Kapitel zwanzig

Die Ranch der Schlessingers, Juli 2004

 

Sie saß auf dem Bett und lackierte sich die Zehennägel. Neely, ihre getigerte Katze, lag zusammengerollt neben ihr. Es war noch immer ziemlich heiß, und so hatte sie den Ventilator ins Fenster gestellt. Auf ihrem Gettoblaster lief leise ein Song von U2. Ihr schwarzes Haar hatte sie zu einem Pferdeschwanz gebunden.

Heute Nacht war eine Schulfreundin bei ihr zu Gast.

Annabelle hoffte, sich ein wenig mit Sandra unterhalten zu können, musste aber warten, bis ihr Vater im Keller mit ihr fertig war. Er war jetzt schon eine halbe Stunde mit ihr beschäftigt.

Endlich hörte Annabelle, wie er sich den Schleim aus der Kehle hustete und die Treppe zum Obergeschoss hochkam. Er ging an ihrer Zimmertür vorbei, ohne hineinzuschauen, und weiter zu seinem Schlafzimmer.

Annabelle schubste Neely von ihrem Bett und stand auf. Dann spähte sie von ihrem Zimmer aus in das elterliche Schlafzimmer. Ihr Vater konnte sie nicht sehen, aber sie sah sein Spiegelbild in einem verdunkelten Fenster. Er ließ sich in T-Shirt und Arbeitshose aufs Bett fallen und zündete sich eine Zigarette an. In ein paar Minuten würde er duschen und Sandra von sich abwaschen.

Sie schlüpfte in Flip-Flops und schlich die Treppe hinab. Auf dem Weg durch die Küche schlug ihr noch immer der Körpergeruch ihres Vaters entgegen. Er musste sich wirklich angestrengt haben da drunten im Keller. Annabelle hielt einen Augenblick lang inne, als sie das Wasser durch die Rohre strömen hörte. Er hatte mit dem Duschen begonnen.

Auch auf der Kellertreppe roch sie diesen moschusartigen Gestank, aber hier war es zumindest kühler. In der Waschküche nahm sie sich ein Badetuch vom Stapel auf dem Trockner, trug es in den Heizungsraum und zog die Schnur der Deckenlampe.

Annabelle hörte, wenn auch nur sehr gedämpft, Sandra im Luftschutzraum weinen. Sie legte das Badetuch vor die große, schwere Tür und setzte sich darauf. «Sandra? Hörst du mich?»

«Wer ist da? Ist da jemand?», schrie Sandra.

«Ich bin’s, Annabelle. Hör mal, ich kann nicht lange sprechen –»

«Hol mich hier raus! Bitte, bitte, du musst mir helfen …»

Warum sagen sie eigentlich immer dasselbe?, fragte sie sich, während sie auf ihre Zehen pustete, damit der Nagellack schneller trocknete. Genau wie Gina und all die anderen. Sie ließ Sandra noch eine Minute schreien und betteln, bevor sie sie unterbrach. «Hör mal, ich kann dich jetzt nicht da rauslassen. Zu gefährlich. Aber ich helfe dir. Ich verspreche dir, du musst nicht mehr lange da drin bleiben –»

«Nein! Du lässt mich sofort hier raus! Bitte, Annabelle, ich will nach Hause, bitte!»

Es war nett, wie Sandra sie beim Namen rief. Annabelle lehnte sich an die Tür. «He, Sandra? Sei mir wegen dieser Sache bitte nicht böse, ja? Er hat mich dazu gezwungen. Aber ich mache es wieder gut, das schwöre ich dir.»

«Ich bin dir nicht böse», entgegnete Sandra, noch immer mit angsterfüllter Stimme. «Meine Eltern geben dir ganz bestimmt Geld, wenn du mir hilfst. Sie sind reich, weißt du …»

Annabelle runzelte die Stirn. Geld anzubieten war nett, aber ihr Freundschaft anzubieten wäre besser gewesen. Sie überlegte sich, ob sie ihren Vater töten und Sandra zur Flucht verhelfen sollte. Aber dann würde sie natürlich selbst auf der Flucht sein. Doch dafür hatte sie schon Vorsorge getroffen. Bereits seit Monaten zweigte sie mit gefälschten Schecks und gelegentlichen Fahrten zum Geldautomaten mit einer seiner Kreditkarten Geld von seinem Konto ab, über dreitausend Dollar bisher. Dann waren da noch der Schmuck ihrer Mutter und ein silbernes Tafelservice von ihren Großeltern. Annabelle hatte ausgerechnet, dass sie Wertsachen in Höhe von sechs- oder siebentausend Dollar mitnehmen und verpfänden konnte.

Sie stellte sich vor, dass Sandra sich nach mehrtägiger Gefangenschaft mit ihr zusammentun würde. Wenn sie dann Sandra zur Freiheit verhalf, wäre die ihr ewig dankbar. Wie im Film Thelma und Louise würde das Leben auf der Flucht mit ihrer neuen besten Freundin ein einziges Abenteuer sein. Sie und Sandra ähnelten einander. Die Menschen würden sie für Geschwister oder gar Zwillinge halten. Das würde bestimmt schön werden.

«Sandra, ich habe dir da was hingelegt», erklärte sie. «Er hat dich mit Chloroform betäubt, das brennt manchmal im Gesicht. Unter dem alten Teppich in der Ecke findest du ein Mittel gegen die Hautreizungen und auch etwas Kaugummi.»

Er ließ sie in den ersten vierundzwanzig Stunden immer hungern, um sie durch das Versprechen von Essen und Wasser gefügiger zu machen. Einige freuten sich dann vermutlich sogar über das Katzenfutter.

«Annabelle, ich will nach Hause. Er hat mir wehgetan. Ich habe Schmerzen …» Sie begann wieder zu weinen. «Ich vermisse meine Eltern. Bitte, bitte, hilf mir …»

Annabelle ließ sie ein paar Sekunden weinen. «Ich verhelfe dir zur Flucht, Sandra», versprach sie schließlich. «Aber heute Nacht geht es nicht. Halt durch, ja? Aber wenn ich dich da raushole, kann ich unmöglich hierbleiben. Du musst mir dann helfen, von hier wegzukommen. Versprichst du, mir dabei zu helfen, irgendwo anders einen Neuanfang zu machen?»

