Kapitel acht

Karen saß in der Dunkelheit, während Amelia sich im Bett hin und her warf. Das gedämpfte Schluchzen aus Jodys Zimmer über ihnen hatte aufgehört. Karen schätzte, dass die Polizei George McMillan nun schon seit etwa einer Stunde befragte und wahrscheinlich bald Amelia in die Zange nehmen wollte.

Karen hörte jemanden die Treppe herabkommen. Es klopfte, und sie stand auf und ging zur Tür. Amelia wurde plötzlich wach und setzte sich im Bett auf, während Karen öffnete.

«Ich soll Amelia holen», flüsterte Jessie. «Sie wollen ihre Aussage und werden ihr wahrscheinlich zwei Stunden lang alle möglichen taktlosen persönlichen Fragen stellen.»

«Das geht im Augenblick über ihre Kraft», erwiderte Karen leise.

«Mit ihrem Onkel haben sie es genauso gemacht.»

Karen blickte über die Schulter zu Amelia, die sie anstarrte und sichtlich zitterte. Karen konnte nicht zulassen, dass die Polizei sie verhörte, solange Amelia derart durcheinander war. «Schlaf wieder», flüsterte sie ihr zu. «Und wenn du nicht einschlafen kannst, bleib einfach nur ruhig liegen, bis sie weg sind.»

Dann verließ Karen das Gästezimmer und schloss sanft die Tür hinter sich zu.

«Sie wollen, dass ihr Onkel heute Abend nach Wenatchee fährt, um die Toten zu identifizieren», flüsterte Jessie. «Er kommt womöglich erst sehr spät zurück. Ich habe ihm versprochen, dass wir so lange die Stellung halten.»

«Ja, natürlich.»

«Ich sagte doch gleich, dass wir nicht stören, aber Sie hören ja nie auf mich.» Jessie klopfte ihr auf die Schulter. «Und wenn wir nicht gekommen wären, hätten Sie George nie kennengelernt. Was für ein Mann! Wie der mit seiner Kleinen umgeht. So einen hätte ich mir immer für Sie gewünscht.»

Karen warf ihr einen tadelnden Blick zu. «Um Gottes willen, Jessie, seine Frau wurde gerade erst ermordet.»

«Weiß ich», flüsterte sie zurück. «Aber das heißt ja nicht, dass Sie nicht in ein paar Monaten wiederkommen und sich nach seinem Befinden erkundigen können.» Jessie seufzte. «Ich hab die Kleine hingelegt. Die Ärmste hat sich in den Schlaf geweint.»

Die beiden stiegen die Treppe hoch. Karen konnte schon Georges Stimme hören, als sie auf das Arbeitszimmer zuging.

Sie klopfte und öffnete die Tür. Vor George, der in einem Polstersessel saß, tigerte ein gut fünfzig Jahre alter, attraktiver grauhaariger Mann mit Schnurrbart auf und ab. Der Mann trug einen blauen Anzug, der aussah, als habe er in ihm geschlafen. Er wandte sich zu Karen um.

George stand auf, als Karen eintrat. Er trug eine Brille, die ihn noch attraktiver und liebenswürdiger aussehen ließ.

Außerdem befand sich ein junger, bulliger Uniformierter im Raum, der auf einem Drehstuhl am Computerschreibtisch saß. Er stand ebenfalls auf, um ein kleines Aufnahmegerät auf dem Couchtisch abzuschalten. In dem engen Raum war kaum genug Platz für die drei Männer. Über dem Schreibtisch war ein kleines Fenster, und an zwei Wänden standen Regale mit Büchern und gerahmten Fotos der McMillans.

«Detective Goodwin, das ist Amelias Therapeutin, Karen Carlisle», sagte George.

Sie schüttelte dem Beamten die Hand. «Wie ich höre, möchten Sie Amelia sprechen. Ich fürchte, das habe ich vorerst verhindert, denn ich musste ihr starke Beruhigungsmittel geben.»

