Kapitel zwei

Ina McMillan hasste diese Waschbecken mit getrennten Wasserhähnen. Um das Gesicht zu waschen, musste sie die Hände wie eine Schöpfkelle zunächst unter das kalte und dann unter das heiße Wasser halten. Immer kam es entweder zu heiß oder zu kalt in ihrem Gesicht an. Außerdem lief Wasser am Ellbogen herunter und machte die Ärmel ihres Morgenrocks nass. Hier war schon das bloße Gesichtwaschen ein größeres Unterfangen.

Sie konnte die Hütte von Jenna und Mark nicht ausstehen und hasste das Landleben. Ina war ein Stadtmädchen.

Streng genommen war das «Wochenendhaus» ihrer Schwester und ihres Schwagers gar keine Hütte, sondern ein kleines, leicht heruntergekommenes doppelstöckiges Haus aus den Fünfzigern mit einem Atombunker im Keller und einem Ofen, der mehr Lärm als Wärme erzeugte. In Inas Schlafzimmer mit seinen hübschen Mansardenfenstern, der schrägen Decke und dem knarrenden Doppelbett stand ein Heizgerät, das eigentlich mit der Aufschrift BRANDGEFAHR hätte versehen werden müssen. Sie durfte es nicht über Nacht anlassen. Wunderbar. Aber so oder so, der Raum fühlte sich ohnehin immer feucht, kalt und zugig an.

Das Haus lag direkt am See und war vom Rest der Welt durch bewaldete Hügel abgeschnitten, die jeden Handy-Empfang blockierten. Auch ein Festnetztelefon gab es nicht. In Notfällen musste man einen knappen Kilometer um den See zum Haus dieser alten Lesbe rennen und ihr Telefon benutzen. Außerdem gab es noch einen öffentlichen Fernsprecher bei einem Restaurant, das an einer rund fünf Kilometer entfernten Straßenkreuzung lag.

Was ihre Schwester und Mark an dieser gottverlassenen Bruchbude fanden, war Ina ein Rätsel. Für einen Ort zum Entspannen war alles viel zu stressig. Man konnte nicht einmal direkt ans Haus fahren. Mark hatte den Wagen an einem Wendeplatz auf einer Klippe parken müssen, und dann waren sie über einen steil abwärts führenden Pfad durch den Wald gelaufen. Dabei hatten sie die ganze Zeit ihre Koffer schleppen müssen, und der von Ina war natürlich viel zu voll.

Sie kam sich reichlich blöd vor mit dem spitzenbesetzten burgunderroten Nachthemd und dem dazu passenden seidenen Morgenrock. Ein Flanellschlafanzug hätte es auch getan.

Das sexy Nachtzeug hatte sie zu Weihnachten von George bekommen, als er noch geglaubt hatte, das Feuer in ihrer Ehe neu entfachen zu können. Er war jetzt zu Hause bei den Kindern. Sie hatten beschlossen, dass angesichts der Spannung zwischen ihnen eine Trennung fürs Wochenende nicht schaden könnte.

Es war dumm von ihr gewesen, anzunehmen, dass hier bei Mark und ihrer Schwester weniger Anspannung herrschen würde.

Ina trocknete das Gesicht ab und starrte auf ihr Bild im Badezimmerspiegel. Obwohl sie ihr wildes, welliges, schulterlanges rotbraunes Haar zu einem Pferdeschwanz gebunden hatte und kein Make-up trug, war sie immer noch hübsch. Wie oft wurde wohl eine Achtunddreißigjährige als Studentin eingeschätzt? Ihr passierte das manchmal noch. Sie hatte reine, cremeweiße Haut und blaue Augen, und ihre gertenschlanke Figur kam in dem burgunderroten Nachthemd bestens zur Geltung.

Auf dem Weg durch den Flur zu ihrem Zimmer warf Ina einen Blick über die Schulter zur halboffenen Schlafzimmertür. Bei Mark und Jenna brannte noch Licht. Halb erwartete, halb hoffte sie, dass Mark an die Tür kommen und sie sehen würde.