«Ja, natürlich», antwortete Sandra fast zu schnell. «Ich mache alles, was du willst, wenn du mich nur hier herausholst. Bitte …»

«Sandra?», sagte Annabelle, das Gesicht an den Spalt in der großen Tür gepresst.

«Ja?»

«Du hast mich heute Abend gefragt, ob ich mit dir ins Kino möchte. Hast du mich nur aus Höflichkeit eingeladen, weil ich dich mitgenommen habe? Ich bin mir nämlich nicht sicher, ob ich zu deinen Freundinnen passe …»

«O nein, ich … ich wollte wirklich, dass du mitkommst. Das war nicht nur Höflichkeit. Ich mag dich, Annabelle. Du machst einen sehr netten Eindruck.» Ihr Ton aber klang so verzweifelt, als hinge ihr Leben von der richtigen Antwort ab.

Und dem war natürlich auch so.

Annabelle stand seufzend auf und nahm das Badetuch. «Ich muss jetzt gehen. Er darf nicht wissen, dass wir unter einer Decke stecken –»

«Nein, geh bitte nicht. Annabelle, lass mich hier nicht allein … bitte …», flehte Sandra und trommelte gegen die Tür.

Annabelle wandte sich ab und schaltete das Deckenlicht aus.

Dann hörte sie in der Dunkelheit zu, wie Sandra Hartman sie inständig bat, noch ein wenig mit ihr zu reden.

Es war ein angenehmes Gefühl.

 

 

Wenatchee, Washington, drei Jahre später

 

«SUCHE NACH VERMISSTER FRAU IN MOSES LAKE GEHT WEITER» – so lautete die Überschrift unten auf Seite drei des Columbia Basin Herald vom 21. Oktober 1992.

Karen war fast zufällig darauf gestoßen. Sie war jetzt eine Dreiviertelstunde in der Stadtbibliothek von Wenatchee, wo sie das Zeitungsarchiv vom Februar 1993 an rückwärts durchforstete. Sie suchte nach einem Artikel, dessen Überschrift vielleicht «Kindesentführer erschossen» oder «Mord an Kellnerin nach dramatischer Rettungsaktion aufgeklärt» lauten konnte.

Bisher hatte sie sich dabei nur eine leichte Verspannung im Nacken eingehandelt. Sie versuchte, nicht zu schnell vorzugehen. Aber nachdem sie sich die Ausgaben von zwei Monaten angeschaut und bei jeder die Überschriften der ersten fünf Seiten gelesen hatte, begann sie, ganze Tage auszulassen. Karen ermahnte sich selbst, dass sie sich nicht beeilen musste, denn Amelia würde frühestens in einer Stunde hier sein.

Sie hatte noch nicht wieder von Jessie gehört, und auch von George gab es nichts Neues. Am meisten aber überraschte sie, dass die Polizei nicht zurückgerufen hatte. Und bis zu diesem Augenblick hatte sie im Zeitungsarchiv nichts Brauchbares gefunden.

Nun aber sah sie ein Foto der Vermissten: eine schlanke, blass wirkende Blondine mit großen Augen und kurzem, lockigem Haar. Karen las die Bildunterschrift: «Kristen Marquart, 22, wurde zuletzt gesehen, als sie am Mittwochabend vergangener Woche ihren Arbeitsplatz im Restaurant Friendly Fajita am Broadway in Moses Lake verließ.»

Dem Artikel zufolge stand Kristens Auto am folgenden Tag noch immer auf dem Parkplatz des Restaurants. Die Ermittlungen ergaben, dass das Fahrzeug manipuliert worden war. Kristen, die an der Eastern Washington University ihren Abschluss gemacht hatte, war bei Erscheinen des Artikels schon eine Woche vermisst gewesen.

Als Karen den vorletzten Absatz sah, verzog sie das Gesicht. «Das ist es», murmelte sie vor sich hin.

Kristen Marquarts Verschwinden ist der jüngste Fall in einer ganzen Serie vermisster junger Frauen in der Region. Im August verschwand Juliet Iverson, 20, bei einem Picknick mit Freunden am Soap Lake. Im März wurde Lizbeth Strouss, 24, aus Othello nach ihrer Nachtschicht in einem Mini-Markt nicht mehr gesehen, und noch vor ihr, ebenfalls im März, verschwand Eileen Sessions, 27, aus Moses Lake spurlos, nachdem sie ihre beiden Kinder in eine Tagesstätte gebracht hatte. Siebzehn Tage später fand man ihre sterblichen Überreste in der Nähe eines Wanderwegs im Potholes State Park unweit des Potholes-Reservats.

Innerhalb von acht Monaten waren vier Frauen verschwunden, und der Polizei fehlte jede Spur. Karen hatte gehofft, auf eine derartige Geschichte zu stoßen, aber nun, da sie sie gefunden hatte, empfand sie keinen Triumph, sondern pures Entsetzen. Diese Frauen waren nicht nur Teil eines Puzzles, sondern real. Zudem wurde es immer wahrscheinlicher, dass Amelias leiblicher Vater ein Ungeheuer war.

Hatte er vor seinem Umzug nach Salem weitere Morde begangen, oder war Kristen Marquart die letzte gewesen?

Während Karen auf den Bildschirm starrte, wurde ihr klar, dass sie den Artikel über den Nachbarn, der angeblich Amelia belästigt hatte und daraufhin von Lon Schlessinger erschossen worden war, übersehen haben musste. Diesem Nachbarn hatte man auch den Mord an einer Kellnerin angelastet. War das Kristen gewesen?

Mit einem tiefen Seufzer ging Karen die fraglichen Ausgaben noch einmal durch, aber diesmal ohne ganze Tage zu überspringen. Ihre Augen wurden müde, weil sie zu viel gelesen, zu viel Auto gefahren und zu wenig geschlafen hatte, aber sie suchte weiter.

