Kapitel dreizehn

Die anderen Autos auf der Newcastle-Coal Creek Road fuhren bereits mit Licht, und so schaltete auch Karen widerwillig die Scheinwerfer ein. Es war wie das Eingeständnis einer Niederlage. Sie hatte gehofft, den Wanderweg noch bei Helligkeit zu erreichen, doch der Verkehr auf der I-90 war so dicht gewesen, dass sie für die fünfzig Kilometer fast zwei Stunden gebraucht hatte.

Von Minute zu Minute wurde es dunkler. Auf der kurvenreichen Straße durch den Wald war sie bereits an drei kleinen Parkplätzen für Wanderer vorbeigekommen, auf denen nur noch wenige Fahrzeuge standen. Obwohl sie bei ihrem grausigen Ausflug keinen Wert auf Zuschauer legte, war ihr der Gedanke, in diesem Wald bald ganz allein zu sein, nicht geheuer. Es wäre nicht schlecht gewesen, wenigstens jemanden in Rufweite zu haben.

Karen ging vom Gas, als sie am vierten Parkplatz vorbeikam: nur ein Auto, kein Schild am Wanderweg. Amelia hatte gemeint, sie hätten am vierten oder fünften angehalten.

Karen biss sich auf die Lippe und hielt nach dem nächsten Parkplatz Ausschau. Fast hätte sie ihn übersehen, als sie ihn erreichte, denn er war klein und unbeleuchtet. Es gab nur sechs Stellplätze, allesamt leer, und in der Dunkelheit war nicht einmal der Anfang des Wanderwegs zu sehen.

Sie holte die Taschenlampe aus dem Handschuhfach und stieg aus. Bei einem Blick auf die Bäume und Büsche am Rand des Parkplatzes fiel ihr eine Lücke im Blattwerk auf. Dann sah sie ein Schild, das sie aus der Ferne nicht lesen konnte. Sie leuchtete es mit der Taschenlampe an: «Bitte hinterlassen Sie keine Abfälle.» Jemand hatte das Wort «keine» durchgestrichen. Genau so, wie Amelia gesagt hatte.

War womöglich auch alles andere so, wie Amelia es gesagt hatte?

Karen ließ die Taschenlampe an, atmete einmal tief durch und ging los. Sie hörte Stimmen in der Nähe und fühlte sich ein wenig sicherer, aber nur kurz. Bald kam ihr ein Paar mittleren Alters in Wanderkleidung entgegen. Die beiden schauten sie fragend an, und Karen wurde klar, welch ein merkwürdiges Bild sie auf einem Wanderweg abgeben musste – in ihrem schwarzen Blazer, der Damenhose und blauen Bluse.

«Sie gehen doch nicht etwa jetzt erst los?», fragte der Mann besorgt.

«Ich mache nur einen kurzen Spaziergang», erklärte Karen. «Es sind doch bestimmt noch andere Wanderer unterwegs, oder?»

«Wohl kaum», erwiderte der Mann. «Wir machen jedenfalls Schluss für heute.»

«Seien Sie vorsichtig», warnte die Frau. «Nachts sind hier Bären und Pumas unterwegs.»

«Danke», sagte Karen mit einem blassen Lächeln. «Gute Nacht.»

Sie gingen weiter, und Karen hörte die Frau noch leise sagen: «Dummes Ding … Um die Zeit … Warte nur, morgen steht dann in der Zeitung, dass sie vermisst wird oder tot ist.»

Karen ging weiter durch den dunklen Wald, die Taschenlampe immer auf den Weg vor ihr gerichtet. Sie würde wohl frühestens in fünf Minuten an die Stelle kommen, wo sie nach den von Amelia beschriebenen Wegmarkierungen suchen konnte.

Außer dem Rascheln von Blättern im Nachtwind hörte sie nichts mehr. Mit einem mulmigen Gefühl im Bauch versuchte Karen, sich für das zu wappnen, was womöglich auf sie zukam. Im Pflegeheim hatte sie in den letzten Monaten genügend Tote gesehen und mehrfach nach Unfällen Blut weggewischt. Sie redete sich ein, auch das hier durchzustehen. Sie musste nur innerlich auf Abstand bleiben. Und sollte sie wirklich Koehlers Leiche finden, würde sie zum Auto zurückkehren und George anrufen, um mit ihm ihr weiteres Vorgehen abzusprechen.

