbar konzentrierte er sich ganz auf das Fahren.

Kristen drehte sich zu dem Mädchen um. «Danke für deinen Platz, Annabelle.»

«Nichts zu danken», antwortete das Kind, die Nase im Buch.

«Wie alt bist du denn, Annabelle?»

Das Mädchen lächelte sie an. Annabelle war wirklich schön – ein kleines Mädchen mit einem erwachsenen Gesicht. Kristen hatte Kinderfotos von Jackie Kennedy und Liz Taylor gesehen, die auf diesen Bildern dieselbe reife Schönheit ausstrahlten.

«Ich bin vier», verkündete die Kleine stolz.

«Dann bist du ja fast schon eine junge Dame!» Kristen drehte sich wieder nach vorn um. «Sie ist toll», sagte sie zu dem Mann.

Er aber antwortete nicht. Die Scheinwerfer eines entgegenkommenden Fahrzeugs erhellten sein Gesicht. Darauf zeigte sich wieder jenes geheimnisvolle Lächeln, das Kristen gleich am Anfang aufgefallen war.

Moses Lake ist eine wahre Oase, dachte sie. Keine drei Fahrminuten vom hell erleuchteten Zentrum des Ferienorts entfernt stieß man nur noch auf ein paar vereinzelte Häuser in den dunklen Außenbezirken, wo auch Kristen und Brian lebten. «Äh, Sie müssten dort links abbiegen», sagte sie und deutete nach vorn, aber er bremste nicht ab. «Da geht’s, links», wiederholte sie.

Er fuhr an der Abzweigung vorbei. «O Mann, jetzt hab ich sie verpasst», stöhnte er und verlangsamte das Tempo auf etwa fünfundzwanzig Stundenkilometer. «Tut mir leid. Ich suche eine Stelle zum Wenden. Bin wohl doch müder, als ich dachte. Null Reaktion.»

Kristen biss sich auf die Lippe und fragte sich, warum er bei dem bisschen Verkehr nicht einfach umdrehte.

«Hier geht’s», verkündete er und bog in eine enge Sackgasse, wo sie im Schritttempo ein paar Häuser passierten. Kristen zählte sechs Einfahrten, in denen er hätte wenden können. Nach der letzten Straßenlaterne fuhren sie über Kies. Rechts sah Kristen ein im Bau befindliches Haus.

«Ich glaube, da müsste bald ein Wendeplatz kommen», meinte er und schaute blinzelnd nach vorn.

Kristen schluckte schwer, sagte aber nichts. Der Wagen stand schon fast, während die Scheinwerfer die unbekannte Dunkelheit vor ihnen durchdrangen. «Können wir nicht einfach zurückstoßen und wenden?», fragte sie.

«Allmählich glaube ich, Sie haben recht», meinte er. Dann warf er einen Blick in den Rückspiegel. «Wie geht’s dahinten, Liebes? Müde?»

«Ziemlich», antwortete das Kind ein wenig quengelig.

«Normalerweise ist sie um die Zeit längst im Bett», erklärte der Mann. «Aber heute brauchte ich Daddys kleine Helferin.»

Der Wagen kam zum Stehen. Die Scheinwerfer erhellten das Ende der Straße und eine lange Absperrung mit schwarzen und weißen Diagonalstreifen. Dahinter war alles stockfinster.

Kristen starrte den Mann verwirrt an. «Und warum haben Sie Ihre Tochter heute gebraucht?»

Er lächelte sie wieder mit diesem seltsamen Grinsen an. «Ohne sie wären Sie doch nie zu mir ins Auto gestiegen.»

Daddys kleine Helferin.

Mit einem Schlag wurde Kristen klar, was er da gesagt hatte. Sie griff schnell in die Handtasche nach dem Pfefferspray und sah nicht, wie seine Faust auf ihr Gesicht zukam. Sie hörte nur, wie das kleine Mädchen verblüfft «Oh!» sagte, bevor der Mann sie bewusstlos schlug.

«Hilfe

Eine Stunde war vergangen, und sie waren fünfundfünfzig Kilometer gefahren.

Das kleine Mädchen saß allein auf dem Beifahrersitz des alten Kombis. Mit einer winzigen Taschenlampe, auf der sich ein Bild von Barbie befand, betrachtete sie ihr Bilderbuch.

«Bitte, nein! Warten Sie … Warten Sie … Nein …»

Die Schreie der Frau schienen im Wald widerzuhallen, wo der Wagen auf einem holprigen Weg stand. Das Kind aber kümmerte sich kaum darum. Es blätterte sein Buch um und trommelte mit den Füßen gegen das Armaturenbrett. Der Kleinen war kalt, sie war müde, und sie wollte nach Hause. Sie fragte sich, wann ihr Vater wohl mit seiner Arbeit fertig wäre.