Vor dem warmen, summenden Mikrofiche-Lesegerät las sie sämtliche Überschriften auf den ersten Seiten jeder Ausgabe des Columbia Basin Herald, bis sie auf der Titelseite vom 16. November auf folgenden Artikel stieß:

 

 

KINDESENTFÜHRER ERSCHOSSEN

Toter mit Verschwinden von Frau aus Moses Lake und möglicherweise mit weiteren Vermissten in Verbindung gebracht

MOSES LAKE: Die offensichtliche Entführung einer Vierjährigen am Sonntag führte zu einem massiven Polizeieinsatz und der Erschießung eines Mannes, der nun auch mit dem Verschwinden einer Frau aus Moses Lake im Oktober in Verbindung gebracht wird.

Sechs Stunden nachdem Lon Schlessinger, 34, seine kleine Tochter als vermisst gemeldet hatte, führte er die Polizei zum Haus von Clay Spalding, 26, einem Nachbarn am Gardenia Drive. Als die Polizei um 17.45 Uhr eintraf, sah sie, wie das nur mit Unterwäsche bekleidete Kind sich gerade aus dem Schlafzimmerfenster von Spaldings Haus rettete. Als Spalding dem verängstigten Kind nachrannte, erschoss Schlessinger ihn mit seinem Winchester-Jagdgewehr. Spalding, ein arbeitsloser Künstler, wurde bei seiner Einlieferung ins Samaritan Hospital um 18.20 Uhr für tot erklärt.

Die Polizei fand die Kleidung des Kindes in Spaldings Haus. Darüber hinaus entdeckte sie in dem verwahrlosten Anwesen eine Geldbörse mit Ausweispapieren und ein Medaillon, die beide Kristen Marquart, 22, gehörten, einer seit dem 14. Oktober vermissten Kellnerin aus Moses Lake.

Marquart war zum letzten Mal beim Verlassen ihrer Arbeitsstätte im Friendly Fajita am Broadway in Moses Lake gesehen worden. Die Behörden überprüfen nun auch das Verschwinden dreier anderer junger Frauen aus dem Columbia Basin auf eine mögliche Verbindung zu Spalding hin. Nach Aussage von Miriam Getz, 70, die zwei Jahre lang im Haus neben dem von Spalding lebte, war ihr Nachbar «ruhig und freundlich, aber ausgesprochen seltsam und anscheinend ein ziemlicher Einzelgänger». Und sie betonte: «Man fühlte sich in seiner Gegenwart irgendwie unwohl, und ich hatte den Eindruck, dass ihm das gefiel.»

Getz berichtete, die Schlessingers hätten sie am Sonntag gegen 11.00 Uhr gefragt, ob sie ihre vermisste Tochter gesehen habe. Später habe sie dann das Kind hinter Spaldings Haus gesehen und sofort bei den Schlessingers angerufen. Daraufhin telefonierte Lon Schlessinger mit der Polizei und erklärte dabei, er wolle seinen Nachbarn zur Rede stellen.

Lon Schlessinger erschoss Clay Spalding vor den Augen von vier Polizisten, und unmittelbar danach hatte sich das völlig verstörte kleine Mädchen offenbar ihrem Vater in die Arme geworfen. Ob Lon irgendwelche juristischen Probleme bekam, weil er das Gesetz selbst in die Hand genommen hatte, ging aus dem Artikel nicht hervor. Taktvollerweise vermied man, Amelia beim Namen zu nennen, berichtete aber: «Lon Schlessinger ist landwirtschaftlicher Vorarbeiter bei G. L. Durlock, Inc. in Grant Country. Die Schlessingers wohnen seit fünf Jahren in Moses Lake und haben zwei Kinder.»

Auf Seite zwei war ein Foto von Clay Spalding. Karen erinnerte sich an Amelias Beschreibung ihres Nachbarn, des netten Indianers mit dem schönen, langen schwarzen Haar, der einen Werkzeugschuppen in seinem Garten in ein Spielhaus für sie umgewandelt hatte. Sie hatte dort an einem kleinen roten Plastiktisch Kekse gegessen.

Das Führerscheinfoto von Clay Spalding zeigte einen attraktiven Mann indianischer Abstammung mit glattem, fast schulterlangem Haar, dunklen Augen und trotzig-herausforderndem Blick. Dem Artikel zufolge hatte Spalding das Haus am Gardenia Drive zusammen mit einer größeren Geldsumme von der Vorbesitzerin geerbt. Bevor er Nachbar der Schlessingers wurde, hatte er im Potholes-Reservat gelebt.

Zwei Absätze weiter hieß es in dem Artikel, dass von den vier kürzlich als vermisst gemeldeten Frauen aus der Umgebung lediglich eine tot aufgefunden worden sei, nämlich Eileen Sessions, und zwar im Potholes State Park unweit des Reservats.

In dem Artikel wurde allerdings auch Naomi Rankin zitiert, die schon lange in Moses Lake ansässig und mit Clay Spalding befreundet gewesen war: «Ich kannte Clay seit mehreren Jahren sehr gut. Er war ein ausgezeichneter Künstler und ein liebenswerter Mensch. Ich kann mir einfach nicht vorstellen, dass er fähig gewesen wäre, einem anderen Menschen etwas zuleide zu tun, schon gar nicht einem Kind.»

Karen fragte sich, wie es möglich war, dass Amelia nur verschwommene, aber angenehme Erinnerungen an diesen Nachbarn hatte, sich aber nicht mehr an die albtraumhaften Ereignisse jenes Oktobernachmittags erinnern konnte. «Ich mochte ihn», hatte Amelia gesagt, «hätte mich aber wahrscheinlich nicht bei ihm rumtreiben sollen.»

 

«Ich verstehe nicht, warum wir in einem Hotel übernachten sollen», meckerte Jody.

Er saß auf dem Beifahrersitz, mit einem Fuß auf dem Armaturenbrett. Stephanie wühlte gerade auf dem Rücksitz in einer mit Kinderbüchern, Puzzles und Spielzeugen gefüllten Tüte, die auf der Tischtennisplatte in Karens Keller gelegen hatte. Der ganze Krempel stammte noch aus Karens Kindheit. Jessie holte ihn immer dann hervor, wenn Frank junior oder Sheila mit ihrem Nachwuchs den alten Frank besuchen kamen und die Kinder eine Weile beschäftigt werden mussten. Und jetzt hatte sie gedacht, Stephanie würde etwas brauchen, um sich im Hotel nicht zu langweilen.