Sie leuchtete die Büsche und Bäume zu beiden Seiten des gewundenen Pfades an, sah aber keine Wegmarkierungen, sondern nur ein paar Eichhörnchen und Waschbären, deren Augen im Licht der Taschenlampe schillerten, bevor sie vor ihr flohen. Es war erst 18.20 Uhr, aber bereits stockfinster. Falls sie innerhalb der nächsten fünfzehn Minuten keine von Amelias Wegmarkierungen fand, würde sie umkehren.

Fast wäre sie über ein Gewirr von Baumwurzeln gestürzt, als ein Geräusch sie innehalten ließ. «Ist da jemand?», rief sie. Das Geräusch kam eindeutig von einem Lebewesen, das durchs Gebüsch schlich und weder stehen blieb noch eine Antwort gab. «Hallo?», rief Karen nervös.

Sie hielt die Taschenlampe in die Richtung, aus der das Geräusch kam, sah aber nichts. Das Geräusch wurde schwächer. Bäume und Sträucher schienen sich im Lichtstrahl zu bewegen. Dann sah Karen es, nur wenige Schritte entfernt: ein Stück weißen Stoff mit einem blauen Streifen am niedrig hängenden Ast eines Bäumchens. Sie schlug sich durchs Gebüsch, um es aus der Nähe zu betrachten. Sie kannte das Stoffmuster vom Vortag. Es war von Koehlers Hemd – seinem «Glückshemd», wie er gesagt hatte.

Sie stand still und lauschte. Was auch immer sie vorher gehört hatte – es war weg. Karen leuchtete auf der Suche nach einem zweiten Stofffetzen die Bäume ab. Sie fand ihn im dichten Unterholz rund fünfzehn Meter weiter. Sie schien auf der richtigen Spur zu sein, auch wenn es keinen wirklichen Weg gab und das Vorankommen ausgesprochen schwierig war. Einmal stieß sie gegen einen Ast und hätte sich um ein Haar am Auge verletzt. Sie berührte ihre Wange, betrachtete ihre Fingerspitze und sah Blut. Dann sprach sie sich Mut zu und ging weiter.

Ein Teil von ihr wollte umkehren. Amelia hatte bislang in allen Punkten recht gehabt. Karen wusste, dass sie kurz davor war, Koehlers Leichnam zu finden. Musste sie ihn wirklich sehen? Und falls sie ihn entdeckte, würde sie die Polizei rufen müssen. Und wie konnte sie Amelia dann noch helfen?

Dennoch ging sie weiter, von einer Markierung zur nächsten. Sie zählte siebzehn und schätzte, dass sie bereits rund vierhundert Meter vom Weg entfernt sein musste. Karen fand einen weiteren Trampelpfad und erreichte eine winzige Lichtung, wo sie die Zweige nach einer neuen Markierung absuchte, aber keine fand. Sie hatte keine Ahnung, wohin sie nun gehen sollte.

Vor ihr schoss etwas über den Boden. Karen erschrak und leuchtete nach dem Ding, doch das war so schnell weg, dass sie nur noch einen Schatten sah. «Ganz ruhig», redete sie sich zu. «War wohl nur ein Kaninchen.»

Sie hielt die Taschenlampe noch immer auf den Waldboden gerichtet, als ihr zwischen Blättern, Zweigen und Erde etwas auffiel. Ein Teil des Bodens war dunkler, wie von einem Fleck, die Blätter anders gefärbt. Als Karen näher trat, stieg ihr ein schrecklicher Geruch in die Nase – der faulige Geruch des Todes, den sie vom Pflegeheim her kannte und der nach dem Tod eines Patienten den ganzen Raum erfüllte.