Er war der Grund dafür, dass sie die Nachtwäsche eingepackt hatte. Ina wollte auf den Mann ihrer Schwester sexy wirken.

Doch Mark war nicht im Flur, sondern da, wohin er gehörte – im Bett bei ihrer Schwester.

Ina zog sich in ihr feuchtes, zugiges kleines Schlafzimmer zurück und wünschte sich erneut, sie hätte ihren Flanellpyjama eingepackt. Seufzend schaltete sie den Heizstrahler aus und schlug die Bettdecke zurück. Sie wollte ihren Morgenmantel ausziehen, zögerte aber, als von draußen ein Geräusch zu ihr drang.

Sie glaubte Schritte zu hören. Eine Hand am Herzen, schlich sie zu einem der Fenster und schaute nach unten. Ina erschrak.

Genau unter ihr huschte eine dunkle Gestalt zwischen den Büschen herum.

Sie schreckte vom Fenster zurück und rannte durch den Flur. «Mark!», stieß sie mit Mühe hervor, weil sie fast keine Luft bekam. Ina stürzte ins Schlafzimmer der beiden. «Da draußen ist jemand!», flüsterte sie.

Mark und Jenna saßen lesend im Bett. «Bist du sicher?», fragte er und legte sein Buch beiseite.

Sie nickte nachdrücklich. «Ich habe jemanden – oder etwas – im Gebüsch unter meinem Fenster gesehen.»

«Was jetzt – jemanden oder etwas?», fragte er.

Ina zuckte aufgeregt die Schultern. «Ich weiß nicht …»

«Wahrscheinlich war es nur ein Bär», meinte Jenna, die ein Exemplar von Vanity Fair in der Hand hielt. Sie hatte ihre Brille auf und trug eines von Marks T-Shirts. «Die wühlen immer in den Mülltonnen nach Essensresten, sind aber harmlos.»

Ina hasste es, wenn ihre Schwester zu ihr sprach wie zu einem verängstigten kleinen Mädchen. «Was auch immer es war», erwiderte sie, noch immer zitternd, «es ist genau unter meinem Fenster und hat mir einen gewaltigen Schrecken eingejagt. Glaubt ihr etwa, ich kann jetzt einfach einschlafen? Es sah wie ein Mensch aus, Jenna.»

«Ich sehe besser mal nach», brummte Mark und stieg aus dem Bett. «Vielleicht ist ja unser ungebetener Gast wieder da.»

Ina biss sich auf die Lippe, während er einen Bademantel überzog. Trotz seines schütter werdenden Haars und des leichten Übergewichts sah Mark noch ganz gut aus, wie er da barfüßig in seine Hausschuhe schlüpfte. Der «ungebetene Gast» war auch einer der Gründe dafür, dass sie dieses verdammte Haus hasste.

Bei ihrer Ankunft im Dunkeln waren Mark und Jenna einige Unregelmäßigkeiten aufgefallen. Jemand war mit schlammverschmutzten Schuhen durch Küche und Wohnzimmer gegangen. Auf dem Weg zwischen Veranda und See lagen ein paar leere Bierflaschen, Zigarettenkippen und eine zusammengeknüllte Tüte Kartoffelchips. Der Eindringling hatte sogar Feuer gemacht. Jenna dachte laut darüber nach, ob ihre Tochter Amelia heimlich mit ihrem Freund hier gewesen war. Der vertrauensselige Mark aber meinte, Amelia habe seit Wochen keinen Tropfen mehr angerührt, und Shane auch nicht. Außerdem seien beide Nichtraucher, sodass die Bierflaschen und Kippen nicht von ihnen stammen könnten.

Jenna verdrehte die Augen und meinte, er solle Amelia nicht alles glauben. Ihre Tochter hatte ein gutes Herz, aber zuverlässig – oder ehrlich – war sie nicht. Deshalb suchte Amelia einmal wöchentlich für achtzig Dollar eine Therapeutin auf.