Der Polizist runzelte die Stirn. «Wir müssen aber mit ihr reden.»

«Tut mir leid, sie schläft», meinte Karen achselzuckend. «Das ist meine Schuld. Aber sie war so hysterisch, dass ich ihr die maximale Dosis gegeben habe.»

«Die Ärmste, Sie hätten sie sehen sollen», rief Jessie von der Tür her. «Sie heulte wie ein Schlosshund und war völlig außer sich. Gott sei Dank war Doktor Carlisle hier.»

Karen warf ihr einen scharfen Blick über die Schulter zu. Sie wusste ja, dass Jessie nur helfen wollte, aber musste sie gleich so dick auftragen – Doktor?

Jessie zog sich schweigend in die Küche zurück, und Karen sah George in die Augen. Er hatte bei seiner Nichte keinen so schweren hysterischen Anfall gesehen, dass sie starke Beruhigungsmittel gebraucht hätte. Aber er schien zu verstehen, dass Karen das Mädchen nur schützen wollte.

Sein Blick schweifte zum Detective. «Haben Sie fürs Erste nicht genug erfahren? Müssen Sie Amelia wirklich unbedingt jetzt gleich befragen?»

Der Grauhaarige rieb sich das Kinn und starrte Karen an. «Wie lange behandeln Sie Amelia schon?»

«Seit Anfang des Sommers», antwortete sie.

«Hat sie in einer ihrer Therapiesitzungen etwas über ihren Vater erwähnt, das erklären könnte, was im Haus am Lake Wenatchee gestern Nacht geschehen ist?»

Sie schüttelte den Kopf. «Nichts, was für Ihre Ermittlungen von Bedeutung sein könnte.»

«Sie wollen mir doch wohl nicht mit Ihrer Schweigepflicht kommen?»

«Nein, Sir. Wenn Sie gegen die verstoßen würden, dann würde ich Sie schon darauf aufmerksam machen.»

Er schnaubte und runzelte die Stirn. «Ich will trotzdem mit ihr sprechen.»

«Nichts zu machen», erwiderte Karen mit einem hilflosen Achselzucken.

«Hören Sie», mischte George sich ein, «wenn Sie mehr über den seelischen Zustand ihres Vaters in letzter Zeit wissen wollen, erfahren Sie von ihr sowieso nicht viel. Sie war die letzten zwei Monate ständig am College. Ich kann mir nicht vorstellen, dass sie von der Sache zwischen ihrem Dad und Ina weiß.» Er wandte sich Karen zu. «Meine Frau und Amelias Vater hatten im August eine Affäre. Sehr kurz nur. Hat Amelia Ihnen gegenüber je etwas davon erwähnt?»

Karen biss sich auf die Lippe. «Nein. Davon höre ich zum ersten Mal.»

Er wandte sich an den Detective. «Verstehen Sie, was ich meine? Sie bekommen aus Amelia sowieso nicht viel heraus. Lassen Sie das arme Mädchen doch wenigstens heute Abend in Ruhe.»

«Also gut», knurrte Goodwin. Dann wandte er sich wieder an Karen. «Aber ich möchte, dass sie morgen früh um Punkt neun in meinem Büro in der Polizeiwache von West Seattle ist.»

Karen nickte. «Ich fahre sie selbst hin. Tut mir leid, dass ich Ihnen nicht mehr helfen konnte. Kann ich jetzt gehen?»

«In Ordnung», seufzte er.

Karen aber konnte es nicht dabei belassen. Sie musste an Amelias phantastisches Geständnis denken, die Morde in der letzten Nacht begangen zu haben, und blieb in der Tür stehen. «Darf ich Sie noch etwas fragen, Detective?»

«Fragen Sie», murmelte er.