Wenn das Schreien aufhört, ist er meist so gut wie fertig. Sie sagte sich, dass es nicht mehr lange dauern würde.

 

 

Seattle, Washington – fünfzehn Jahre später

 

Jemand hatte eine CD von den Barenaked Ladies voll aufgedreht. Die Musik drang in den Garten, zusammen mit Gesprächsfetzen, Gelächter und Gegröle von der Party in dem einfachen, etwas heruntergekommenen Haus an der Straße, wo die Studentenverbindungen der University of Washington untergebracht waren. Amelia wusste nicht, wer die Party gab. Im Mietshaus wohnten ein paar Jungs, die wie sie selbst im zweiten Studienjahr waren. Einer von ihnen – sie hatte ihn noch nie gesehen – hatte sie am Morgen auf dem Weg zu ihrem Philosophiekurs angesprochen und zur Party eingeladen. Amelia passierte das ständig. Andauernd lud man sie zu Partys ein. Das hatte mit ihrem Aussehen zu tun.

Amelia Faraday war groß und gut gebaut und hatte ein hübsches Gesicht, schulterlanges, welliges schwarzes Haar und blaue Augen. Sie hatte auch ein Alkoholproblem, und das wusste sie. Nicht ohne Grund hatte sie schon viele Einladungen zu studentischen Saufgelagen ausgeschlagen. Ihrem Freund Shane gefiel es ohnehin nicht, wenn fremde Jungs Amelia zu Partys einluden. Ihre Freunde nannten die beiden schon die «Perrier-Zwillinge», weil sie immer nur Mineralwasser tranken.

Heute Nacht aber wollte Amelia ein Bier – besser gesagt, so viel von dem Gerstensaft, wie nötig war, um sich zu betrinken.

Ein paar Leute waren in den kleinen Garten gewankt, wo Amelia mit einem Bier in der einen Hand stand, während sie mit der anderen die Ränder ihrer dicken Strickjacke zusammenhielt. Sie betrachtete die Sterne. Es war eine schöne, frische Nacht an einem Freitag im Oktober.

Sie war erst beim zweiten Bier und schon leicht angesäuselt, weil sie seit sieben Wochen nichts mehr getrunken hatte.

Shane verstand nicht, warum sie an diesem Abend Alkohol brauchte. «Bevor du dieses Bier trinkst», hatte er ihr vor einigen Minuten in der Ecke des proppenvollen Wohnzimmers ins Ohr geflüstert, «solltest du vielleicht deine Therapeutin anrufen und ihr erklären, warum du es so dringend brauchst.»

Amelia aber hatte nur die Augen zusammengekniffen und dann den halbvollen Plastikbecher in einem Zug hinuntergekippt. Anschließend hatte sie den Becher aus dem Fass in der Küche nachgefüllt und war allein hinausgegangen.

Jetzt hasste sie sich selbst. Sie konnte von Glück reden, einen Freund wie Shane zu haben. Er sah gut aus mit seinem ständig zerzausten hellbraunen Haar, seinen blauen Augen und seinen gepflegten Bartstoppeln. Und er liebte sie wirklich. Zudem war sein Rat, so herablassend er auch schien, durchaus vernünftig. Sie hatte nachmittags versucht, ihre Therapeutin anzurufen, doch Karen hatte einen freien Tag.

So war Amelia mit diesen schrecklichen Gedanken allein, und deshalb musste sie sich jetzt betrinken.

Amelias Eltern und ihre Tante verbrachten das Wochenende in der Hütte der Familie am Lake Wenatchee mitten im Staat Washington. Seit diesem Nachmittag empfand sie eine plötzliche, unerklärliche Verachtung für sie. Sie stellte sich vor, wie sie zur Hütte fuhr und alle drei umbrachte. Sie legte sich sogar einen Plan zurecht, ohne ihn wirklich ausführen zu wollen. Ihre Eltern hatten erwähnt, dass auf ihrer normalen Strecke – Highway 2 – dieses Wochenende eine Baustelle sei. Von Seattle zur Hütte waren es drei Stunden Fahrt, wenn sie ohne Pause über die Interstate 90 und die Route 97 fuhr. Ihre Eltern und ihre Tante würden bei ihrer Ankunft schon schlafen. Und sie wusste, wie man unbemerkt in die Hütte kam. Sie stellte sich vor, wie sie die drei aus kürzester Entfernung abknallte. Sosehr die Vorstellung Amelia auch erschreckte – ihr Herz raste dabei voller Erregung.