Ina war Jenna und Mark nachgelaufen, während die beiden zankend das Haus nach weiteren Spuren dieses ungebetenen Gastes abgesucht hatten. «Wer auch immer es war, er ist längst weg», hatte Mark gesagt und Ina versichert, der Übeltäter komme bestimmt nicht zurück. «Falls es dich beruhigt: Ich habe ein Jagdgewehr im Schlafzimmerschrank.»

Jetzt sah Ina zu, wie er das Gewehr aus dem Schrank holte. Dann überprüfte er, ob es geladen war.

«Sieh zu, dass du diesen Herumtreiber mit dem ersten Schuss erwischst», meinte Jenna, die noch immer im Bett saß. Sie warf ihrer Schwester einen seltsamen Blick zu, bevor sie wieder auf ihre Zeitschrift schaute und erklärte: «Der große weiße Jäger hat nur eine Patrone in diesem Gewehr. Die anderen sind unten in der Küche. Er hat nicht mehr mit dem Ding geschossen, seit –»

«Kannst du jetzt mal die Klappe halten?», zischte Mark. «Siehst du nicht, wie verstört sie ist?»

«Ich sehe nur viel Getue um nichts», entgegnete Jenna, die ihre Augen nicht von der Zeitschrift abwandte.

Mark ignorierte sie und ging an Ina vorbei in den Flur.

Ina blieb noch kurz stehen und warf ihrer älteren Schwester einen wütenden Blick zu, bevor sie sich in den Korridor zurückzog und Mark auf der Treppe einholte.

Wie ein Soldat in einer von Heckenschützen umlagerten Zone hielt Mark das Gewehr mit dem Lauf nach oben vor sich. An der untersten Stufe blieb er stehen. Ina stand zitternd hinter ihm. Sie schaute zur Haustür und ins dunkle Wohnzimmer. Im Kamin schwelten noch ein paar Holzscheite. Der bequeme alte Schaukelstuhl davor bewegte sich nicht. Ina konnte keinerlei Anzeichen eines Einbruchs erkennen.

Mark schlich zur Haustür und drückte die Klinke nach unten. «Verschlossen.»

Ina legte ihm die Hand auf die Schulter und seufzte erleichtert.

Er blinzelte sie an. «Hast du wirklich was gesehen?»

Ina blickte ihn böse an. «Natürlich. Glaubst du vielleicht, ich habe das nur erfunden?»

«Schon gut», murmelte er.

Mark schritt in die Küche und schaltete das Licht ein. Ina blieb dicht hinter ihm. Dann überprüfte er die Küchentür, die nach draußen führte. «Hier ist auch alles in Ordnung», verkündete er und schloss die Tür auf. «Bleib hier. Ich sehe mal draußen nach.»

«Nein, lass mich hier nicht allein!», flüsterte sie.

«Keine Sorge, ich bin in spätestens zwei Minuten zurück. Du kannst ja hinter mir abschließen, wenn es dich beruhigt.» Mit diesen Worten ging er hinaus.

Ina stand einen Augenblick lang zitternd auf der Schwelle, bevor sie die Tür absperrte. Was sollte sie tun, wenn er nicht wiederkam? Sie stellte sich einen Schuss vor und dann Stille. Die Polizei konnte sie nicht rufen, weil es kein Telefon gab.

Ina starrte aus dem Küchenfenster. Sie sah Mark nicht und hörte von draußen keinen Ton, nur das Brummen des alten avocadogrünen Sechzigerjahre-Kühlschranks. Der gerahmte Spruch GEKOCHT WIRD MIT BUTTER UND LIEBE hatte in Inas und Jennas Kindheit in der Küche ihrer Eltern gehangen. Aber in diesem Augenblick spendete er Ina keinerlei Trost.