Da zurzeit in der Stadt ein Science-Fiction-Kongress und eine Tagung von Endodontologen stattfanden, waren alle Gästehäuser ausgebucht. Der Portier vom Edgewater Hotel hatte jedoch Mitleid mit Jessie und fand für sie noch ein Zimmer im Doubletree an der Southcenter Mall. Zu allem Überfluss geriet Jessie anschließend in einen Stau, denn sie war nun zur Hauptverkehrszeit unterwegs.

«Lieber mit gebrochenem Rückgrat in der Hölle», murmelte Jessie und schaute erneut in den Rückspiegel: keine Spur von Karens Jetta oder einem schwarzen Cadillac. Wenigstens ein Trost, zumal den Kindern in diesem Verkehrschaos ohnehin nichts passieren konnte.

«Jessie, warum müssen wir in ein Hotel?», fragte Jody wieder.

«Äh, na ja, euer Vater hielt das für eine gute Idee», log sie. «In eurem Häuserblock wird heute an den elektrischen Leitungen gearbeitet, und da muss ein paar Stunden lang der Strom abgeschaltet werden. Deshalb machen wir es uns besser in einem Hotel bequem.»

«Die warten, bis es Nacht wird, um den Strom abzuschalten?», wunderte sich Jody. «Das ist aber doof. Man sollte doch meinen, sie würden es tagsüber tun, wenn wir den Strom nicht so dringend brauchen.»

«Beschwer dich bei deinem Stadtrat. Im Hotel gibt es Briefpapier und außerdem noch Pay-per-View-Fernsehen mit neuen Filmen und Zimmerservice. Das wird dir bestimmt gefallen, Jody, zumal der Zimmerservice zum Abendessen diese kleinen Flaschen Ketchup und Senf bringt. Und das Beste ist, dass ihr dort keine Hausaufgaben machen müsst.» Jessie nahm an, dass er dagegen nichts einzuwenden haben würde.

«Ich hasse Senf!», quengelte Stephanie vom Rücksitz.

«Dann kannst du das Fläschchen ja als Souvenir aufheben», meinte Jessie. «Sie haben da auch kleine Seifenstücke und Shampoofläschchen – und hoffentlich eine Minibar für die gute alte Jessie.»

Wenn sie mit den Kindern fertig war, wollte sie sich ein Gläschen Wein gönnen. Dieser seltsame Vorfall mit Amelia hatte sie schwer erschüttert. Sie hatte Amelia noch nie so gesehen, so unheimlich und überheblich – wie ein ganz anderer Mensch. Und zu hören, dass sie nach einem schwarzen Cadillac hätte Ausschau halten sollen, war auch nicht gerade beruhigend gewesen. Diese große, verbeulte Kiste hatte schon unweit von Georges Haus gestanden, bevor Jody von der Schule nach Hause gekommen war. Sie fragte sich, ob jemand darin gesessen hatte und ob sie womöglich noch immer da waren und auf ihre Rückkehr mit den Kindern warteten.

«Sind wir bald im Hotel?», fragte Stephanie.

«Solange ich mit dem Wagen nicht fliegen kann, kommen wir nirgendwohin», murmelte Jessie. Vor ihr ging gar nichts mehr. «Aber halt durch, Steffie; ich denke, in einer halben Stunde müssten wir es geschafft haben.»

«Wir sollten aber erst zu Hause vorbeifahren», meinte Jody ruhig. «Steffie braucht doch ihr Asthmaspray.»

«O Sch … Kennst du vielleicht den Namen? Dann könnten wir in einer Apotheke ein neues besorgen.»

«Geht nicht», sagte Jody. «Gibt’s nur auf Rezept.»

«O Gott …», seufzte sie.

«Sie braucht es unbedingt», erklärte Jody. «Mom hat immer gesagt, wenn Steffie ohne ihr Spray irgendwohin geht, ist Ärger vorprogrammiert.»

Jessie sah das Hinweisschild zur West Seattle Bridge, wo sie zu Georges Haus abbiegen konnte. Sie biss sich auf die Lippe, setzte den Blinker und wechselte die Spur.

 

In ihrem beengten Dienstzimmer saß Frau Sheriff hinter einem großen Metallschreibtisch, auf dem ein Stapel von Papieren und ein Computer standen, und starrte George ungläubig an. Sie war Mitte vierzig, hatte kurzgeschnittenes blondes Haar und ein langes, schmales, pferdeartiges Gesicht. «Habe ich Sie richtig verstanden?», fragte sie nach. «Sie möchten, dass wir zur alten Schlessinger-Ranch fahren und den Hinterhof umgraben? Und das alles nur, weil Sie in ihrem Keller rumgewühlt und dabei ein Namensschild mit dem Aufdruck ‹Nancy Rae› gefunden haben?»

«Genau», bestätigte George und zeigte ihr erneut den Anstecker. «Nancy Rae Keller; sie hat in einem Restaurant in Corvallis gearbeitet.»

Die Wunde an seinem Bein war nicht allzu tief, brannte aber wie Höllenfeuer. Er hatte sie kurz zuvor in der Toilette der Polizeiwache versorgt.

George saß auf einem Metallstuhl mit einer grünen kunstlederüberzogenen Sitzfläche und massiven Armlehnen, die, wie er vermutete, dafür ausgelegt waren, einen Verbrecher mit Handschellen an den Stuhl zu fesseln – auch wenn er nicht das Gefühl hatte, dass das hier allzu oft vorkam. Die Dienststelle wirkte, als sei hier nicht viel los. An der schmutzig weißen Wand hingen eine Karte von Marion County sowie Dutzende polizeilicher Bekanntmachungen, von denen viele ausgeblichen, staubig oder an den Ecken eingerollt waren.