Dann sah sie, dass einige der Blätter burgunderfarben waren – genau wie getrocknetes Blut. Ein Teil des Bodens war mit einer schleimigen Substanz bedeckt, die Käfer angelockt hatte. Hatte Amelia hier Koehlers Leiche zurückgelassen? Jedenfalls hatte hier eine Zeitlang ein Mensch oder ein Tier gelegen, bei dem die Verwesung bereits eingesetzt hatte, bevor er oder es weggeschleppt worden war – vielleicht von einem Bären oder einem Puma.

Der faulige Geruch schlug ihr auf den Magen, und sie trat zitternd ein paar Schritte zurück.

Karen atmete mehrmals tief durch und suchte dann den Waldboden nach einem Erdhügel ab, unter dem jemand begraben sein konnte, oder nach einem Stück Stoff, fand aber nichts.

Dennoch war ihr klar, dass Amelia an dieser Stelle Koehler getötet haben musste. Die «Glückshemd»-Markierungen endeten hier.

Erneut hörte sie ein Rascheln und brechende Zweige. Sie machte einen weiten Bogen um die schleimigen Stellen am Boden und leuchtete den Wald auf der anderen Seite der Lichtung ab, von wo das Geräusch zu kommen schien. Karen sah aber nur die angestrahlten Bäume und Sträucher; dahinter war es dunkel. Sie glaubte, eine Bewegung im Gebüsch zu sehen – oder spielten ihr nur die Schatten einen Streich? «Wer ist da?», rief sie.

Das Rascheln verstummte. Karen wurde schlagartig klar, dass kein Tier so plötzlich stehen bleiben würde. Das musste ein Mensch sein.

Sie wartete einen Moment wie gelähmt auf den nächsten Laut.

Plötzlich hörte sie ein schlurfendes Geräusch: Schritte.

Karen drehte sich um und wollte losrennen, doch auf einmal schien der Boden unter ihr wegzurutschen. Sie fiel rückwärts auf eine schmierige Stelle und stieß einen schrillen Schrei aus. Die Taschenlampe war ihr aus der Hand geglitten, und sie suchte verzweifelt den Boden nach ihr ab. Dann rappelte sie sich auf. An ihrer Kleidung klebten Blätter. Als sie sie verzweifelt abzustreifen versuchte, spürte sie die schleimige, gallertige Masse, die von Koehlers verwesendem Leichnam stammte.

Karen hörte die Schritte näher kommen und sah die letzte Markierung an einem Busch neben dem Trampelpfad. Sie rannte auf sie zu und suchte verzweifelt nach der nächsten. Dabei hörte sie hinter sich ständig das Rascheln, das sie zu verfolgen schien. Plötzlich war kein Trampelpfad mehr zu erkennen, keine Markierung mehr zu sehen. In ihrer Panik schwenkte Karen die Taschenlampe, um vielleicht doch noch ein Stück von Koehlers Hemd zu entdecken. Ohne die Stofffetzen sah sie keine Chance, zum Wanderweg zurückzufinden.

War sie in die falsche Richtung gelaufen? Sie sah einen kurzen Pfad zwischen dem Laub und hastete darauf zu, bis sie im Lichtschein etwas auf dem Boden liegen sah. Karen erstarrte.

Auf dem Pfad lag mindestens ein Dutzend Streifen von Koehlers Hemd.

Die ganze Zeit über war ihr jemand gefolgt und hatte Amelias Markierungen entfernt. Dieser Jemand wollte verhindern, dass sie den Weg zurück fand.

Wieder hörte sie die Schritte näher kommen. Wie von Sinnen rannte Karen im Zickzack zwischen Bäumen und Sträuchern und stolperte immer wieder über Steine und Wurzeln. Sie wusste nicht, in welche Richtung sie lief – womöglich immer tiefer in den Wald hinein. Zweige schlugen ihr gegen Gesicht, Arme und Beine. Jeden Augenblick erwartete sie, dass eine Hand sich nach ihr ausstreckte. Sie betete um irgendein Anzeichen dafür, dass sie sich dem Waldrand näherte. Sie wollte nicht in diesem Wald ihr Leben verlieren, wie es Koehler offenbar widerfahren war.

Die ganze Zeit über hörte sie die Schritte hinter sich und das Rascheln im Gebüsch.