Auch dass Jenna oben war, beruhigte sie nicht. Was konnte Jenna schon tun?

Ihre Schwester war momentan unerträglich. Vielleicht wusste Jenna ja, was zwischen Mark und ihr vorgefallen war. Hatte Mark etwas gesagt? Dies war ihr erstes gemeinsames Wochenende seit ihrem «Ausrutscher», wie Mark es genannt hatte – so, als hätten sie einen Unfall gehabt. «Das war ein Fehler. Es hätte nie passieren dürfen und wäre auch nicht passiert, wenn wir nicht gerade so viel Stress hätten. Es war einfach nur ein Ausrutscher, Ina.»

Es war ein übler Sommer. Marks und Jennas dreizehnjähriger Sohn Collin war im Mai ertrunken, und sein Tod hatte die Familie in eine schwere Krise gestürzt. Collins Schwester Amelia war seither völlig von der Rolle und auf Medikamente angewiesen. Gegen Marks und Jennas Verwirrung, Wut und Schmerz aber gab es keine Pillen, und so droschen sie aufeinander ein.

Eines Nachmittags Anfang August fuhr Mark von seinem Zuhause in Bellingham nach Seattle, wo er Ina auf einen Drink im Hotel Alexis traf. Er suchte bei ihr Trost, aber dann redete sie mit ihm über ihre Probleme mit George, und zu guter Letzt landeten sie beide im Bett eines Zimmers im fünften Stock.

Sie konnte es immer noch nicht glauben. Ausgerechnet ihr Schwager. Sie kannte Mark seit achtzehn Jahren und war ein wenig in ihn verknallt gewesen, als er Jenna kennenlernte. Mit Ende zwanzig war er ein hübscher Kerl gewesen, bevor er viele Kilos zugesetzt und noch mehr Haare verloren hatte. Aussehen war für Ina sehr wichtig, und so gesehen hatte sie den Richtigen geheiratet. Es schmeichelte ihr, dass ihre Freundinnen George bewunderten. Er lehrte Geschichte an der University of Washington, und sie genoss es, hin und wieder bei seinen Kursen vorbeizuschauen. Wenn George sie als seine Frau vorstellte, merkte Ina sofort, welche seiner Studentinnen in ihn verknallt waren, wenn sie die giftigen Blicke mehrerer Mädchen in der ersten Reihe trafen – und oft auch von einem oder zwei Jungs. Ihr Mann war knapp einen Meter neunzig groß und trainiert. Sein dichtes schwarzes Haar wies an den Schläfen Spuren von Grau auf, und seine blassgrünen Augen brauchten eine Brille, aber die machte ihn nur noch attraktiver. Was das Aussehen anging, konnte Mark ihm nicht das Wasser reichen, doch an jenem Nachmittag im Alexis hatte ihr Schwager ihr das Gefühl vermittelt, unendlich begehrenswert zu sein.

Dennoch sagte Mark beim Verlassen des Hotels, es sei ein schwerer Fehler gewesen. Ein Ausrutscher. Sie waren anständige Menschen – und mit anständigen Menschen verheiratet. Es hätte nicht geschehen dürfen. Er führte es auf seine Trauer zurück und auf den Alkohol (auch wenn es nur zwei Scotch gewesen waren), doch Ina wusste es besser. Er hatte sich schon immer zu ihr hingezogen gefühlt, und so war das, was im Alexis geschehen war, längst überfällig gewesen.

Auch Ina bedauerte diesen «Ausrutscher», doch ein Teil von ihr wollte noch immer, dass Mark sie begehrenswert fand. Auch wenn nie wieder etwas geschehen sollte, wollte sie begehrt werden, und so hatte sie das abweisende Verhalten ihrer Schwester verdient.

Sie blickte noch einmal aus dem Fenster. Die Bäume und Büsche schwankten sanft im Wind. In einer ruhigen Nacht wie dieser, dachte sie, müssten eigentlich Marks Schritte zu hören sein, doch da war nichts.