«Ich musste Amelia erklären, was gestern Nacht geschehen war, anhand erster Informationen von Mr. McMillan. Genaueres wusste ich allerdings nicht.» Sie warf George einen verstohlenen Blick zu und hoffte, dass ihn das nicht zu sehr quälen würde. «Ich habe Amelia erzählt, dass es so aussehe, als habe ihr Vater ihre Mutter und ihre Tante erschossen und dann sich selbst. Amelia fragte mich, welche Art von Gewehr er benutzte und wo man die Leichen fand – Einzelheiten, mit denen ich nicht dienen konnte.»

Der Detective starrte sie nur an, sagte aber nichts.

«Mark hat sein Jagdgewehr genommen», antwortete George fast verbittert, als habe er das Thema gründlich satt. Dennoch lag ein Beben in seiner Stimme. «Meine Schwägerin wurde im Gesicht getroffen. Man fand sie im oberen Flur. Ina – meiner Frau – wurde in die Brust geschossen. Sie war im Wohnzimmer mit Mark. Und Mark setzte sich dann in seinen Schaukelstuhl am Kamin und schoss sich in den Kopf.» Über die Ränder seiner Brille hinweg sah George den älteren der beiden Polizisten an. «Habe ich alles korrekt wiedergegeben, Detective?»

Der Kriminalbeamte antwortete nicht.

Auch Karen schwieg. Sie dachte über Amelias Version der Geschehnisse in der Mordnacht nach. Amelias Darstellung war nicht Teil eines Albtraums oder einer Sinnestäuschung. Die Einzelheiten stimmten geradezu erschreckend genau mit der Wirklichkeit überein.

 

Im verdunkelten Gästezimmer lag Amelia auf dem Bett und starrte an die Decke. Sie lauschte den Stimmen oben in Onkel Georges Arbeitszimmer, die als dumpfes Gemurmel zu ihr drangen. Vielleicht konnte Karen die Polizei ja noch eine Weile von ihr fernhalten, aber früher oder später würde sie herausfinden, wer ihre Eltern und ihre Tante getötet hatte. Das konnte auch Karen nicht verhindern.

Überhaupt konnte Karen ihr nicht viel helfen.

Amelia fragte sich, ob sie überhaupt eine gute Therapeutin war. Wahrscheinlich nicht.

«Hör auf», flüsterte sie sich selbst zu. «Denk nicht einmal daran.»

Amelia klammerte sich an ihr Kopfkissen und nahm eine Embryonalstellung ein. Ihr wurde plötzlich übel, weil ihr neben all ihren Zweifeln ein weiterer Gedanke durch den Kopf schoss – der hässliche Gedanke, dass Karen Carlisle den Tod verdient hatte.

 

Gegen 17.00 Uhr, nachdem George und die beiden Polizisten abgefahren waren, ging Karen ins Gästezimmer hinunter, um noch einmal nach Amelia zu sehen, aber sie war nicht da. Karen verspürte einen Anflug von Panik. Dann sah sie, dass die Badezimmertür geschlossen war. Wegen der noch immer frischen Erinnerung an Haley blieb sie aber trotzdem argwöhnisch. Sie hatte beim Durchsuchen des Medizinschranks nicht nachgesehen, ob dort vielleicht auch Rasierklingen oder Schlaftabletten lagen.

Sanft klopfte sie an die Badezimmertür. «Amelia?»

«Karen?», antwortete die junge Frau mit träger Stimme. «Komm ruhig rein.»

Eine warme Dampfwolke schlug Karen entgegen. Der Duschvorhang, der ein Muster aus Fischen und Seepferdchen hatte, war halb offen, und in der Wanne saß Amelia. Ihr Haar war hochgesteckt, aber ein paar nasse schwarze Strähnen fielen ihr über die blassen Schultern. Sie hatte den Kopf in den Nacken gelegt und die Augen geschlossen. «Ist die Polizei weg?», fragte sie.