Aber sie hörte auch etwas anderes. Es klang wie ein näher kommendes Auto. Dann sah sie in der Ferne das Licht von Autoscheinwerfern über Bäume und Sträucher streifen. Kurz danach rauschte ein weiteres Fahrzeug vorbei. Karen rannte auf die Straße – auf die Zivilisation – zu, auch wenn ihre Lungen schon brannten. Nun konnte sie bereits den Waldrand sehen und die vorbeifahrenden Autos. Als sie den Asphalt unter den Füßen spürte, war Karen fast wie im Delirium. Sie hatte keine Ahnung, ob sie auf die Newcastle-Coal Creek Road oder eine andere Straße gestoßen war und wie sie von dieser Stelle aus zu ihrem Wagen kommen sollte.

Sie versuchte, ein SUV anzuhalten, doch das fuhr hupend weiter. Karen wirbelte herum und leuchtete in den Wald hinein.

Sie sah ihn nur eine Sekunde lang – eine große Gestalt, die sich hinter einem Baum versteckte. Er hatte eine kleine Schaufel in der Hand und konnte nicht mehr als dreißig Meter entfernt sein.

Karen drehte sich wieder zur Straße um. «Hilfe! So helft mir doch!», schrie sie und winkte einem weiteren Auto zu, einem zerbeulten Taurus.

Der Wagen hielt an.

Karen holte tief Luft. «Gott sei Dank», flüsterte sie.

 

«Dieser Teenager im Taurus war echt lieb. Der arme Kerl – er musste erst in die eine Richtung fahren und dann in die andere, bevor wir endlich meinen Wagen fanden.»

Das Handy am Ohr, stand Karen vor der Filiale einer Pharma-Kette in einem Einkaufszentrum von Bellevue. Unter den Halogenstrahlern sah sie ihr Spiegelbild im Schaufenster. Mit ihrem wirren braunen Haar, ihrer verschmutzten Kleidung und den Kratzern im Gesicht sah sie aus, als hätte jemand sie zusammengeschlagen.

«Ist auch wirklich alles in Ordnung mit Ihnen?», fragte George zum zweiten Mal.

«Ja, abgesehen von meinem Trauma», erwiderte Karen mit einem zittrigen Lachen.

«Und Sie wollen nicht die Polizei rufen?»

«Bis jetzt haben wir keine Leiche», gab sie zu bedenken. «Außerdem werden garantiert alle Wegmarkierungen verschwunden sein, bis jemand in diesen Wald kommt, um nach ihr zu suchen. Im Augenblick wäre es sinnlos, die Polizei ins Spiel zu bringen. Außerdem möchte ich Amelia helfen, bevor Polizei und Presse über sie herfallen. Auch wenn Sie mich für verrückt halten – ein Teil von mir glaubt noch immer an ihre Unschuld.»

«Geht mir genauso, Karen», erklärte er. «Aber sie könnte trotzdem gefährlich sein, wie Sie selbst meinten. Alles deutet darauf hin, dass sie Koehler getötet hat.»

«Ich weiß», seufzte Karen. «Aber dieser Mann, der mich heute Nacht durch den Wald verfolgt hat – ich glaube, das ist derselbe, der gestern im Keller vom Pflegeheim meines Vaters war. Seinetwegen mache ich mir mehr Sorgen als um Amelia. Shane sah sie vor ein paar Monaten in einer sehr intimen Situation mit einem Fremden in einem Auto. Vielleicht ist das derselbe Typ, und er hat irgendwie Macht über Amelia, durch Hypnose oder sonst was – keine Ahnung.»

«Ich wollte eigentlich morgen nach Salem fahren. Es war geplant, dass Jessie sich um die Kinder kümmert. Es sollte nur eine Tagesreise sein, aber jetzt bleibe ich vielleicht doch besser hier. Ich kann Ihnen die Verantwortung für Amelia doch nicht allein überlassen …»

«Sie wollen nach Salem?»

«Ja, um herauszufinden, wer für Duane Lee Savitts Grab bezahlt hat. Am Telefon wollte man es mir nicht sagen, nur persönlich.»