Ein Schauder lief ihr über den Rücken, und sie rieb sich die Arme. Sie schaute zur Kellertür, die einen Spaltbreit geöffnet war; dahinter herrschte Dunkelheit. Sie hätten auch dort unten nachsehen müssen, im Heizungsraum und im Atombunker. Mark und Jenna nutzten ihn als Lagerraum. Ein perfektes Versteck.

Ina schlich zur Spüle und nahm sich ein Steakmesser aus dem Geschirrständer. Dann blickte sie erneut prüfend auf die Kellertür, die etwas weiter geöffnet schien als zuvor. Oder bildete sie sich das nur ein? Wenn jemand auf dieser wackligen Kellertreppe gewesen wäre, sagte sie sich, hätten die Bretter geknarrt. Dennoch bohrte sich ihr Blick in die Dunkelheit hinter der Tür, bevor sie diese mit dem Messer in der Hand hastig schloss.

Das Display der Kontrolluhr am Herd zeigte «0.20» an. Mark war schon mindestens fünf Minuten weg. Wie lange brauchte man, um dieses winzige Haus zu umrunden? Da stimmte etwas nicht. «Komm schon, Mark», murmelte sie und schaute erneut aus dem Fenster.

Sie dachte schon daran, ihre Schwester zu rufen. Warum sollte nur sie sich Sorgen machen? Aber Jenna schlief wahrscheinlich schon.

Ina schloss die Küchentür auf und schaute hinaus. Sie spürte die kalte Luft an ihren nackten Beinen, und ihr Morgenrock flatterte. Fröstelnd hielt sie das Messer vor sich. «Mark?», rief sie leise. «Wo bist du denn?»

Sie wartete einen Augenblick und lauschte.

Dann hörte sie ein Rascheln und das Knacken von Zweigen unter einem Fuß.

«Mark?», rief sie erneut, diesmal schriller. «Mark, antworte doch bitte …»

«Hier bin ich!», rief er zurück und kam hinter einem Busch neben dem Haus hervor. Er trug das Gewehr an seiner Seite und wirkte ziemlich außer Atem. «Du hattest recht», schnaufte er. «Da war was. Ob mit zwei oder vier Beinen, weiß ich nicht, aber ich habe es den halben Fußweg hochgejagt.»

Ina trat wortlos beiseite, um ihn einzulassen.

«Wir sind jetzt sicher», beruhigte er sie und schloss die Tür ab. «Was immer es auch war, es kommt nicht wieder.» Er legte das Gewehr auf den Esstisch und griff in einen Geschirrschrank. «Mein Gott, es ist arschkalt da draußen. Ich denke, wir können jetzt einen Schluck vertragen.»

Ina legte das Messer neben das Gewehr und sah zu, wie er eine Flasche Bourbon herausholte. Er nahm zwei Gläser, auf denen die Familie Feuerstein prangte, und goss ein.

«Ist dir so etwas schon mal passiert?», fragte sie misstrauisch.

Mark schüttelte den Kopf und gab ihr ein Glas. «So nicht. Bären hatten wir hier schon, wie Jenna bereits sagte, aber das war kein Bär.» Er nahm einen Schluck Bourbon.

Ina nippte an ihrem. «Was macht dich so sicher, dass diese Kreatur nicht wiederkommt?»

«Weil sie so schnell rannte. Das verdammte Ding muss längst in einem anderen Postleitzahlenbezirk sein. Aber zur Sicherheit schiebe ich hier noch eine Stunde oder so Wache.»

«Dann leiste ich dir Gesellschaft.»

«Das halte ich für keine gute Idee, Ina.»

Ihr entfuhr ein verlegenes, leises Lachen. «Hast du etwa Angst vor einem neuen ‹Ausrutscher›?»

Mark seufzte. «Ich habe es dir doch schon erklärt. Es passiert kein zweites Mal, schon gar nicht, während Jenna oben im Bett sitzt. Mein Gott, Ina, was ist bloß mit dir los?»

