Karen bog bei Coles Corner zum Lake Wenatchee Highway ab. Die Landschaft am Stevens Pass war herrlich gewesen – mit ihren Bergen und Flüssen, den herbstlich gefärbten Bäumen und dem einen oder anderen kleinen Wasserfall. Aber sie hatte kaum etwas davon mitbekommen. Sie musste immer daran denken, dass Amelia eine Zwillingsschwester hatte. Kein Wunder, dass Amelia so viele Neurosen entwickelt hatte, nachdem sie in so jungen Jahren von ihrer Schwester getrennt worden war. Plötzlich ohne sie, hatte Amelia womöglich die Persönlichkeit ihrer Schwester angenommen. Vielleicht ging sie davon aus, dass ihre Schwester sich im Stich gelassen fühlte und deshalb wütend, verbittert oder gar gewalttätig war. Und vielleicht übernahm Amelia diese Charakterzüge während ihrer Blackouts, die wiederum verhinderten, dass Amelia von dieser Hälfte ihrer Persönlichkeit und deren Handlungen wusste.
«Oder ihre Blackouts sind einfach nur alkoholbedingt», murmelte Karen vor sich hin, «und du interpretierst zu viel in diese Zwillingsgeschichte hinein.»
Sie passierte ein Schild, dass den Lake Wenatchee State Park ankündigte. Nach Helenes Beschreibung würde sie in fünfzehn Minuten beim Haus der Faradays am See sein.
Amelias Trennung von ihrer Zwillingsschwester erklärte jedenfalls ein paar andere Dinge, wie die Albträume und Phantomschmerzen und «vorgetäuschten» Krankheiten ihrer Kindheit. Karen hatte an der Uni Berichte über Telepathie zwischen Zwillingen gelesen, die teilweise knochentrocken und stinklangweilig gewesen waren: «Obwohl getrennt, griffen beide Zwillinge bei den ersten beiden Experimenten nach dem roten Ball, beim dritten nach dem grünen und beim vierten wieder nach dem roten. Die Entscheidungsmuster der getrennten Zwillinge stimmten zu sechsundneunzig Prozent überein.»
Andere Berichte erinnerten eher an eine Mystery-Serie im Fernsehen, wie etwa die Geschichte über einen fünfundfünfzigjährigen Geschäftsmann, der mitten in der Nacht in seinem Züricher Hotelzimmer mit heftigen Bauchschmerzen und hohem Fieber aufwachte. Die Ärzte fanden nichts, das Fieber war am nächsten Morgen abgeklungen. Als er ins Hotel zurückkam, erwartete ihn eine Nachricht von seiner Schwägerin. Sein Zwillingsbruder war in der Nacht zuvor mit Blinddarmdurchbruch in die Klinik eingeliefert worden.
Einige von Karens Professoren hatten solche Geschichten ins Reich der Phantasie verwiesen, obwohl es Dutzende vergleichbarer Fälle gab.
Hatte die junge Amelia mit ihren unerklärlichen Beschwerden die Schmerzen ihrer Zwillingsschwester gespürt? Karen erinnerte sich an einige ihrer Beschreibungen. Es fühlte sich an, als ob mich etwas trat … als ob mir der Arm abgedreht würde … als ob jemand eine brennende Zigarette auf mir ausdrückte …
Karen fragte sich, ob diese schrecklichen Dinge Annabelle Schlessinger wirklich zugefügt worden waren, als die von ihr getrennte Schwester weit, weit weg diese qualvollen Empfindungen erlitten hatte. Welche Art von Gewalt hatte jenes Kind erlitten? Amelias Phantomschmerzen hatten vor rund drei Jahren aufgehört, als sie sechzehn gewesen war. Und Annabelle Schlessinger war mit sechzehn gestorben.
Vielleicht waren Amelias Albträume ja doch die Folge einer Art Telepathie gewesen, und sie hatte gefühlt, was man ihrer Schwester angetan hatte.
Karen konnte fast bildlich vor sich sehen, wie sich ihr Professor über derart weit hergeholte Spekulationen lustig machte. Doch manche Phänomene waren eben schwer zu erklären, und Telepathie zwischen Zwillingen war eines davon.
Karen konzentrierte sich auf die Schilder an der Straße. Auf dem Weg durch den Wald sah sie schon den stillen See durch die Bäume und schließlich ein Schild mit rot-weißer Umrandung:
DANNY’S DINER
Frühstück, Mittag- und Abendessen
1,5 KILOMETER GERADEAUS
Das war das Restaurant, das Amelia und Helene ihr beschrieben hatten – das an der Schotterstraße, die zum Haus der Faradays führte.