«Fahren Sie ruhig», sagte Karen mit Nachdruck. «Wenn wir mehr über ihre frühe Kindheit erfahren, könnte das Amelia sehr helfen. Ich passe schon auf sie auf. Die Polizei sucht sie heute Nacht bestimmt nicht bei mir; die waren heute ja schon einmal da. Morgen früh bringe ich sie dann zu einem Spezialisten.»

«Ihr Glaube an Amelias Unschuld ist stärker als meiner», erklärte er. «Sie ist meine Nichte, und ich mag sie. Aber meine Kinder möchte ich jetzt nicht in ihrer Nähe haben, und ich wäre wohl auch nicht imstande, mit ihr unter einem Dach tief und ruhig zu schlafen.»

Karen linste durch das Fenster der Drogerie und sah einen Hinweis auf Schlafmittel. «Ich weiß, was Sie meinen, und ich werde wahrscheinlich auch nicht allzu gut schlafen. Aber ich sorge dafür, dass Amelia tief schläft. Rufen Sie mich von Salem an, wenn Sie etwas herausgefunden haben?»

«Natürlich, Karen», erwiderte er. «Und Sie rufen mich an, wenn heute Nacht etwas passiert. Auch wenn Sie einfach nur Angst haben und nicht schlafen können. Versprechen Sie mir das?»

Sie musste lächeln. «Okay, George. Danke.»

 

Karen rührte den Inhalt von vier Schlafmittelkapseln in die Schokoladensoße, die sie auf dem Herd erhitzte. Sie musste sicher sein, dass Amelia die Nacht durchschlief.

Rufus beobachtete vom Boden aus alle ihre Bewegungen. Das tat er immer beim Kochen für den Fall, dass sie versehentlich etwas Fressbares fallen ließ.

Amelia zog im Obergeschoss gerade ihren Schlafanzug an. Sie hatte mit Shane den Film gesehen und anschließend Pizza gegessen. Bevor sie die beiden anrief, hatte Karen eine Nachricht bei Dr. Danielle Richards hinterlassen, der qualifiziertesten Psychologin auf ihrer Liste. Dr. Richards hatte zurückgerufen und zugesagt, Amelia am nächsten Morgen zu empfangen.

Shane hatte Amelia um 21.20 Uhr abgeliefert. Karen hatte da bereits geduscht, das Bett im Gästezimmer neu überzogen und Rufus kurz ausgeführt. Nach den Ereignissen im Cougar Mountain Park hatte sie für den kurzen Spaziergang vorsichtshalber den Revolver ihres Vaters in die Manteltasche gesteckt. Sie wünschte, sie hätte die Waffe auch im Wald dabeigehabt.

Amelia erschrak, als sie die Kratzer in Karens Gesicht und auf ihren Händen sah. Karen versicherte ihr, dass es ihr gutging. Sie erzählte ihr, was im Wald geschehen war, und hob dabei hervor, dass sie keine Leiche gefunden hatte und es deshalb auch vorerst keinen Grund gab, zur Polizei zu gehen.

Zudem dachte sie laut über den Mann nach, der ihr durch den Wald gefolgt war. Kannte Amelia jemanden, der das getan haben könnte? Shane konnte es nicht gewesen sein. Hatte sie andere männliche Bekannte – vielleicht jemanden, von dem Shane nichts wusste?

Amelia fiel keiner ein, der in Frage gekommen wäre. Je mehr Karen auf dem Thema herumhackte, desto aufgeregter wurde Amelia. Karen gab es schließlich auf und schlug ihr vor, schon mal ihren Schlafanzug anzuziehen. Sie könnten dann ja noch einen Film im Fernsehen gucken.

Das war vor rund fünfzehn Minuten gewesen.

Jetzt hörte sie Amelia die Treppe herunterkommen. Die Kügelchen aus den Schlafmittelkapseln waren in der Schokoladensoße noch immer zu sehen. Karen drehte die Flamme höher und rührte schnell um, bevor sie das Eis aus dem Kühlschrank holte.