Sie starrte ihn an, kippte ihren restlichen Whiskey hinunter und stellte entschlossen das Glas auf den Küchenschrank. «Das war nur eine einfache Frage, keine Anmache, du Arschloch.»

Sie wollte die Küche verlassen, aber er packte sie am Arm. «Hör mal …», begann er, sagte dann aber nichts. Seufzend ließ er ihren Arm wieder los. «Wir sind beide müde und nervös, und da sagt man schon mal Sachen, die nicht so gemeint sind. Wir hören jetzt besser auf damit, okay?»

Ina antwortete nicht, nickte aber.

«Ich sag Jenna noch gute Nacht und komm dann wieder runter, um Wache zu halten. Und du solltest versuchen, ein wenig zu schlafen.» Er goss noch etwas Bourbon in ihr Feuerstein-Glas. «Damit du besser einschläfst.»

«Danke», sagte Ina und ging zum Spülbecken. Sie schaute ihn noch immer nicht an, sah aber sein Spiegelbild im dunklen Fenster, als er die Küche verließ.

Ina nahm einen Schluck Whiskey. Er wärmte und beruhigte sie ein wenig.

Sie hörte, wie Treppenstufen knarrten, und nahm an, dass dies von Mark herrührte, der nach oben stieg.

Ina kam nicht auf die Idee, dass das Geräusch von der Kellertreppe kommen könnte.

Die Toilettenspülung weckte sie auf.

Ina war erst vor ein paar Minuten eingenickt. Vor ungefähr einer Stunde hatte sie sich nach oben begeben, um ins Bett zu gehen, während Mark mit dem Jagdgewehr im Wohnzimmer geblieben war. Als Ina auf der obersten Stufe angekommen war, hatte Jenna ihr etwas zugerufen, und Ina hatte den Kopf in das große Schlafzimmer gesteckt.

Ihre Schwester lag bei eingeschaltetem Licht im Bett. «Tut mir leid, dass ich heute so fies zu dir war», erklärte Jenna, ohne den Kopf zu heben. «Du musst stinksauer auf mich sein.»

«Red keinen Quatsch», meinte Ina. «Schlaf jetzt.»

Jenna schaute zur Decke. Bei dieser Beleuchtung sah sie, wie ihre Schwester feststellte, alt und ein wenig abgehärmt aus, was Ina traurig machte. Sie waren beide nicht mehr jung.

«Ich glaub, Mark hat eine andere», sagte Jenna.

Ina lachte laut auf. «Wie kommst du denn auf so was?»

«Er hat eine Affäre oder hatte zumindest eine. Ich weiß es. Hat er George etwas gesagt? Die beiden sind doch Kumpel.»

Ina schüttelte den Kopf.

«Du würdest es mir aber erzählen, wenn du etwas wüsstest? Wenn George zu dir was sagen würde?»

«Klar doch», erklärte Ina und setzte sich auf Marks Seite auf die Bettkante. «Jenna, Mark liebt dich. Er hat keine andere. Das ist doch Blödsinn. Du machst dir umsonst Sorgen.»

«Schon möglich», räumte Jenna seufzend ein. «Mein Gott, ich bin ja so fertig. Seit Collins Tod stimmt gar nichts mehr. Die meiste Zeit komme ich mir wie ein Zombie vor. Es ist, als hätte man aus mir ein Stück herausgeschnitten. Es tut weh, Ina, nicht nur seelisch; es ist ein echter körperlicher Schmerz.»

«O Jen, das tut mir ja so leid», flüsterte Ina. Mehr fiel ihr nicht ein, und so nahm sie ihre Schwester in die Arme.

Jenna legte den Kopf an ihre Schulter und weinte. Ina spürte ihre Tränen durch den seidenen Morgenmantel.