«Ja.» Karen war froh, dass die Polizisten schon weg waren, denn sonst hätten sie das Wasser rauschen hören und gewusst, dass Amelia doch noch wach war. Sie fragte sich schon, ob Amelia unterbewusst versuchte, sich selbst auszuliefern.

«Setz dich doch», forderte Amelia sie auf und nickte mit dem Kopf zum Toilettenbecken hinüber.

Karen schloss den Deckel und setzte sich. Das Geräusch des unablässig tropfenden Wasserhahns hallte von den blauen und weißen Kacheln wider. Amelia wirkte kein bisschen schüchtern. Ihr Körper war sehr schön, und Karen erinnerte sich unwillkürlich an die Highschool und ihren damaligen Neid auf Mädchen mit größerem Busen.

«Du hast also mit ihnen gesprochen», stellte Amelia fest und atmete einmal tief durch. «War es so, wie ich sagte?»

Karen nickte. «Du warst ziemlich nah dran», räumte sie ein.

Sie wusste nicht, was sie sonst noch sagen sollte. Wie konnte Amelia so genau wissen, wo man die Leichen gefunden hatte und wie jedes Opfer getötet worden war?

Die einzige mögliche Erklärung war, dass Amelia über eine Art außersinnlicher Wahrnehmung verfügte und gewissermaßen hellsehen konnte. Aber selbst das erklärte noch nicht, warum sie glaubte, die Morde begangen zu haben.

Mit einem abwesenden, verlorenen Blick in Richtung Wasserhahn seifte sich Amelia die Arme ein. «Glaubt die Polizei immer noch, dass mein Dad es getan hat?», fragte sie, ohne Karen anzusehen.

«Ja. Es gibt keinen Grund, daran zu zweifeln, Amelia, auch wenn es unbegreiflich erscheint. Aber das hat dein Vater getan, nicht du. Warum, werden wir nie erfahren. Dafür werden jetzt andere Dinge über deinen Vater herauskommen, von denen du vielleicht noch nichts weißt.»

Amelia schüttelte langsam den Kopf. «Er hätte meiner Mutter oder Tante Ina nie etwas antun können. Er war ein guter Mensch.»

«Aber auch nur ein Mensch. Trotzdem hast du recht – er hätte nie absichtlich jemandem wehgetan. Amelia, mach dich auf gewisse … Enthüllungen über ihn gefasst.»

«Welcher Art? Wenn du etwas weißt, dann sag es mir.»

Karen zögerte.

«Ist es etwas, das mir die Polizisten sagen werden? Dann würde ich es lieber von dir hören, Karen. Sag du es mir.»

Karen fragte sich, ob sie das wirklich wissen musste. Aber wenn Amelia an ihre Unschuld glauben sollte, musste sie die Tatsache akzeptieren, dass ihr Vater irgendwie Schuld auf sich geladen hatte. «Also gut», begann sie schließlich. «Dein Onkel hat es gerade der Polizei erklärt. Ich bin nicht sicher, ob du es schon weißt, aber wie es scheint, hatten dein Vater und deine Tante vor etwa zwei Monaten eine kurze Affäre.»

Amelia strich sich geistesabwesend den Seifenschaum von Armen und Schultern. «Mir ist aufgefallen, dass sich Tante Ina im August irgendwie komisch verhalten hat», nuschelte sie und schloss die Augen. «Ich hätte mir denken können, dass etwas in der Richtung geschehen sein musste.»

«Tut mir leid», murmelte Karen.

«Ich bin froh, es von dir erfahren zu haben statt von der Polizei – oder von Onkel George.»

Karen sagte eine Minute lang nichts und seufzte dann. «Die Polizei will dich morgen früh sprechen», erklärte sie. «Ich denke, sie wollen vor allem hören, was du über deine Eltern weißt – vor allem über deinen Vater. Wenn sie aber fragen, wo du gestern Nacht warst, musst du sehr vorsichtig antworten, damit du dich wegen dieser schrecklichen … Visionen nicht selbst belastest.»