Amelia kam in die Küche und setzte sich an den Tisch. Sie hatte das Haar hochgesteckt und trug ein übergroßes pinkfarbenes T-Shirt, eine Flanell-Schlafanzughose und dicke graue Socken. Rufus trottete zu ihr hinüber und legte ihr den Kopf in den Schoß.

«Ich mache Eis mit Schokosoße», verkündete Karen.

Amelia kratzte Rufus hinter den Ohren und seufzte. «Da muss ich wohl passen. Mein Magen ist schon seit dem Nachmittag nicht ganz in Ordnung. Trotzdem danke.»

«Aber ich habe die Soße extra für dich gemacht», sagte Karen und probierte ein klein wenig mit dem Löffel. Sie schmeckte kein bisschen seltsam. «Hmm, ist echt gut. Und du magst doch Schokolade. Na komm, eine Portion bringt dich schon nicht um.» Sie bereitete Amelias Schüssel vor – dabei goss sie besonders viel Schokoladensoße über das Eis – und stellte sie vor der jungen Frau auf den Tisch.

Rufus stellte die Ohren hoch; er schien sich für die Nachspeise mehr zu interessieren als Amelia. Karen gab sich selbst eine Portion Eis auf, brachte ihre Schüssel zum Tisch und setzte sich. «Lass es dir schmecken», sagte sie.

Amelia blickte stirnrunzelnd auf Karens Schüssel. «Warum nimmst du dir keine Schokolade?»

«Weil ich davon dick werde. Schlimm genug, dass ich Eis esse. Na komm, soll ich etwa als Einzige zunehmen? Iss doch was!»

Amelia seufzte. «Tut mir leid, Karen, ich kann jetzt nicht.»

«Kann ich dir vielleicht was anderes machen?» Karen legte den Löffel hin. «Wie wär’s mit heißer Schokolade?»

«Nein danke.» Amelia starrte auf Rufus hinab und tätschelte ihn am Kopf. «Mein Gott, ich bin fix und fertig. Eine Zeitlang hattest du mich davon überzeugt, dass ich meine Eltern und Ina gar nicht getötet haben kann, und die letzten Monate dachte ich tatsächlich, ich hätte mit Collins Tod nichts zu tun. Aber diese Geschichte mit Koehler lässt alles wieder hochkommen. Und das Verrückteste ist, dass ich mich nicht wirklich an ihn erinnere. Es ist eher so, als hätte ich von ihm geträumt. Und ich habe immer noch das Gefühl, gestern in Port Angeles gewesen zu sein.»

«Erinnerst du dich an unsere erste Sitzung?», fragte Karen. «Du hast mir von deinen Blackouts erzählt und von dem einen Mal, als Shane dich mit einem anderen Mann in einem Auto gesehen hat. Shane konfrontierte dich damit – fast so wie ich dich mit Koehler. Ich beschrieb ihn, und dann hast du dich erinnert.»

Amelia nickte.

«Weißt du noch, mit wem Shane dich gesehen hat? Kannst du ihn mir jetzt beschreiben?»

Amelia schnitt eine Grimasse. «Gott, ich habe versucht, ihn zu vergessen. Ich denke nicht gern an die Zeit.»

«Bitte, es ist wichtig», bat Karen eindringlich.

«Sein Name ist Blade», murmelte Amelia mit abwesendem Blick auf die gläserne Tischplatte. «Zumindest nennt er sich so. Er ist fünfundzwanzig und hat kurzgeschnittenes, schwarz gefärbtes Haar. Er trägt oft eine Sonnenbrille, manchmal sogar nachts.»

«Dann bist du noch immer mit ihm gut bekannt?»

Amelia blickte zu ihr hoch. «Mit wem bin ich noch immer gut bekannt?»

«Blade.» Karen lachte verzweifelt auf. «Dem Mann, mit dem dich Shane in dem Auto gesehen hat. Du hast von ihm geredet, als hättest du immer noch Kontakt zu ihm.»

«Nein, ich –»

«Ist er der Freund eines Freundes oder einer Freundin?»

Amelia biss sich auf die Lippe und nickte. «Muss wohl so sein. Wahrscheinlich kenne ich ihn deshalb.»