Doch Frau Sheriff tat, als würde sie mitten in wichtigen Ermittlungen stecken und er nur ihre Zeit stehlen.

«Nancy Rae wird seit fünf Jahren vermisst», erklärte George. «Und sie ist nur eine von mehreren vermissten Personen in der Gegend, alles junge Frauen.»

«Ich kenne diese alten Vermisstenfälle», bestätigte Frau Sheriff und deutete auf die vier hässlichen Metall-Aktenschränke hinter ihr. «Ich habe da sämtliche Akten … irgendwo. Und dann habe ich noch das hier.» Sie schlug mit der flachen Hand auf den Stapel Papiere auf ihrem Schreibtisch. «Das muss alles durchgearbeitet und abgeheftet werden. Ich kann nicht einfach alles liegen- und stehenlassen, um im Hinterhof der Schlessingers irgendwelche archäologischen Ausgrabungen zu machen. Sie können von Glück reden, dass ich Sie nicht wegen unbefugten Betretens belange, Mr. McMillan. Die Ranch ist Privateigentum.»

«Dann bin ich nicht der Erste, der sie unbefugt betreten hat», entgegnete George, auch wenn er so Gefahr lief, es mit ihr zu verscherzen. «Da liegen jede Menge leere Bierdosen herum.»

«Ja, eine Zeitlang hingen da ein paar kranke Jugendliche herum, um sich zu betrinken, aber das haben wir abgestellt. Dieses Kellnerinnen-Schildchen gehörte wahrscheinlich einem dieser Mädchen.»

«Das bezweifle ich. Wenn Sie wüssten, wo ich es gefunden habe –»

«Okay, wir sollen also sofort da graben», schnitt sie ihm das Wort ab. «Und auf welcher Grundlage? Wegen einer bloßen Vermutung? Und weil Sie in irgendeinem Buch über erstaunliche Phänomene gelesen haben, dass Wildblumen auf Gräber hindeuten? Das können wir nicht machen, Mr. McMillan. Erstens bräuchten wir einen richterlichen Durchsuchungsbeschluss, den wir frühestens morgen Mittag bekämen, und dann müssten wir den gegenwärtigen Eigentümer benachrichtigen. Die Ranch wurde vor anderthalb Jahren von einer Chemiefirma gekauft. Letztes Jahr sollte das Grundstück eingezäunt werden, aber dazu kam es bis heute nicht …»

Sie warf einen Blick auf ihren Hilfssheriff, der gerade zur Tür hereinkam. Der hagere, dunkelhaarige junge Mann trug wie sie eine braune Uniform und hatte einen reichlich albern aussehenden Haarschnitt. Er stellte eine kleine Tüte und eine Dose Diät-Cola auf den Schreibtisch.

«Zwanzig Minuten für ein Roastbeef-Sandwich?», fragte seine Chefin. «Musste Sherry erst die Kuh schlachten?»

«Kartoffelsalat war aus, also habe ich Pommes mitgebracht», murmelte der Mann.

«Besten Dank, Tyler», grummelte sie und klopfte auf einen Stapel Aktenmappen auf der Ecke ihres Schreibtischs. «Ordnen Sie die ein, und dann gehen Sie nach Hause. Ich will nicht, dass der Landkreis Ihnen auch noch Überstunden bezahlen muss, zumal das für mich noch mehr Papierkram bedeuten würde. Ohne Sie schaffe ich sowieso mehr.»

Seufzend trug er die Akten zu den Schränken hinter ihr.

Frau Sheriff öffnete die Dose. «Wenn Sie das allen Ernstes durchziehen möchten, Mr. McMillan, dann können wir nicht einfach drauflosbuddeln. Wir müssen uns an die Vorschriften halten, und das braucht seine Zeit, auch wenn Sie noch so ungeduldig sind.»

George war frustriert. Er hatte eigentlich am Abend wieder bei seinen Kindern sein wollen. Aber wenn die Polizei tatsächlich seinen Hinweisen nachging und auf der Ranch der Schlessingers Leichen fand, würde sie wollen, dass er dabei war. Zudem konnte es Tage dauern, bis sie etwas fanden.

«Wissen Sie was?», sagte Frau Sheriff und griff nach ihrem Sandwich. «Sie lassen mir Nancy Raes Namensschild da und eine Rufnummer, unter der ich Sie erreichen kann. Ich bezichtige Sie nicht des unbefugten Betretens und leite Ihren Hinweis morgen früh an die Staatspolizei weiter.»

George seufzte. Zumindest konnte er so nach Hause, aber auf die Bestätigung dafür, dass Lon Schlessinger für das Verschwinden all dieser Frauen verantwortlich war, würde er warten müssen. Und nahm Frau Sheriff ihn überhaupt ernst genug, um tatsächlich die Polizei ihres Bundesstaats einzuschalten?

«Hören Sie», begann sie erneut, als sie merkte, dass seine Begeisterung sich in Grenzen hielt. «Der letzte dieser Vermisstenfälle ist schon über drei Jahre alt …»

Hinter ihr unterbrach der Hilfssheriff seine Arbeit und warf einen Blick über die Schulter. «Ich bin mit Sandra Hartman zur Schule gegangen», erklärte er. «Sie war die Letzte –»

«Ja, Tyler, ich weiß», wehrte Frau Sheriff ab. «Das haben Sie mir alles schon erzählt, aber ich spreche gerade nicht mit Ihnen.»

Der Hilfssheriff verzog das Gesicht zu einem resignierten Grinsen, schüttelte den Kopf und arbeitete weiter.

Frau Sheriff verdrehte die Augen und wandte sich wieder George zu. «Ich will damit nur sagen: Der Fall ist uralt. Wenn Lon Schlessinger tatsächlich was damit zu tun hatte und wirklich Leichen auf seinem Grundstück verbuddelt sind, kommt es nicht auf die Minute an, weil Lon tot ist und auch die Leichen uns ganz bestimmt nicht davonlaufen.» Stirnrunzelnd inspizierte sie ihr Sandwich. «Deshalb hat das Zeit bis morgen. Hören Sie also auf, ständig mit den Füßen zu scharren. Lassen Sie das Schildchen und Ihre Telefonnummer da und mich in Ruhe essen.»