Karen wusste noch immer nicht, was sie in dem Haus zu finden erwartete. Vielleicht hatte sie die ganze Strecke ja umsonst zurückgelegt. Falls Amelia sich hier versteckte, wollte Karen sie beruhigen und mit ihr reden. Sie mussten jetzt zur Polizei. Wahrscheinlich galten sie beide im Fall Koehler als verdächtig und womöglich sogar schon als flüchtig, doch Karen war noch immer entschlossen, Amelia zu schützen und ihr jede erdenkliche Hilfe zukommen zu lassen.
Ein Stück weiter vorn sah sie nun Danny’s Diner – ein kleines Restaurant mit Blumenkästen vor den Fenstern. Vor dem Haus, das im Stil einer Berghütte errichtet war, standen vier Picknicktische. Zudem gab es einen Parkplatz, der für ein Dutzend Autos reichte und etwa zur Hälfte frei war. Im Vorbeifahren registrierte Karen das öffentliche Telefon am Eingang.
Sie nahm ihr Handy und wählte die Nummer ihres Festnetzanschlusses. Eine Computerstimme sagte: «Die Verbindung kann leider nicht hergestellt werden. Bitte versuchen Sie es später noch einmal.»
Helene hatte recht – Handys hatten hier keinen Empfang. Das komplizierte alles ganz beträchtlich, falls sie im Ferienhaus Schwierigkeiten bekam. Sie musste damit rechnen, dass Amelia in einem reichlich verwirrten Zustand war. Und vielleicht hatte sie auch noch Blade dabei.
Karen sah die Abzweigung zum Holden Trail, einer kurvigen, abschüssigen Schotterstraße durch den Wald. Der feine Kies prasselte wie Hagel gegen den Unterboden ihres Leihwagens, und hin und wieder fuhr sie durch ein Schlagloch. Karen hatte ein ungutes Gefühl im Bauch und war außerdem hungrig. Sie hatte den ganzen Tag nichts gegessen.
Sie sah einen Wendeplatz zu ihrer Linken, doch Helene hatte erklärt, den solle sie ignorieren. Die Parkbucht der Faradays war weiter vorn. Karen ging vom Gas, als sie eine kurze Aufschüttung mit Platz für zwei kleinere Autos erkannte. Sie stellte den Wagen dort ab und sah andere Reifenspuren.
Nach zweieinhalb Stunden Fahrt stieg Karen mit steifen Beinen aus dem Mietwagen. Sie nahm ihre Handtasche und vergewisserte sich noch einmal, dass ihr Revolver drin war. Neben den Reifenspuren entdeckte sie nun auch eine Zigarettenkippe und Fußabdrücke. Es sah aus, als wäre hier mehr als eine Person gewesen.
Amelia war heute Morgen also nicht allein gekommen, sondern wahrscheinlich mit Blade.
Karen sah die Fußabdrücke auch auf dem Pfad zum Haus, der meist aus Erde bestand, teils aber mit Kies aufgeschüttet war. Es gab auch ein paar Steinstufen und an einigen heiklen Stellen ein altes hölzernes Geländer. Zwischen den Bäumen hindurch sah Karen den See. Schließlich wurde das Gelände flacher, und sie entdeckte auf einer Lichtung das Haus der Faradays.
Ein mit Platten ausgelegter Weg führte zur Veranda des verwitterten doppelstöckigen Gebäudes. Karen versuchte im Vorbeigehen durch die Fenster zu blicken, aber im Haus war es dunkel, und außer ihrem ängstlichen Spiegelbild sah sie nichts.
Streifen von gelbem Polizei-Absperrband mit der Aufschrift TATORT – BETRETEN VERBOTEN waren quer über die Haustür geklebt, aber jemand hatte sie abgerissen, und nun flatterten sie im Wind. An der Tür klebte ein grünes Blatt Papier mit Logo und Schriftzug der Polizei von Wenatchee. Nach zwei Absätzen im Juristenkauderwelsch hieß es in Großbuchstaben: KEIN ZUTRITT. ZUWIDERHANDELNDE WERDEN BESTRAFT.
Offenbar hatte bereits jemand anders diese Warnungen ignoriert. Karen wollte schon anklopfen, zögerte dann aber. Sollte sie ihre Ankunft wirklich ankündigen, wenn möglicherweise Blade und Amelia da drin waren?