Wenn Karen nur da gewesen wäre, hätte Amelia sie fragen können, was dieser grauenhafte Tagtraum bedeutete. Wie kam sie nur auf derart furchtbare Gedanken? Amelia liebte ihre Eltern, und Tante Ina war für sie wie eine ältere Schwester und praktisch ihre beste Freundin.

So blieb ihr nichts anderes übrig, als diese giftigen Gedanken mit einer anderen Art Gift hinunterzuspülen – mit einem weiteren Becher Bier aus dem Fass in der Küche.

Amelia war auf dem Weg nach drinnen, als eine junge, hübsche Frau asiatischer Herkunft mit einer roten Strähne im langen schwarzen Haar ihr den Weg durch die Tür versperrte. «Hast du mal ’ne Kippe? Menthol?», schrie sie, um den Lärm zu übertönen. «Bei dieser blöden Party gibt es keinen, der Menthol raucht.»

«Nein, aber sechs Blocks von hier gibt’s einen Laden.» Amelia musste dem Mädchen praktisch ins Ohr brüllen. «Wenn du willst, besorge ich dir welche. Ich kann den Wagen meines Freundes nehmen, und außerdem suche ich sowieso eine Ausrede, um hier eine Zeitlang zu verschwinden.» Sie leerte ihren Plastikbecher bis auf den letzten Tropfen. «Ich hole nur schnell die Autoschlüssel von meinem Freund, dann können wir gehen.»

Amelia zwängte sich zu Shane durch, der noch immer in der Ecke des Wohnzimmers stand. Offenbar fand er, er habe das gleiche Recht wie sie, rückfällig zu werden, denn er teilte sich gerade einen Joint mit einem Typen, den sie nicht kannte.

«Bist du schon betrunken?», fragte er und sah sie mit halbgeschlossenen Augen an.

«Nein», log sie. Um den Partylärm zu übertönen, sprach sie mit lauter Stimme. «Ich würde gern ein paar Minuten hier raus. Gibst du mir die Autoschlüssel?» Mit dem Daumen zeigte sie auf das andere Mädchen, das nun hinter ihr stand. «Ich fahre meine Freundin zum Laden, um Zigaretten zu kaufen. Wir sind gleich wieder da. Okay?»

Doch auch das war eine Lüge. Sie hatte nicht die Absicht, zu dem Laden zu fahren. Sie brauchte nur seinen Wagen.

Shane holte die Schlüssel aus seiner Jeanstasche und gab sie ihr. «Mach, was du willst», brummte er. «Ist mir doch egal.»

Amelia gab ihm einen schnellen Kuss. «Sei bitte nicht sauer auf mich», flüsterte sie.

Shane wollte sie in den Arm nehmen, doch sie riss sich los und flüchtete. Sie hörte, wie das Mädchen hinter ihr meinte, ihr Freund sei echt süß und erinnere sie an Justin Timberlake. Amelia achtete aber nicht wirklich auf die Worte und zwängte sich durch die Menge zurück in die Küche.

«He, warte!», rief das Mädchen. «Warte doch!» Amelia aber ließ sich nicht aufhalten. Zwischen leeren Flaschen und Bierdosen sah sie unter der Arbeitsplatte eine halbvolle Flasche Tequila, die sie unter ihre Strickjacke steckte. Sie verließ die Küche und fand einen Flur, der zur Haustür führte. Als sie auf Shanes verbeulten VW Golf zueilte, hörte sie noch, wie das Mädchen ihr aus dem Haus nachrief: «He, vergiss die Zigaretten nicht! Menthol! Hast du gehört?»

Amelia winkte, ohne zurückzublicken, und setzte sich in Shanes Wagen. Sie ließ den Motor an, verstaute die Tequilaflasche unter dem Sitz und parkte aus.

Vier Minuten später sah sie Martys MiniMart an der Ecke. Nur wenige Fahrzeuge standen vor dem schäbigen kleinen Laden; Parkplätze gab es genug.

Amelia aber fuhr weiter in Richtung Interstate. Ohne Zwischenstopps würde sie Lake Wenatchee gegen 2.00 Uhr erreichen. Der Tank war zu drei Vierteln voll.

Amelia drückte aufs Gaspedal und redete sich weiter ein, dass sie ihre Eltern und Tante Ina liebte. Sie würde ihnen nie etwas zuleide tun.

Niemals.