 

Zehn Minuten später hatte George seinen Leihwagen gegenüber von Sherry’s Corner Food & Deli abgestellt, und zwar hinter einem Wohnmobil, damit er von der Polizeiwache aus nicht zu sehen war. Zu seiner Überraschung gab es in dem Laden auch Schaufeln; aber angesichts des ländlichen Umfelds war das eigentlich doch nicht so ungewöhnlich. George kaufte ein Desinfektionsmittel für sein Bein, eine Schaufel und einen Pickel. Er kam sich wie ein Schmuggler vor, als er das Werkzeug in Sichtweite der Dienststelle des Sheriffs hinaustrug und rasch im Kofferraum verstaute.

Er schlug den Kofferraumdeckel zu und linste um das Heck des Wohnmobils. Der Hilfssheriff kam gerade aus der Wache und überquerte die Straße in Richtung Sherry’s Corner.

«Tyler?», rief George und ging ebenfalls auf den Eingang des Ladens zu. «Hilfssheriff?»

Der junge Mann starrte ihn an. «Sie sind ja immer noch da», stellte er beinahe lächelnd fest. «Hat das Biest Sie also nicht verscheuchen können?»

«Hat sie nicht. Hören Sie, Hilfssheriff, wie würde es Ihnen gefallen, zur Aufklärung des Vermisstenfalls Sandra Hartman beizutragen und Ihre Chefin dabei ganz nebenbei ziemlich alt aussehen zu lassen?»

 

«Also das Letzte, was ich gehört habe, war, dass sie Amelia zu Joys Verwandten irgendwo in Kanada gegeben haben», erklärte die alte Frau.

Miriam Getz war klein, trug eine Brille mit dicken Gläsern und hatte kurzes, lockiges hellbraunes Haar, in das – offenbar durch einen unfachmännischen Färbeversuch – ein leichter Pinkton geraten war. Zu ihrem lavendelblauen Trainingsanzug trug sie eine Perlenkette sowie -ohrringe.

Nach mehreren Telefongesprächen hatte Karen herausgefunden, dass Clay Spaldings frühere Nachbarin noch lebte, auch wenn die Fünfundachtzigjährige nicht mehr in Moses Lake wohnte, sondern in einem Altenheim in East Wenatchee, nur fünfzehn Fahrminuten von der Bibliothek entfernt.

Das Heim war zwar nicht mit dem ihres Vaters zu vergleichen, aber durchaus angenehm und sauber. Karen hatte Miriam in der Ecke des Fernsehraums beim Lösen eines Kreuzworträtsels angetroffen. Ein rundes Dutzend anderer Heimbewohner schaute bei etwas zu hoher Lautstärke den Film Die Russen kommen! Die Russen kommen!. Wo Miriam saß, war es etwas leiser, aber ihre Mitbewohner brachen alle paar Sekunden in Gelächter aus.

Karen hatte ihr erklärt, dass sie Amelia Schlessingers Therapeutin sei und mehr über deren Kindheit herausfinden müsse. Miriam hatte von Joy Schlessingers Selbstmord kurz nach ihrem Umzug nach Salem gehört, aber nicht gewusst, dass auch Lon tot war.

«Und wie geht’s Annabelle?», fragte Miriam und legte ihr Kreuzworträtsel beiseite.

«Sie lebt wahrscheinlich noch», erklärte Karen, «aber ich kenne sie nicht so gut wie Amelia. Ich versuche, Amelia zu helfen, sich an bestimmte Dinge aus ihrer Kindheit zu erinnern, vor allem an den Vorfall mit Clay Spalding vor fünfzehn Jahren.»

Miriam schüttelte den Kopf. «Vielleicht wäre es besser, wenn sie sich nicht daran erinnert.»

Karen blickte sie traurig an. «Das tut sie auch nicht, Mrs. Getz. Aber ich denke trotzdem, sie sollte es wissen. Ich habe ein paar Zeitungsberichte darüber gelesen, und da klang es, als wüssten Sie vielleicht mehr als alle anderen.»

Die Alte nickte. «Das nehme ich wohl an.»

«Das hatte ich gehofft. Dann können Sie mir sicher etwas über Clay erzählen?»

Sie runzelte ein wenig die Stirn und zuckte dann mit den Schultern. «Nun, er war dieser Indianer, der für meine Nachbarin, Isadora Ferris, arbeitete. Sie war eine alte Frau …» Miriam lachte traurig. «Ich bin wahrscheinlich jetzt schon älter, als sie damals war. Aber sie hatte Parkinson und war sehr gebrechlich. Jedenfalls vermachte sie Clay ihr Haus und einige tausend Dollar, und das gefiel den Nachbarn gar nicht. Dass Clay das Haus verwahrlosen ließ, machte ihn natürlich auch nicht beliebter, zumal er es vorher für Izzy so schön in Ordnung gehalten hatte. Ich habe nie verstanden, warum er sich nicht besser darum gekümmert hat. Hin und wieder stellte er auf dem Rasen vor dem Haus sogar seine Kunstwerke aus, meistens irgendwelche komischen Dinger aus Blechdosen und Drahtkleiderbügeln und weiß der Himmel was. Das hat manchmal ziemlich vermüllt ausgesehen da draußen.» Sie seufzte. «Aber sonst war er ein netter, ruhiger Nachbar. Er hat mir sogar im Winter den Weg frei geschaufelt und war auch sehr lieb zu den beiden Zwillingen, besonders zu Amelia. Mit Lon und Joy kam er nicht so gut aus, aber das kleine Mädchen mochte ihn irgendwie.»

Karen nickte. «Den Eindruck hatte ich auch. Amelia erzählte mir von dem kleinen Spielhaus in seinem Garten – eine der wenigen Erinnerungen, die sie an ihn hat.»

Miriam seufzte und fummelte an ihrer Perlenkette herum. «Ja, er kam mir immer völlig harmlos vor, bis zu jenem Tag.»

«Erinnern Sie sich an das, was damals geschah?»