«Keine Sorge, Karen, ich sage der Polizei nichts davon.» Amelia glitt tiefer in die Wanne, bis das Wasser ihr ans Kinn reichte. «Ich habe drei Jahre lang heimlich getrunken, und niemand hat es je erfahren. Ich bin ziemlich gut im Lügen. Ich schaffe das morgen schon.»

«Moment, ich will nicht, dass du die Polizei anlügst. Du sollst dich nur nicht selbst bezichtigen.»

Sie fragte sich ständig, was wohl geschehen würde, wenn Amelia die Morde gestand. Schuldig oder nicht, sie würden sie sofort einsperren. Und wenn sie nicht im Gefängnis landete, dann in der Psychiatrie. In jedem Fall wäre das ihr Ende.

«Warum rufst du nicht noch einmal Shane an?», schlug Karen vor. «Lad ihn zum Essen ein. Es ist bestimmt jede Menge da. Wie ich Jessie kenne, hat sie genug gekocht, um eine ganze Armee satt zu bekommen.»

Amelia nickte. «Ja, ich denke, ich würde mich besser fühlen, wenn Shane da wäre. Aber du willst doch nicht gehen?»

«Nur, wenn du es möchtest.»

«Nein, es wäre mir lieber, wenn du hierbleiben würdest.»

Karen lächelte und stand auf. «Gut, dann sage ich Jessie, dass noch jemand zum Abendessen kommt.»

 

Fünfundvierzig Minuten später traf Karen auf Shane, als dieser seinen Wagen vor dem Haus der McMillans abstellte. Sie kannte ihn recht gut und war ihm schon mehrmals begegnet, da er oft Amelia nach ihren Sitzungen abgeholt hatte. Mit seinem struppigen hellbraunen Haar, seinem ungepflegten Bart und seinen strahlend weißen Zähnen sah er wie ein Surfer aus, und mitunter sprach er auch wie einer. Aber er hatte ein gutes Herz und war bereit, alles für Amelia zu tun.

Als Shane aus seinem VW Golf stieg, fiel Karen auf, dass er nicht so nachlässig gekleidet war wie sonst. Er trug ein gepflegtes blaues Hemd und eine Khakihose und hatte irgendein Gel in sein widerspenstiges Haar gerieben, sodass es wie angeklatscht aussah. Noch etwas wollte gar nicht zu ihm passen: Er weinte.

Shane umarmte Karen und ließ den Kopf auf ihre Schulter fallen. «Scheiße, ich kann einfach nicht glauben, dass sie tot sind», heulte er. «Wie geht’s Amelia?»

«Geht so. Sie hat gerade gebadet.» Karen klopfte ihm auf den Rücken und zog sich dann sanft zurück. «Hören Sie, Amelia kann sich nicht genau erinnern, wohin sie letzte Nacht gefahren ist. Über das Benzin hat sie mit Ihnen ja schon gesprochen.»

Er wischte sich die Nase mit dem Handrücken ab und nickte. «Ja, anscheinend hat sie ungefähr einen halben Tank verbraucht, aber das ist mir doch egal …»

«Wie weit kommt der Wagen mit einer halben Tankfüllung?»

«So um die zweihundertfünfzig Kilometer. Aber was ist denn so wichtig an der Kiste?»

Dann kann sie nicht in Wenatchee gewesen sein, dachte Karen. Das waren nämlich schon zweihundertfünfzig Kilometer Hinfahrt. «Haben Sie Ihren Wagen gereinigt, seit Sie ihn von meinem Haus abgeholt haben?»

Shane schüttelte verwirrt den Kopf.

«Amelia meint, sie hätte vielleicht etwas darin vergessen. Darf ich mal nachsehen?»

«Tun Sie sich keinen Zwang an», meinte er achselzuckend.