Nach einer Weile hatten sie gute Nacht zueinander gesagt, und Ina war auf ihr Zimmer gegangen. Als sie in ihr knarrendes Doppelbett kroch, fühlte sie sich furchtbar. Statt ihrer Schwester in dieser schweren Zeit beizustehen, hatte sie mit Mark geschlafen. Wie konnte sie das Jenna nur antun? Und George?

Sie wäre eine bessere Schwester, eine bessere Ehefrau, eine bessere Mutter, ein besserer Mensch 

Das hatte Ina sich gesagt, als sie eingenickt war.

Jetzt war sie wieder wach und hörte, wie sich der Wasserbehälter der Toilettenspülung füllte. Die Tür zum großen Schlafzimmer quietschte, als Mark sie schloss. Er würde bald schlafen, und dann war sie als Einzige wach im Haus – in diesem unheimlichen kleinen Haus am Ende der Welt.

Ina hörte draußen ein Rascheln und versuchte, es zu ignorieren. Sie waren praktisch mitten im Wald, und da gab es eben jede Menge Tiere, die Geräusche machten. Oder war es dieses Ding, das Mark weggejagt hatte? Vielleicht war es ja wieder da. Vielleicht hatte es das Haus beobachtet und nur gewartet, bis er ins Bett ging.

Ina, hör auf, dir das anzutun.

Da war es wieder – dieses Rascheln!

Ina schlug die Bettdecke zurück und stieg aus dem Bett. Sie tappte zum Fenster und linste hinaus. Sie sah nichts, hörte aber erneut dieses merkwürdige Rascheln. Entstand es vielleicht innerhalb des Hauses? Kam es von unten?

Ina verharrte völlig regungslos und lauschte. Bodendielen knarrten, wieder Rascheln. Mark war es nicht, denn dann hätte sie seine Schlafzimmertür quietschen gehört. Da er sich am Ende des Flurs befand und somit weiter von der Treppe entfernt war als sie, konnte Mark nicht hören, was sie hörte, selbst wenn er noch wach war. Nur sie vernahm es, und nur sie wusste, dass hier etwas ganz und gar nicht in Ordnung war.

Du steigerst dich da in etwas hinein. Der Bär – oder was auch immer – hat dich erschreckt, und jetzt redest du dir das Schlimmste ein.

So viel war klar: Sie dachte über den Typ von Mörder nach, der sich womöglich in diesen Wäldern herumtrieb, schlau und brutal zugleich. Ein Geisteskranker.

Schluss damit! Sie war mit zu vielen Horrorgeschichten aufgewachsen: der Killer mit dem Haken anstelle einer Hand; die von einem Irren bedrohte Babysitterin; und jetzt ihre eigenen wilden Phantasien über diesen Mörder im Wald.

Als sie das Geräusch erneut hörte, wurde ihr klar, wie dumm sie war. Es waren nur die Holzscheite im Kamin, sonst nichts.

Ina kroch wieder ins Bett und zog die Decke hoch bis zum Hals. Sosehr sie sich auch einzureden versuchte, dass alles in bester Ordnung war, lag sie doch stocksteif und angespannt da und wartete auf das nächste Geräusch.

Sie musste nicht lange warten. Es kam wieder von unten, aus dem Wohnzimmer, und sie erkannte genau, was es war: Stuhlbeine, die über den Boden schrammten. Jemand musste gegen einen Stuhl gestoßen sein.

Offenbar hatte auch Mark das Geräusch bemerkt, denn erneut öffnete sich quietschend die Tür zum großen Schlafzimmer. Dann waren Schritte im oberen Flur zu hören.

Ina stieg aus dem Bett und ging auf die Tür zu. Ihr Herz raste. Zumindest hatte nicht nur sie die Geräusche wahrgenommen, und Mark sah bereits nach. Sie hörte ihn auf der Treppe. «Ach, du bist’s, Gott sei Dank», murmelte er. «Mein Gott, was machst du denn hier? Du hast mir einen schönen Schrecken eingejagt …»

Eine Hand auf dem Türknauf, drückte Ina ihr Ohr an die Tür. Sie vernahm unverständliches Geflüster und verstand lediglich, wie Mark sagte: «Okay, schon gut, ich setze mich …» Offenbar kannte er die Person unten an der Treppe. Nach weiterem Gemurmel erhob Mark die Stimme. «Nein! Warte, tu das nicht –»

Dann krachte ein lauter Gewehrschuss.