«So, als wäre es gestern passiert. Gegen elf an jenem Sonntagmorgen rief Joy an und fragte, ob ich Amelia gesehen hätte. Amelia oder Annabelle – ich konnte sie nie auseinanderhalten, aber ich hatte keine von beiden gesehen. Lon hatte sie schon bei Clay gesucht, und Clay hatte ihm sogar erlaubt, überall nachzusehen. Anscheinend war Amelia nicht da. Aber dann, gegen fünf, schaute ich aus dem Küchenfenster und sah das kleine Mädchen in Clays Garten. Sie war ganz allein und hatte eine Jacke an. Sie kam aus diesem Spielhaus und ging durch die Hintertür in Clays Küche. Da habe ich sofort Joy angerufen. Dann ging Lon ans Telefon und bat mich, rüberzukommen und genau zu erzählen, was ich gesehen hatte. Danach wollte er zur Polizei fahren und einen bewaffneten Polizisten mitbringen. Er fuhr weg und nahm Annabelle mit.» Miriam nahm die Brille ab und rieb sich den Nasenrücken. «Aber etwa zwanzig Minuten später war Lon wieder da, mit Annabelle. Die Kleine war total hysterisch und schrie wie verrückt. Lon hielt ihr die meiste Zeit mit der Hand den Mund zu. Er sagte, er habe es nicht bis zur Polizeiwache geschafft, weil Annabelle schon vorher vollkommen ausgerastet sei. Keiner wusste, was mit ihr los war.» Miriam setzte ihre Brille wieder auf. «Aber wissen Sie, was ich vermute?»

Karen schüttelte den Kopf.

«Damals kam mir der Gedanke noch nicht, aber jetzt glaube ich, dass Annabelle irgendwie gewusst haben muss, dass ihre Schwester in Gefahr war. Sie wissen doch, dass es zwischen Zwillingen manchmal so etwas gibt?»

«Zwillingstelepathie», bestätigte Karen.

Miriam nickte und tätschelte Karens Knie. «Genau das vermute ich. Jedenfalls tobte die arme Annabelle so entsetzlich herum, dass sie sie in ihr Zimmer sperren mussten.»

Karen blinzelte sie an. «Das Kind war erregt, und ihre Art, damit umzugehen, war, sie in ihrem Zimmer einzuschließen?»

«Ich fand das auch ganz schrecklich», flüsterte Miriam. «Aber Lon war der Herr im Haus, und er hat Annabelle im Zimmer der Zwillinge eingesperrt. Dann holte er sein Jagdgewehr und rief die Polizei. Er sagte ihnen, er wolle zu Clays Haus, um ihn zur Rede zu stellen und seine Tochter zurückzuholen. Und die ganze Zeit über schrie und weinte Annabelle hinter der verschlossenen Tür. Es brach mir fast das Herz …»

Miriam schüttelte den Kopf. «Ich sagte Lon noch, er bräuchte kein Gewehr und solle das der Polizei überlassen. Ich hatte solche Angst, dass Amelia etwas zustoßen könnte, aber Lon war nicht aufzuhalten und rannte hinaus. Ich folgte ihm, Joy blieb zurück. Lon war fast schon bei Clays Haus, als ich die Polizeisirenen hörte. Und dann hörte ich Schreie. Ich drehte mich zu Clays Haus um und sah, wie das arme kleine Mädchen aus einem Fenster stieg und um Hilfe rief.»

Miriam schloss die Augen und hielt sich die mit Leberflecken übersäte Hand vor den Mund. «Sie hatte nur noch ihre Unterwäsche an. Mir wird ganz schlecht, wenn ich daran denke. Dann ging alles so schnell: die Sirenen, quietschende Reifen, das Geschrei der Polizisten, und dann läuft das arme, liebe Kind halb nackt durch den Garten. Im November! Clay kam aus der Haustür und rannte Amelia nach. Da hat Lon ihn erschossen. Clay wurde plötzlich nach hinten gerissen und fiel zu Boden.» Miriam stieß einen langen Seufzer aus. «Dann warf Lon das Gewehr hin, und Amelia rannte in seine Arme. Sie war völlig hysterisch und weinte, aber Lon hielt sie und sagte immer wieder: ‹Jetzt ist ja alles gut, mein Schatz.›»

«Und Clay Spalding war tot», murmelte Karen.

Miriam nickte. «Ich glaube, er starb noch im Krankenwagen auf dem Weg in die Klinik.»

«Und was war mit Amelia? Es heißt, sie sei danach völlig verändert gewesen. Ihre Eltern sollen es sehr schwer gehabt haben mit ihr.»

«Vielleicht kam das gar nicht so plötzlich. Sie machte schon vor jenem Sonntag Probleme; wer weiß, wie lange Clay das arme Mädchen schon … begrapscht hatte. Später hieß es, er soll Polaroids von Amelia gemacht haben – nackt.» Sie schüttelte den Kopf. «Jedenfalls hatte sie schon vor diesem Tag Probleme, aber es stimmt schon, dass es danach immer schlimmer wurde. Sie versuchte mehrmals wegzulaufen. Ich weiß noch, wie ich mich einmal im Vorgarten mit Joy und den Zwillingen unterhalten habe und wie aus dem Nichts ein Pick-up angerast kam. Ich sage noch zu Joy, wie leicht diese Raser jemanden umbringen könnten, und bevor wirs uns versehen, reißt Amelia sich los und rennt vor dieses Auto – absichtlich. Der Fahrer kam beim Ausweichmanöver ins Schleudern und wäre fast verunglückt. Vier Jahre alt und wollte sich umbringen – können Sie sich das vorstellen? Lon und Joy sperrten sie danach die meiste Zeit zu Hause ein und empfingen keinen Besuch. Ich habe sie kaum mehr gesehen. Dann hörte ich, sie hätten sie zu Joys Verwandten geschickt – einer Cousine, glaube ich.»

«Und die Schwester?», fragte Karen.