Karen biss sich auf die Unterlippe und berührte die Klinke. Zu ihrer Überraschung war die Tür nicht verschlossen. Sie holte den Revolver ihres Vaters aus der Handtasche, öffnete langsam die Tür und trat über die Schwelle. Alle Rollläden waren halb hochgezogen, die Fenster geschlossen. Innen war es dunkel und muffig. Fast jedes Möbelstück war auf Fingerabdrücke untersucht worden. Über den Boden zog sich eine getrocknete Schlammspur, die offenbar die Polizei beim Ein-und-aus-Gehen hinterlassen hatte. Am Kamin sah Karen den Schaukelstuhl, in dem man Amelias Vater aufgefunden hatte, und dahinter den rostfarbenen Blutfleck an der Wand. Blutflecke gab es auch auf dem beigefarbenen Teppich unter dem Schaukelstuhl und, etwa zwei Meter davon entfernt, an der Stelle, wo Georges Frau erschossen worden war. Alles war so, wie Amelia – und Koehler – es beschrieben hatten.
Karen folgte der Spur der Ermittler zur Küche, blieb aber abrupt stehen, als sie ein Knarren hörte. Es schien von oben zu kommen, aber sicher war sie sich nicht. Den Revolver in der zittrigen Hand, lauschte Karen nach weiteren Geräuschen. Sie zählte bis zehn, und als sie nichts mehr hörte, sagte sie sich, dass wohl nur die Dachsparren geknarrt hatten. Dann schlich sie in die Küche mit ihren verschnörkelten Regalbrettern und der Essnische im Stil der Fünfziger. Durch die Scheibe in der Außentür sah sie erneut gelbes Polizeiband, doch hier war es unbeschädigt und kreuz und quer über die Tür geklebt.
In der Küche gab es noch eine weitere Tür, die etwa fünf Zentimeter weit offen stand und hinter der es stockdunkel war. Als Karen sie weiter öffnen wollte, knarrten die Scharniere. Sie erstarrte. War das das Geräusch, das sie gehört hatte?
Sie starrte auf die Holztreppe, die in den dunklen Keller führte. Als sie nach einem Lichtschalter neben der Tür suchte, sah sie etwas am Küchenfenster vorbeihuschen. Einen Moment lang war sie wie gelähmt. Es hatte ausgesehen wie ein Mensch, auch wenn sie ihn – oder sie – nur aus den Augenwinkeln registriert hatte. Der oder die Betreffende musste sie von außen beobachtet haben und dann rasch zur Seite gesprungen sein.
Den Revolver fest umklammert, schlich Karen auf die Eingangstür zu. Durch die Fenster konnte sie draußen niemanden sehen. «Amelia?», rief sie. Karen erreichte die Tür, die sie offen gelassen hatte, noch immer die Waffe im Anschlag. «Amelia, bist du das? Hier Karen. Amelia?»
Ein Hund begann zu bellen. «Wer ist da drin?», rief jemand.
Karen schaute hinaus und sah eine ältere Frau mit kurzgeschnittenem grauem Haar, Brille und einem viel zu großen grauen Pullover. Sie hielt einen Collie an der Leine. «Ruhig, Abby», flüsterte sie.
Karen steckte schnell den Revolver in die Tasche. «Sie müssen Helene sein.»
Die alte Frau musterte sie mit finsterem Blick und nickte. «Dann habe ich mit Ihnen am Telefon gesprochen?»
Karen atmete auf. «Richtig, ich bin Karen Carlisle, Amelias Therapeutin.»
«Amelia hat sich wohl aus dem Staub gemacht», meinte Helene. «Hier ist sonst niemand, ich habe schon nachgesehen.»
Sie trat ins Haus, und Karen schloss die Tür hinter ihr.
«Sie sind hier rein, obwohl ich Sie davor gewarnt habe?»
«Warum hätte ich auf Sie hören sollen?», meinte Helene achselzuckend. «Ich kenne Sie ja gar nicht. Außerdem ist sowieso keiner da.» Sie kratzte ihren Hund hinter den Ohren. «Keine Ahnung, wann sie weg ist. Wie ich Ihnen schon sagte, ich habe nur Amelia gesehen, auch wenn es nach zwei Personen klang.»
Karen nickte. Sie dachte an die zwei verschiedenen Fußabdrücke auf dem Pfad zum Haus. «Wann haben Sie Amelia vor dem heutigen Tag zum letzten Mal hier gesehen, Miss Sumner?»
«Am Montag vor den Morden war sie mit ihrem Freund am See», antwortete Helene, noch immer über ihren Hund gebeugt.
Karen war fast sicher, an diesem Tag mit Amelia eine Therapiesitzung gehabt zu haben. «Am Fünfzehnten?»
Helene nickte.
«Ganz sicher?»