Karen sah sich den Sitz und den Wagenboden auf der Fahrerseite an. Kein Tropfen Blut, kein blutiger Lappen – nichts Außergewöhnliches außer einer leeren Tequilaflasche. Karen sah auch im Handschuhfach nach und im Kofferraum, fand aber nichts.

«Erwischt», meinte Shane mit einem Kopfnicken in Richtung Tequilaflasche. «Hat sie erzählt, dass sie letzte Nacht einen Rückfall hatte?»

«Ja, aber darum kümmern wir uns später.» Karen warf die leere Flasche in eine Recyclingtonne am Ende der Einfahrt und versetzte Shane einen Stoß in die Rippen. «Kommen Sie, vielleicht können Sie Amelia dazu bringen, etwas zu essen. Sie hat den ganzen Tag noch nichts in den Bauch bekommen.»

Und Amelia aß tatsächlich etwas, während Shane neben ihr am Küchentisch saß. Jessie hatte alle sechs Teller gedeckt in der Hoffnung, dass Jody doch noch aus seinem Zimmer kommen würde. Unter Einsatz ihres Charmes sowie einer Dose root beer und eines Tellers Chicken Tetrazzini mit Knoblauchbrot hatte sie sich vorübergehend Zutritt zu seinem Zimmer verschafft.

Fünfzehn Minuten nachdem sie mit dem Essen begonnen hatten, kam zu Karens Erstaunen Jody mit einem fast leeren Teller in der Hand angeschlurft. Er war ein gutaussehender, schlanker Junge mit braunen Augen und welligem braunem Haar. «Gibt’s noch mehr davon?», fragte er ruhig.

Jessie sprang vom Tisch auf und schnappte sich seinen Teller. Dann gab sie ihm eine zweite Portion – und überredete ihn, sich mit an den Tisch zu setzen. Shane fragte Jody, ob er in seinem Zimmer schlafen könne. Er wollte in Amelias Nähe bleiben. Falls Jody noch immer das Bedürfnis hatte, allein zu sein, zeigte er es nicht. Er schien sich sogar irgendwie geehrt zu fühlen, dass der Freund seiner Cousine – ein College-Student! – ihn bat, bei ihm übernachten zu dürfen.

Karen saß am Kopfende des überfüllten Tisches in Ina McMillans Frühstücksecke. Sie erinnerte sich, wie sie am Abend nach Haleys Tod allein vor dem Fernseher gegessen hatte, genauso wie damals, nachdem sie ihren Vater ins Pflegeheim gebracht hatte. Sie versank nicht in Selbstmitleid, sondern wünschte sich nur, eine Familie zu haben.

Sie betrachtete Amelia am anderen Ende des Tisches. Shane hatte den Arm um sie gelegt, und Amelia erwiderte ihren Blick mit einem traurigen Lächeln. Sie nickte und schien ohne Worte Danke, Karen sagen zu wollen.

Karen lächelte und nickte ebenfalls. Und sie kam sich vor, als habe sie doch eine Familie.

 

Als sich George um 0.40 Uhr durch die Haustür schleppte, begann Jessie sogleich, sein Abendessen aufzuwärmen. Er sah nach seinen Kindern, gab ihnen noch einen Gutenachtkuss und unterhielt sich kurz mit Amelia und Shane, die im Untergeschoss vor dem Fernseher saßen.

Als er wieder hochkam, bat Karen ihn um ein Gespräch unter vier Augen. Und obwohl er so müde und erschöpft wirkte, sagte er: «Natürlich.» Sie gingen noch kurz in die Küche, wo er ihnen beiden und Jessie ein Glas Wein eingoss. Dann folgte Karen ihm in sein Arbeitszimmer. Er schloss die Tür hinter ihr und deutete auf den Lehnstuhl. «Setzen Sie sich doch.»

«Danke. Auch dafür, dass Sie die Polizei von Amelia ferngehalten haben. Sie war sehr verstört heute Nachmittag, was ja auch verständlich ist. Da wäre es gar nicht gut gewesen, wenn sie mit der Polizei hätte reden müssen.»