Ina taumelte von der Tür zurück.

Sie hörte die Schritte ihrer Schwester auf dem Flur, während jemand anders die Treppe hinaufstürmte. «O Gott, nein!», schrie Jenna.

Beim zweiten Schuss drehte sich Ina der Magen um. Sie hörte, wie jemand direkt vor der Tür ihres Zimmers zusammenbrach.

Mein Gott, bitte, lass das nicht wahr sein.

Sie stieg in den Schrank, schloss die Tür und rollte sich bebend auf dem Boden zusammen. Ihr Zittern war unkontrollierbar. Dann hörte sie Schritte, ohne jedoch erkennen zu können, ob sie auf ihr Zimmer zukamen oder von ihm wegführten. Ihr wurde schwindlig, und sie bekam keine Luft. Der dunkle Schrank schien um sie herum zu schrumpfen. Inas ganzer Körper begann dichtzumachen.

 

Sie war nicht sicher, was geschehen war, ob sie in Ohnmacht gefallen war oder unter Schock stand, aber plötzlich wurde Ina klar, dass einige Zeit vergangen sein musste. Im Haus war es still, und ein sehr schwaches Licht drang durch den Schlitz unter der Schranktür. Der Morgen brach an.

War das nur ein Albtraum gewesen? Als sie versuchte, sich zu bewegen, tat ihr alles weh. Sie fühlte sich wie durchgeprügelt – die Reaktion ihres Körpers auf das Trauma. Das war kein Albtraum, sondern Realität.

Wenn auch stark zitternd, schaffte es Ina, auf die Beine zu kommen und die Schranktür zu öffnen. Im Zimmer war es noch immer dunkel, auch wenn bereits das trübe Licht der ersten Morgendämmerung durch die Fenster drang. Nichts im Zimmer war verändert, die Tür noch immer geschlossen.

Ina schluckte schwer, bevor sie nach dem Türknauf griff. Als sie die Tür öffnete, sah sie an der Wand des Flurs Blut und Stücke von Gehirnmasse. Nur einen Meter vor ihr lag Jenna tot auf dem Boden neben der blutbespritzten Wand.

Ina rang nach Luft. Tränen traten ihr in die Augen, doch sie starrte ihre tote Schwester nicht allzu lange an, sondern taumelte zur Treppe. Sie zitterte so sehr, dass sie kaum hinabsteigen konnte, und hielt sich am Geländer fest, um nicht zu stürzen oder ohnmächtig zu werden.

Im schwachen Licht konnte sie nur einige Bereiche des Wohnzimmers erkennen, während andere noch immer im Dunkeln lagen. Mark saß in seinem Bademantel auf dem Schaukelstuhl am Kamin, doch sein Gesicht war im Dunkeln, und er regte sich nicht. Als Ina sich ihm vorsichtig näherte, sah sie, dass sein welliges braunes Haar auf einer Seite blutverklebt war. Er starrte mit offenen, toten Augen und bestürzter Miene zu ihr zurück. Die obere linke Seite seines Kopfs war weggeschossen.

«O nein», flüsterte sie, die Hand über dem Mund. «Nein, nein, nein …»

Jemand trat aus der Dunkelheit hinter der Küchentür.

Ina rang erneut nach Luft. Marks Jagdgewehr war auf sie gerichtet.

Tränen strömten Ina über das Gesicht, als sie die Person anstarrte, die sie töten wollte. «O mein Gott, Liebes», flüsterte sie kopfschüttelnd. «Was hast du nur getan?»

Dann fiel der Schuss.