Ein weiteres entschiedenes Nicken. «Montag ist mein Einkaufstag. Wenn man in meinem Alter allein lebt, werden bestimmte Rituale zum ständigen Begleiter …»
Karen wusste, was die alte Frau meinte, und erschrak ein wenig darüber, dass auch sie schon solche Gewohnheiten besaß.
«Bevor ich in den Laden ging, habe ich Abby am Montagnachmittag ausgeführt und dabei Amelia und diesen unheimlichen jungen Mann am See gesehen. Sie wirkten wie unter Drogen.»
«Um welche Zeit war das?»
«Um die Mittagszeit, etwa 13.00 Uhr.»
Karen schüttelte den Kopf. Das ergab keinen Sinn. Wenn sie sich recht erinnerte, war Amelia damals am frühen Nachmittag bei ihr gewesen. «Sind Sie sicher, dass es um diese Uhrzeit war?», hakte sie nach. «Und war es auch bestimmt Amelia?»
Stirnrunzelnd hörte Helene auf, ihren Hund zu tätscheln, und richtete sich auf. «Miss, ich bin vielleicht alt, aber nicht senil – jedenfalls noch nicht.»
«Tut mir leid, aber ich bin mir fast sicher, dass ich um genau dieselbe Zeit in Seattle mit Amelia zusammen war.»
Helene starrte sie finster an. «Wenn das stimmt, wer war dann das Mädchen, das ich am See gesehen habe?»
«Jessie, könnten Sie mir einen großen Gefallen tun?», fragte Karen in der Telefonzelle am Eingang von Danny’s Diner. «Könnten Sie in meiner Wohnung etwas für mich überprüfen?»
«Sofort?»
«Ich weiß, dass es kurz vor der Hauptverkehrszeit ungünstig ist, aber es ist wichtig.»
«Kein Problem. Jody ist gerade aus der Schule gekommen. Ich muss sowieso Steffie aus der Tagesstätte abholen. Wir fahren einfach weiter. Dann lernen die Kids Rufus kennen. Was soll ich tun?»
«Sehen Sie bitte in meinem Terminplaner auf dem Schreibtisch nach, ob ich am Montag, 15. Oktober, nachmittags eine Sitzung mit Amelia hatte.»
«Ist das schon alles?»
«Ja. Ich muss nur wissen, ob ich Amelia an dem Tag getroffen habe.»
«Montag, der 15. Oktober», wiederholte Jessie. «Okay. Ich rufe Sie dann in einer halben Stunde auf Ihrem Handy zurück.»
«Handys haben hier keinen Empfang. Ich bin in einer Telefonzelle. Ich rufe Sie wieder an.»
«Versuchen Sie’s in Ihrem Haus. In einer halben Stunde müssten wir da sein.»
«Danke, Jessie. Sie sind die Beste.»
Karen hängte nur kurz auf und nahm dann den Hörer wieder ab. Sie tippte erst die Nummer ihres Kreditkartenkontos ein und anschließend die von Georges Handy.
Er wartete gerade auf Annabelle Schlessingers Highschool-Lehrerin, die eine Cheerleadergruppe trainierte. Caroline Cadwell hatte offenbar die Schlessingers besser gekannt als jeder andere in Salem. «Ich wollte Sie nach dem Gespräch mit ihr sowieso anrufen», erklärte George. «Wo sind Sie jetzt?»
Durch die Glasscheibe der Zelle sah Karen einige Gäste aus dem Restaurant kommen. «Ach, ich habe einiges zu erledigen.»
«Mitten in Washington?», fragte er scharf. «Karen, mein Display zeigt die Vorwahl 509 an. Sind Sie am Lake Wenatchee?»
«In der Telefonzelle bei Danny’s Diner», räumte Karen ein. «Am Haus war ich schon. Helene Sumner hat Amelia heute Morgen dort gesehen, aber jetzt ist das Haus leer. Wichtig ist –»
«Sie sind da hin, obwohl ich ausdrücklich dagegen war? Karen, Sie hätten dabei umkommen können!»
«Bin ich aber nicht», murmelte sie, gerührt von seiner Besorgnis. «Tut mir trotzdem leid, George.»
«Haben Sie wenigstens wie besprochen die Polizei angerufen? Und lügen Sie mich bitte nicht wieder an.»
«Ja, ich habe mit ihnen gesprochen. Die wollen immer noch mit Amelia über Koehlers Verschwinden reden. Ich ging dem Thema aus dem Weg und sagte ihnen, dass sie mein Auto und das Geld genommen hat. Außerdem habe ich das Auto beschrieben und das Kennzeichen durchgegeben. Amelia gilt offiziell als flüchtig, und das macht mir große Sorgen.» Sie seufzte. «Ich stehe auch nicht viel besser da – ein weiterer Grund, hierherzukommen. Die Polizei will mit mir reden, am besten in Anwesenheit meines Anwalts. Das nächste Mal sehen Sie mich vielleicht am Besuchstag durch ein Plexiglasfenster.»