Karen tätschelte sie am Arm. «Amelia, erinnerst du dich, durch ein graues Treppenhaus in einen Keller gerannt zu sein? Erst kürzlich. Da ist ein Heizkessel, der einen ziemlichen Lärm macht. Weiter hinten im Flur ist ein großer Lagerraum voll mit Schachteln und alten Krankenhausgeräten. Blade wartet dort auf dich. Die Lichter an der Decke sind kaputt, es ist dunkel. Du bist dort mit Blade …»

Amelia riss den Arm weg. «Karen, bitte …»

Erschrocken wich nicht nur Karen ein Stück zurück, sondern auch Rufus.

«Tut mir leid», murmelte Amelia. «Könntest du dich nicht einfach ein paar Minuten entspannen? Ich bin so fertig und so müde. Ich will jetzt wirklich nicht über das alles reden. Sei mir bitte nicht böse.»

«Geht schon in Ordnung», versuchte Karen sie zu beruhigen. Sie deutete mit dem Kopf auf die Schüssel vor Amelia, in der das Eis schon fast geschmolzen war. «Willst du wirklich nichts?»

Amelia schüttelte den Kopf.

Karen stand auf und brachte beide Schüsseln zur Spüle. Sie spülte sie aus und sah zu, wie die Schokosoße in den Abfluss rann.

«Ich möchte einfach nur schlafen und eine Weile an gar nichts denken», sagte Amelia. «Das ist eine dieser Nächte, in denen ich früher trank, bis ich einschlief, um mir über nichts mehr Sorgen machen zu müssen. Hast du vielleicht Schlaftabletten?»

Karen drehte das Wasser ab und schenkte Amelia ein geduldiges, verständnisvolles Lächeln. «Ich glaube schon.»

 

Ina McMillan stand auf dem Adressaufkleber der alten Ausgabe von Vanity Fair, die er aus der Recyclingtonne vor dem Haus gefischt hatte. Das war die Tante, der sie in die Brust geschossen hatte. Tante Ina.

Er war schon zweimal im Haus in Bellingham gewesen und mehrere Male im Wochenendhaus am Lake Wenatchee. In diesem Teil von West Seattle aber war Blade zum ersten Mal. Das Haus stand am Ende einer Sackgasse. Er hatte den Cadillac ein Stück abseits geparkt. Durch die offenen Vorhänge des Wohnzimmers konnte er bis zur Küche sehen. Nun, da er wusste, wessen Haus es war, konnte er dem großen Typen, den er in der Küche hatte ein und aus gehen sehen, einen Namen zuordnen. Das war Onkel George, und die beiden Bälger waren der Cousin und die Cousine.

Sie hatte ihm nicht gesagt, wessen Haus es war, sondern ihm nur die Adresse gegeben, damit er es sich ansah, weil er hier etwas für sie erledigen sollte. Blade nahm an, es sollte ein Raubüberfall werden, aber bei ihr konnte man nie wissen.

Sie hatte ihm noch nicht erklärt, um welche Art von Job es sich handelte. Sie wollte ihn um 23.00 Uhr auf seinem Handy anrufen und ihm dann Bescheid geben. In dieser Hinsicht war sie ziemlich nervig. Sie machte aus allem ein Spiel. Das gefiel ihm an ihr, aber manchmal trieb es ihn an den Rand des Wahnsinns. Sex mit ihr war immer ein Spiel, und es war phantastisch. Blade fand immer, je verrückter eine Frau war, desto besser der Sex. Und die hier war wirklich verrückt.

Er hatte sich die Fenster rund um das Haus der McMillans angesehen. Sie lagen etwa zwei Meter über dem Boden, aber mit Hilfe der Mülleimer würde er hochkommen und durch die Fenster eindringen können. Außer dem Hauseingang gab es noch eine andere Tür, die nach draußen führte, und zwar hinten von der Küche aus. In den Büschen neben der Veranda war, wie zu erwarten, ein Schild eines Sicherheitsdienstes angebracht, aber er wusste, wie man diese dämlichen Alarmanlagen ausschaltete.