«Hat sie Ihnen von ihrer Vorahnung erzählt?», fragte er.

Karen nickte.

George nahm einen Schluck Wein. «Glaubt Amelia etwa, sie sei verantwortlich für das alles? Wollten Sie deswegen mit mir reden?»

Karen starrte ihn verblüfft an. «Woher wussten Sie das?»

«Sie hatte auch so eine Vorahnung vor Collins Tod. Einmal erklärte sie Ina sogar, sie glaube, ihn ermordet zu haben. Dabei war sie hundertfünfzig Kilometer entfernt, als er ertrank.» George seufzte und fuhr sich mit der Hand durchs Haar. «Als Amelia mir heute am Telefon von ihrer Vorahnung erzählte – dass im Haus am See etwas Schreckliches passiert sei –, hatte ich den Eindruck, sie würde sich deswegen irgendwie schuldig fühlen. Und dann stellte sich heraus, dass ihre Vorahnung stimmte. Und als Sie dann heute Nachmittag verhindern wollten, dass die Polizei sie befragt, war mir alles klar.»

Er nippte noch einmal an seinem Wein und runzelte die Stirn. «Es ist schon verrückt. Gott sei Dank hat sie vor den Kindern nichts davon erwähnt. Sie sind doch ihre Therapeutin. Was meinen Sie – warum gibt sie sich die Schuld? Hat sie irgendwelche Schuldkomplexe aus ihrer Kindheit, oder was?»

«Ich bin mir nicht sicher, was bei Amelia dahintersteckt», gab Karen zu. «Aber Sie haben recht, ein Kindheitstrauma würde vieles erklären. Amelia hat kaum Erinnerungen an die Zeit vor ihrer Adoption durch die Faradays, und die hatten wohl Probleme, an Informationen über ihre leiblichen Eltern zu kommen.»

Er nickte. «In der Adoptionsagentur gab es einen Brand.»

«Wissen Sie, wo diese Agentur war?»

«Nur, dass es in Spokane war. Die Adoptionspapiere müssen ja irgendwo in Marks und Jennas Haus sein. Ich muss mit Amelia diese Woche sowieso dorthin, um verschiedene Dokumente einzusehen. Wenn Sie meinen, dass es helfen könnte, sehe ich mich mal nach diesen Unterlagen um.»

Karen nickte. «Das wäre nett. Die Papiere könnten Amelia sehr helfen.»

Er ließ sich auf den Schreibtischstuhl sinken. «Mein Gott, ich möchte nicht, dass sie von dieser Sache zwischen ihrem Onkel und ihrer Tante erfährt.» Er schüttelte langsam den Kopf. «Ich bin mir ziemlich sicher, dass es nur einmal passiert ist. Trotzdem dachte ich eine Weile, ich könnte Ina nie verzeihen. Dann sah ich sie heute Nacht tot auf dieser Bahre liegen, und auf einmal ist ihre dumme kleine Sünde ohne jede Bedeutung.» Seine müden Augen füllten sich mit Tränen. Er richtete sich auf und räusperte sich. «Tut mir leid, ich kenne Sie ja kaum. Ich wollte Sie nicht –»

«Schon gut», wehrte Karen seine Entschuldigung ab. «Als Therapeutin bin ich gewohnt, dass die Leute vor mir ihren Gefühlen freien Lauf lassen. Berufsrisiko.»

Er rieb sich die Stirn.

Karen bereute schon, was sie eben gesagt hatte. Es klang so dämlich. «Hören Sie, George, vielleicht hilft es Ihnen, wenn ich Ihnen jetzt sage, dass ich bereits mit Amelia über Ihre Frau und … und Mark gesprochen habe.»

Er nahm die Hand von der Stirn und starrte sie an. «Sie haben ihr … von der Affäre meiner Frau erzählt?»