«So weit lasse ich es nicht kommen», erklärte George.
Karen lachte dankbar auf. «Das glaube ich Ihnen sogar. Danke, George.» Sie betrachtete den Schlamm an ihren Schuhen. «Haben Sie mehr über Annabelle Schlessinger herausgefunden? Über die Umstände ihres Todes?»
«Witzig, dass Sie das fragen.» George erklärte, was er aus dem Zeitungsartikel und von Erin Gottlieb erfahren hatte.
Karen hörte gespannt zu. «Annabelle kam also angeblich bei einem Brand ums Leben», murmelte sie vor sich hin.
«Was meinen Sie mit angeblich?»
«Ich mache mir nur so meine Gedanken. Falls Annabelle gar nicht tot ist, würde das einiges erklären.»
«Das verstehe ich nicht.»
«George, tun Sie mir einen Gefallen. Beschaffen Sie von Annabelles Lehrerin möglichst viele Details über den Brand und die Identifizierung der Leichen. Vielleicht ist Annabelle ja noch am Leben.»
George hatte das Gefühl, er müsse verdächtig aussehen – als Achtunddreißigjähriger ganz allein auf den Zuschauerrängen. Er hatte die Hände in den Taschen seines Jacketts und versuchte, nicht auf die übenden Cheerleader auf dem Platz zu starren. George war aufgefallen, wie einige der Mädchen tuschelnd und kichernd zu ihm herübergeschaut hatten. Zudem hatten ihm die Jungs vom Football-Team, die gerade auf der Bahn ihre Runden drehten, im Vorbeilaufen merkwürdige Blicke zugeworfen.
Er fühlte sich irgendwie fehl am Platz, bis Caroline Cadwell ihre Truppe allein ließ und neben ihm Platz nahm. «Wer ist denn dieser Adonis?», rief eines der Mädchen. «Ihr Freund?» Eine andere stieß einen bewundernden Pfiff aus.
«Wenn ihr diesen Typ beeindrucken wollt», schoss sie zurück, «dann legt euch jetzt mal richtig ins Zeug, Mädels! Rachel Porter, du kommst doch höher mit dem Bein!»
Caroline Cadwell war eine schlanke Frau in den Vierzigern mit kurzem gelbbraunem Haar und großen haselnussbraunen Augen. Sie war hübsch, auch wenn ihre schlaksige Art George irgendwie an einen Straußenvogel erinnerte.
Als er nach Carolines letzter Stunde an sie herangetreten war, hatte er sich als Verwandter von Joy Savitt Schlessinger vorgestellt und ihr dieselbe Geschichte über seine Stammbaumforschung aufgetischt wie Erin Gottliebs Mutter. Caroline war zunächst etwas misstrauisch gewesen, hatte dann aber versprochen, ihm während des Cheerleader-Trainings zur Verfügung zu stehen. Nach zwanzigminütigem Warten auf den Rängen hoffte George nun auf brauchbare Informationen über die Schlessingers.
«Sie erforschen also Ihren Stammbaum», sagte Caroline und strich sich das Haar aus dem Gesicht. Die Musik aus dem Gettoblaster dröhnte weiter, aber Caroline schien sie nicht zu hören. «Wie sind Sie eigentlich mit Joy verwandt?»
Caroline lächelte ihn mit diesem typischen Lehrerblick an, den George trotz seiner jahrelangen Lehrtätigkeit noch nicht annähernd so perfekt beherrschte. Glaub bloß nicht, du kannst mich verarschen, gab dieser Blick anderen zu verstehen.
«Ich schreibe gar keine Magisterarbeit», gestand er.
Sie nickte. «Je mehr ich darüber nachdachte, desto unwahrscheinlicher kam es mir vor. Was wollen Sie, Mr. McMillan?»
«Ich suche nach Informationen über die leiblichen Eltern meiner neunzehnjährigen Nichte. Sie wurde mit vier adoptiert. Ihr Name ist Amelia Faraday, aber ich habe Grund zu der Annahme, dass sie vorher Schlessinger hieß.»
Carolines Augen bohrten sich in die seinen, bevor sie sich seufzend wieder nach ihren Cheerleaders umdrehte. «Was genau wollen Sie wissen?», fragte sie.
«Alles, was hilfreich sein könnte. Amelia ist eine liebe, intelligente und hübsche junge Frau, hat aber auch viele Probleme, seit ihrer Kindheit schon. Ich hoffe, Sie können uns helfen zu verstehen, woher diese Probleme kommen.»