«Annabelle? Die benahm sich sehr gut. Ich glaube nicht, dass sie irgendwelche Probleme mit ihr hatten.» Miriam rieb sich das Kinn. «Nein, das einzige Mal, dass sie Theater gemacht hat, war an diesem Nachmittag vor der Schießerei. Und dann später habe ich gesehen, wie sie weinend aus dem Fenster schaute. Ich schätze, sie hatte den ganzen schrecklichen Vorfall mit angesehen, aber danach war ihr das nicht anzumerken, ganz anders als bei ihrer Schwester.»

Karen legte die Hand auf Miriams knochigen Arm. «Bekam Lon juristische Probleme nach den Schüssen? Ich meine, selbst wenn sein Verhalten gerechtfertigt schien, könnte man doch sagen, er habe das Gesetz in die eigene Hand genommen.»

Miriam runzelte die Stirn. «Ich weiß noch, wie sie deswegen Bedenken hatten, aber Lon hat hundertprozentig mit der Polizei zusammengearbeitet.»

«Hat je ein Arzt untersucht, ob Amelia sexuell belästigt worden war?»

Mit einem gequälten Blick zuckte Miriam die Achseln. «Das weiß ich nicht, aber sie fanden ihre Kleider in Clays Schlafzimmer. Und in einer Küchenschublade fanden sie einen Geldbeutel und eine Halskette von einer Frau, die seit fast einem Monat vermisst wurde – eine Kellnerin.»

«Kristen Marquart», warf Karen ein. «Ich habe von ihr gelesen.»

Miriam nickte und erschauderte ein wenig. «Können Sie sich vorstellen, wie man sich fühlt, wenn man erfährt, dass man zwei Jahre lang neben einem Serienmörder gewohnt hat?»

«Wurde Kristens Leichnam je gefunden?»

Miriam fummelte wieder an ihrer Halskette herum. «Nein, ich glaube nicht.»

«Und hat man Clay tatsächlich mit den anderen Vermisstenfällen in Verbindung gebracht?»

«Na ja, sie haben das, was von einer dieser armen Frauen übrig war, unweit von dem Reservat gefunden, in dem er früher gelebt hatte. Für mich war das Beweis genug. Aber diese Freundin von Clay hat einen Riesenaufstand veranstaltet …»

Karen nickte. Sie hatte bereits Naomi Rankin, die noch immer in Moses Lake wohnte, eine telefonische Nachricht hinterlassen. Aber Naomi hatte noch nicht zurückgerufen.

«Sie hielt ihn für völlig unschuldig und unfähig, irgendjemandem etwas zuleide zu tun. Aber sie hat ja auch nicht gesehen, was ich an dem Tag gesehen habe.»

«Dann glauben Sie also, Clay hat diese jungen Frauen getötet?»

Miriam schaute Karen über die Ränder ihrer dicken Brillengläser hinweg an. «Nun, als Clay tot war, verschwanden keine Mädchen mehr. Was meinen Sie dazu?»

 

«Ich muss aufs Klo», verkündete Stephanie. «Ganz dringend.»

«Halt noch ein bisschen durch, Liebes», sagte Jessie und blickte in den Rückspiegel. «Wir sind schon fast da.»

Als Jessie durch die Sackgasse zu Georges Haus fuhr, schaute sie sich nach dem verbeulten schwarzen Cadillac um, sah aber weder ihn noch Karens Jetta. Nichts wirkte ungewöhnlich, als sie in die Einfahrt bog: keine fremden Autos, keine eingeschlagenen Scheiben, keine verdächtigen Gestalten.

Als sie sich mit den Kindern der Haustür näherte, bemerkte Jessie nicht, dass mit dem Türgriff etwas nicht stimmte. Um ganz sicherzugehen, hätte sie die Kinder am liebsten im Auto gelassen und schnell das Asthmaspray geholt. Aber Steffie musste auf die Toilette und trat schon ungeduldig von einem Fuß auf den anderen, während Jessie die Tür öffnete. Immerhin war die Tür noch verschlossen – ein gutes Zeichen.

«Lasst mich zuerst rein», sagte Jessie und griff nach dem Lichtschalter.

Stephanie aber war schon durch die Tür und rannte schnurstracks auf die Toilette neben der Küche zu, in der Jessie das Licht angelassen hatte.

«Ich muss auch mal», erklärte Jody und steuerte auf das Bad neben seinem Zimmer zu.

Jessie verdrehte die Augen. Dann sah sie, dass die Tür zum vorderen Zimmer offen und das Licht an war. Hatte sie das so hinterlassen?

Sie erinnerte sich, dass sie vor dem Verlassen des Hauses die Alarmanlage eingeschaltet hatte. Sie hätten eigentlich ein Piepen hören müssen, als sie zur Haustür hereinkamen. Etwas stimmte nicht. «Steffie? Jody?», rief sie.

Auf dem Weg zur Küche warf Jessie einen Blick ins Wohnzimmer. Sie erstarrte.

Die Schubladen des antiken Schränkchens waren offen, eine lag sogar auf dem Boden.

Sie hörte eine Toilettenspülung und sah, dass auch der Esszimmerschrank durchwühlt worden war. Auch hier waren die Schubladen offen oder lagen auf dem Boden. Die silbernen Kerzenständer auf dem Esstisch fehlten. Jessie wollte nur noch so schnell wie möglich die Kinder hinausschaffen und dann vom Haus eines Nachbarn aus die Polizei anrufen.

«Kinder, wir müssen gehen!», rief sie nervös.

«Was?», rief Jody zurück. «Was ist denn los?»

Jessie drehte sich um und sah ihn aus dem Flur kommen, aber plötzlich blieb Jody stehen. Er riss den Mund auf, starrte Jessie an und schüttelte den Kopf.

Sie begriff, dass er auf etwas hinter ihr starrte. Sie hörte ein Wimmern – und ihr wurde klar, dass Steffie weinte. Jessie wirbelte herum, und einen Moment lang blieb ihr das Herz stehen.

Stephanie stand zitternd in der Küchentür. Tränen liefen ihr über das Gesicht. Sie hatte in die Hose gemacht.

Und hinter ihr stand ein junger Mann mit schwarzem Haar und Sonnenbrille. Er trug einen glänzenden schwarzen Anzug und hielt Stephanie einen Revolver an den Kopf.