«Ja, ich … ich musste Amelia klarmachen, dass ihr Vater – und nicht sie – für die Sache verantwortlich ist. Sie hatte keine Ahnung, in was für einer schwierigen Situation ihre Eltern waren.»

«Aber sie hätte es doch nicht erfahren müssen», meinte er. «Ich konnte die Polizei dazu überreden, die Angelegenheit nicht in den offiziellen Bericht aufzunehmen. Verstehen Sie? Amelia hätte es nicht wissen müssen.»

«O Gott, das tut mir wirklich leid», sagte Karen betroffen. «Aber ich hatte Angst, die Polizei würde es ihr unter die Nase reiben, und wollte nicht, dass sie es von denen erfährt. Falls es ein Trost für Sie ist: Amelia nahm die Neuigkeit recht gefasst auf und dankte mir sogar dafür, dass ich es ihr gesagt hatte.»

«Bitte erwarten Sie nicht, dass ich Ihnen auch danke», murmelte er.

«Ich sollte jetzt besser gehen», meinte Karen. «Nach allem, was Sie heute durchgemacht haben, wollte ich Sie bestimmt nicht verärgern. Tut mir leid.»

«Nein, gehen Sie nicht. Vergessen Sie’s. Ich bin einfach nur hundemüde», brummte er und trank seinen Wein aus.

Karen sagte nichts mehr. Sie fühlte sich schrecklich, versuchte aber, seine plötzliche Unfreundlichkeit nicht zu persönlich zu nehmen. Der arme Mann war erschöpft und seelisch schwer angeschlagen.

George stand mühsam auf. «Sind wir dann fertig?»

Karen erhob sich ebenfalls. «Eigentlich wollte ich Sie noch fragen, ob Sie sich an andere Vorahnungen Amelias erinnern können – und zwar bevor sie Collins Tod vorhergesehen hat. Gab es in ihrer Jugend irgendwelche Anzeichen für hellseherische Fähigkeiten?»

«Sie meinen so etwas wie außersinnliche Wahrnehmungen?» Er schüttelte den Kopf. «Nein, davon habe ich nichts gehört. Ich weiß nur, dass sie als Kind oft Albträume gehabt haben soll und dann diese verrückten Phantomschmerzen.»

Karen nickte. «Ja, davon habe ich schon gehört. Deswegen griff sie auch schon früh zur Flasche. Sie hatte Angst vor dem Schlafengehen, wegen der Albträume. Mit Alkohol fiel es ihr leichter, und den Schmerz betäubte er auch.»

Er schwenkte sein leeres Weinglas. «Im Augenblick klingt das fast schon verlockend.»

Karen blieb auf Distanz, als sie ihm zurück in die Küche folgte. Er füllte sein Glas nach und dann auch die Gläser von Karen und Jessie. Dann dankte er Jessie überschwänglich, als sie ihm einen Teller mit Essen anbot, und setzte sich an die Kopfseite des Frühstückstischs. Er nahm zwei Bissen und sagte: «Wow, ist das gut!» Doch plötzlich schien er Schluckschwierigkeiten zu haben.

Obwohl Karen ein ganzes Stück von ihm entfernt war – sie stand neben dem Herd –, sah sie die Tränen in Georges Augen.

«Entschuldigen Sie, ich kann jetzt nichts essen», schluchzte er. «Tut mir wirklich leid – wo Sie sich so viel Mühe gegeben haben …»

Jessie klopfte ihm auf die Schulter, zog einen Stuhl heran und setzte sich neben George. Dann legte sie ihre molligen Arme um ihn, während er sich an ihrer Schulter ausheulte. «Schon gut», flüsterte sie. «Machen Sie sich deswegen keine Gedanken.»

Karen beobachtete die beiden vom Herd aus. Sie hatte oft genug in bestimmten Situationen allein gegessen, um zu wissen, dass es schwer war, beim Weinen zu schlucken.