«Mit uns meinen Sie wohl Amelias Eltern und sich selbst? Warum sind sie nicht hier?»
«Sie wurden ermordet, zusammen mit meiner Frau, vor gut einer Woche. Meine beiden Kinder und ich sind die einzigen lebenden Verwandten von Amelia – zumindest, soweit ich weiß.»
«Mein Beileid», murmelte sie. Es war ihr anzusehen, dass sie um Fassung rang. Dann schüttelte sie langsam den Kopf. «Mein Gott, beide Familien verloren – als ob auf dem Mädchen ein Fluch lastet.»
«Ich hörte, Sie waren mit Joy Schlessinger befreundet.»
Sie seufzte. «Na ja, ich kannte sie wahrscheinlich besser als jeder andere hier. Ich lernte sie und Lon kennen, als sie 1993 nach Salem zogen. Ich hatte damals die ehrenamtliche Funktion, neu zugezogene Bürger in Salem begrüßen zu dürfen. Je nachdem, wie gesellig die Leute waren, konnte das entweder richtig Spaß machen oder ziemlich nervtötend sein. Die Schlessingers jedenfalls schienen unsere Bemühungen zu schätzen. Sie kamen aus Moses Lake, Washington.»
«Kamen dort auch die Zwillinge zur Welt?»
Sie nickte und warf zwischen zwei Darbietungen noch einmal einen Blick auf ihre Truppe. «Nicht schlecht, Ladys!», rief sie. «Und jetzt der nächste Teil. Nancy, würdest du die Musik ein wenig leiser drehen?»
Dann wandte sie sich wieder George zu. «Joy tat mir leid. Die Ärmste war neu in der Stadt und kannte keine Menschenseele. Und dann auch noch auf dieser Ranch am Stadtrand. Lon war ziemlich unnahbar, immer beim Jagen oder Angeln. Ich hatte bald das Gefühl, dass er am Tag keine zehn Worte mit ihr wechselte. Er ging immer mit Joys Bruder Duane zelten und jagen. Duane lebte in Pasco. Er hat Lon und Joy miteinander bekannt gemacht. Ich traf Duane nur einmal, aber das reichte mir.»
«Sie mochten ihn nicht besonders?»
«Überhaupt nicht», gestand sie stirnrunzelnd. «Er war einer dieser kleinen, drahtigen Machotypen, neurotisch wie ein kleiner Pitbull.»
«Klingt, als hätten Sie schon ziemlich früh gemerkt, dass ihm alles zuzutrauen war.»
«Dann wissen Sie es also schon. Ja, er kam mir vor wie eine Zeitbombe, die jeden Augenblick hochgehen konnte. Er war nicht besonders gesellig und kannte in Salem wahrscheinlich niemanden außer Lon. Ich lernte ihn nur kennen, weil ich Joy hin und wieder auf der Ranch besuchte und er einmal zufällig gerade da war. Er und Joy waren schon komische Typen. Für meinen Geschmack war sie ein wenig zu sehr auf die Bibel fixiert. Ich bin zwar auch gläubig und habe mich deshalb um Joy gekümmert, aber wirklich nahe standen wir uns nie. Ich denke, in ihrem tiefsten Innern hatte sie ein gutes Herz, aber mir war sie einfach zu fundamentalistisch. Sie brauchte die Religion, wie andere Alkohol brauchen, als Mittel zur Flucht aus der Wirklichkeit. Ich glaube nicht, dass sie das Leben im Griff hatte.» Caroline zuckte die Schultern. «Aber angesichts dessen, was das Leben der armen Joy zu bieten hatte, ist es wohl kein Wunder, dass sie eine Fluchtmöglichkeit suchte.»
«Und wie ging sie mit ihren Töchtern um?», fragte George.
«Als sie von Moses Lake kamen, gab es nur Annabelle.»
George nickte. Das ergab durchaus einen Sinn, denn Amelia war über eine Adoptionsagentur in Spokane, Washington, vermittelt worden, knapp hundertfünfzig Kilometer von Moses Lake entfernt. Offenbar waren die Schlessingers ohne sie nach Salem gezogen.
«Hat Joy Ihnen je erzählt, was mit Amelia geschehen war?»
Caroline zuckte kurz zusammen und seufzte dann. «Amelia war der Hauptgrund für ihren Umzug. Mit vier wurde sie von einem Nachbarn entführt und missbraucht. Später stellte sich heraus, dass derselbe Mann eine junge Frau vergewaltigt und ermordet hatte, die in einem Restaurant in Moses Lake arbeitete.»