Er schaute auf seine Armbanduhr: 22.50 Uhr. Obwohl die Sackgasse nicht sehr gut beleuchtet war, setzte er seine Sonnenbrille wieder auf. Sie meinte, er sehe cool aus damit. Sie mochte auch den glänzenden schwarzen Anzug, den er praktisch überall trug. Manchmal posierte er vor dem Spiegel mit Sonnenbrille und Anzug und zückte seine Waffen, und sie fotografierte ihn dabei.

Mit der Vanity Fair unter dem Arm schlenderte Blade zu seinem Wagen zurück und setzte sich hinein. Er konnte das Haus von hier aus immer noch sehen. Dann aber schloss er die Augen für eine kurze Zeit.

Verrückt, das mit der Leiche im Wald. Er hätte den Typen letzte Nacht vergraben sollen. Sie hatte sogar Wegmarkierungen für ihn hinterlassen, aber nach der Fahrt zum Park hatte er keinen Bock auf die ganze Arbeit gehabt. Außerdem war der Wald voller wilder Tiere.

Am Morgen war sie dann stinksauer auf ihn gewesen, und so war er nachmittags noch einmal zum Park gefahren, mit der kleinen Schaufel, die sie in einem Armeeladen besorgt hatte. Er hatte sich nicht gerade darauf gefreut, eine halbverweste Leiche zu verbuddeln, aber die Vorstellung, womöglich auf ein Tier zu treffen und es zu erschießen, faszinierte ihn.

Er sah aber keine Tiere, außer bei der Leiche. Krähen hockten auf dem, was von dem Kerl übrig war. Blade erbrach sich zweimal, als er den stinkenden, zerpickten Leichnam zu einem Graben abseits des markierten Weges zerrte. Er musste nicht lange buddeln, um das flache, längliche Loch auszuheben. Er bedeckte die Leiche schnell mit einer Schicht Erde und streute dann ein paar Blätter und Äste darauf.

Er war schon auf dem Rückweg zum Auto, als er Amelias Seelenklempnerin sah. Keine Frage – sie suchte nach dem Toten.

Es hatte Spaß gemacht, sie durch den Wald zu hetzen und ihr eine Heidenangst einzujagen. Sie zu töten hätte natürlich noch mehr Spaß gemacht und wäre so einfach gewesen. Er hatte große Lust, etwas in diesem Wald zu töten.

Aber er hatte die Anweisung, sie nicht anzurühren. Sie sollte nicht heute in diesem Wald sterben, sondern erst später.

Das Klingeln seines Handys ließ ihn hochschrecken. Blade griff in seine Anzugtasche, holte es heraus und nahm den Anruf entgegen. «Ja?»

«Ich bin’s», flüsterte sie. «Bist du bei der Adresse, die ich dir gegeben habe?»

«Ja, ich sitze im Wagen und kann das Haus sehen. Ich hab sogar rausgekriegt, wer da wohnt. Onkel George, stimmt’s?»

«Sehr gut, Baby.»

«Was soll ich morgen hier machen? Kannst du mir nicht wenigstens einen Hinweis geben?»

«Nicht am Telefon. Aber ich habe es irgendwo für dich aufgeschrieben.»

«Du und deine verdammten Spielchen.»

«Du magst das doch», flüsterte sie. «Ich bin in Karens Haus. Warum kommst du nicht rüber?»

«Jetzt?»

«Klar. Ich halte nach dir Ausschau. Du bist im Wagen, sagst du?»

«Ja. Bin gleich bei dir», antwortete er und steckte den Schlüssel ins Zündschloss.

«Greif erst unter den Fahrersitz.»

Blade beugte sich hinab und tastete, bis seine Finger an etwas stießen.

«Ich habe eine Nachricht für dich hinterlassen», erklärte sie. «Schau dir das Haus noch einmal genau an, und dann lies, okay? Bis gleich.»

Sie unterbrach die Verbindung.

Blade grinste und holte einen Umschlag unter dem Sitz hervor. Er nahm die Sonnenbrille ab und schaute ein paar Sekunden zum Haus der McMillans hinüber. Dann riss er den Umschlag auf und las ihre Notiz:

Töte morgen nach 16.00 Uhr alle im Haus und nimm Dir, was immer Du willst.