George starrte sie nur an. Genau danach hatte Karen gesucht – nach einem gravierenden Vorfall in Amelias Kindheit.
«Lon erschoss den Mann», fuhr Caroline fort, «als die Polizei ihm schon dicht auf den Fersen war. Amelia wurde gerettet, war aber danach nicht mehr dieselbe. Joy und Lon hatten eine schwere Zeit mit ihr. Sie suchten mehrere Ärzte auf, aber ihr war wohl nicht mehr zu helfen. Sie versuchte immer wieder davonzulaufen und wollte sich sogar umbringen – mit vier, man stelle sich das vor! Joy erwischte sie mit einem von Lons Gewehren. Am Ende mussten sie sie in Pflege geben. Das brach Joy das Herz, aber sie wurden einfach nicht mehr mit der Kleinen fertig. Joy verzichtete auf das Sorgerecht, obwohl Lon das nicht wollte. Sie hatte keine Ahnung, wo ihr Kind war. Ihren Bekannten in Moses Lake erzählten sie, Amelia lebe jetzt bei Verwandten in Winnipeg. Kurz nachdem sie hierher gezogen waren, ging es mit Joy seelisch bergab. Sie hat wohl nie verkraftet, was mit Annabelles Zwillingsschwester geschehen war. Sie lebten erst ein paar Monate hier, als die kleine Annabelle ihre Mutter tot im Keller fand. Sie hatte sich erhängt. In einem Abschiedsbrief hat sie sich bei Gott und ihrer Familie entschuldigt und mich gebeten, mich um Annabelle zu kümmern.»
«Und wenige Wochen später», warf George ein, «kam es dann zu diesem Amoklauf von Duane Savitt in der Adoptionsagentur in Spokane. Haben Sie eine Ahnung, warum er das getan hat?»
Ein gequälter Ausdruck huschte über Carolines Gesicht. Sie wandte sich ihren Schülerinnen zu und stand auf. «Gut gemacht, Mädels! Ihr könnt heute etwas früher gehen. Nancy, bringst du den Gettoblaster in mein Büro?»
Die Hände in den Taschen ihres Sweaters, stand sie auf der Tribüne und wartete, bis die letzte Schülerin gegangen war. «Niemand sonst in der Stadt wusste von Amelia. Joy hatte mich gebeten, mit niemandem darüber zu sprechen. Annabelle hat man das bestimmt auch gesagt. Als Kind sprach sie nie über ihre Schwester – bis zur Highschool. Dann erfuhr ich, dass sie verschiedenen Freundinnen unterschiedliche Geschichten über eine verstorbene Zwillingsschwester auftischte. Annabelle, ihr Vater und ich waren vermutlich die Einzigen, die die Wahrheit kannten.»
Sie setzte sich wieder neben George. «Als ich das von Duane Lee Savitt und der Adoptionsagentur las, wusste ich zumindest in etwa, worum es gegangen sein muss.»
«Aber zur Polizei sind Sie nicht gegangen.»
Caroline seufzte. «Nein. Ich hörte, dass sie mit Lon gesprochen haben. Er erzählte ihnen, dass sein Schwager sich schon seit Jahren von seiner Familie entfremdet hatte. Ich war die Einzige in der Stadt, die es besser wusste. Ich nehme an, Duane ging den Leuten in Moses Lake ebenso aus dem Weg wie denen in Salem, weil in Moses Lake sich niemand meldete, der ihn gekannt hatte. Das weiß ich, weil ich viele Artikel über das Massaker von Spokane gelesen habe.»
«Ich auch», erklärte George. «Aber Sie hätten doch der Polizei irgendeinen Hinweis auf Duanes mögliches Motiv geben können. Die haben nie eines gefunden.»
Sie nickte. «Ich weiß, aber Lon bat mich, nichts zu sagen – wegen Annabelle. Sie hatte viel durchgemacht und war noch nicht über den Tod ihrer Mutter hinweg. Diese furchtbare Nachricht über Onkel Duane wäre verheerend für sie gewesen.» Caroline schüttelte langsam den Kopf. «Ich hatte eine gewisse Verantwortung Annabelle gegenüber. Schließlich hatte Joy mich gebeten, mich um sie zu kümmern, und so schwieg ich. Da die Polizei mich nie danach fragte, musste ich Gott sei Dank nicht lügen. Ich habe einfach keinem was gesagt. Sie sind der Erste, dem ich es erzähle.»
«Verstehe», murmelte George.
Caroline schaute wieder auf den Sportplatz hinaus. «Als Annabelle dann vierzehn war, bat sie mich, ihr zu erklären, was ihr Onkel getan hatte. Ich erzählte das, was ich ihr enthüllen konnte, und dann sagte Annabelle etwas sehr Seltsames. Sie erinnerte sich daran, dass Onkel Duane sie mehrmals gefragt hatte, ob sie wisse, wo Amelia sei. Ist das nicht merkwürdig?»
Caroline strich ihr vom Wind zerzaustes Haar zurück und seufzte. «Wie konnte er annehmen, dass die Kleine wusste, wo ihre Schwester war, wenn nicht einmal ihr Vater es wusste?»
«Ich habe Ihren Terminkalender vor mir», erklärte Jessie am Telefon. «Hier steht es: Amelia Faraday, Montag, 15. Oktober, 14.00 Uhr, mit einem roten Häkchen daneben.»
Mit diesem Zeichen vermerkte Karen, dass ein Patient zur Sitzung erschienen war und hierfür eine Rechnung erstellt werden konnte.
«Dann muss ihre Schwester noch leben», flüsterte Karen.
«Wovon reden Sie eigentlich? Welche Schwester?»
«Das erkläre ich Ihnen später, Jessie.» Vor dem Restaurant gingen die Lichter an, denn draußen wurde es dunkel. «Alles in Ordnung bei Ihnen?»
«Bestens. Die Kinder vergnügen sich mit Rufus in der Küche, und der freut sich über die Abwechslung. Wir bringen ihn gleich in den Garten, damit er sein Geschäft machen kann. Soll ich hier noch was erledigen, bevor wir wieder zu George fahren?»
«Nein danke. Sie sind großartig, Jessie. Aber was ich Ihnen heute Morgen gesagt habe, gilt auch weiterhin. Falls Sie mein Auto sehen oder Amelia bei George aufkreuzt –»
«Ich weiß», fiel Jessie ihr ins Wort. «Seien Sie auf der Hut … Sie könnte gefährlich sein … Rufen Sie die Polizei … und so weiter und so fort.»
«Ich meine es ernst, Jessie. Jetzt noch ernster als zuvor.»
«Wir passen schon auf. Bis bald.»
«Nochmals danke, Jess.»
Gleich danach rief Karen erneut George an, der sich schon nach dem zweiten Rufton meldete. «Karen?»
«Wie ich sehe, sind Sie immer noch in der Telefonzelle vor Danny’s Diner. Ich habe die Nummer auf meinem Handy gespeichert. Kann ich Sie in fünfzehn Minuten zurückrufen?»
Sie zögerte. «Also gut. Haben Sie schon mit Annabelles Lehrerin gesprochen?»
«Bin gerade dabei. Tut mir leid, wenn ich Sie da aufhalte. Gehen Sie doch rein und trinken Sie eine Coke oder sonst was. Also dann in fünfzehn Minuten.»
«Okay, aber Sie sollten noch wissen …» – Karen hörte ein Klicken –, «… dass Annabelle tatsächlich am Leben ist», vollendete sie den Satz, doch George hörte sie nicht mehr.
«Können wir Rufus mit nach Hause nehmen?», fragte Stephanie. Sie konnte nicht aufhören, ihn zu streicheln, selbst als er ein Bein hob und auf die Hortensien neben Karens Hintertür pinkelte.
«Ich glaube nicht, dass Karen gern in ein leeres Haus zurückkommt», meinte Jessie, die vor der offenen Küchentür auf den Stufen zum Garten stand.
Jody hielt Rufus an der Leine und zog seine kleine Schwester vom Hund weg. «Lass ihn doch mal eine Minute in Ruhe, damit er sein Häufchen machen kann!»
Stephanie zierte sich noch kurz und wandte sich dann an Jessie. «Warum können Karen und Rufus nicht bei uns wohnen?»
«Ich arbeite daran, Liebes», antwortete sie. «Aber Jody hat ganz recht; du musst Rufus ein oder zwei Minuten in Ruhe lassen. Und auch du solltest dich ein bisschen beruhigen.»
Stephanie hatte ihr Asthmaspray in der Tagesstätte vergessen. Sie durfte sich nicht überanstrengen oder zu sehr aufregen, bevor sie nach Hause kamen, wo sie zwei weitere Spraydosen in Reserve hatte.
Dann hörte Jessie ein Geräusch hinter sich in der Küche. Sie drehte sich um und riss verblüfft den Mund auf.
Sie stand in einer Regenjacke neben dem Frühstückstisch und hielt ihre Handtasche fest umklammert, ein rätselhaftes Lächeln im Gesicht.
«Mein Gott, hast du mich erschreckt», keuchte Jessie, eine Hand auf dem Herzen. «Was machst du denn hier, Amelia?»