«Entschuldigen Sie, dass ich nicht früher angerufen habe», sprach Karen in ihr Handy, während sie in flottem Tempo die Boylston Avenue entlangging. Sie trug schwarze Jeans, einen grünen Pulli mit V-Ausschnitt und darüber einen Trenchcoat.
Bevor sie aus dem Haus gerannt war, hatte sie ihre sämtlichen Nachmittagstermine abgesagt. Es waren elf Häuserblocks bis zu ihrem Ziel, und Karen hatte es eilig. Die Boylston Avenue hatte sie gewählt, um die Menschenmengen und den Verkehrslärm an der Hauptverkehrsader, dem Broadway, zu meiden. Abgefallene Blätter bedeckten den Gehsteig, und Karen war bislang nur wenigen Fußgängern begegnet.
«Ich wollte Ihnen nicht aus dem Weg gehen, Detective», erklärte sie. «Die letzten paar Stunden habe ich ununterbrochen herumtelefoniert und versucht herauszufinden, wo Amelia sich aufhalten könnte. Ich hätte Ihnen wahrscheinlich schon heute Morgen sagen sollen, dass Amelia die Nacht über bei mir war.»
«Ist das Ihr Ernst?», sagte Jacqueline Peyton entsetzt. «Sie wussten doch, dass wir Amelia sprechen wollten. Warum haben Sie sie davon abgehalten?»
Karen zögerte. Sie wollte nichts sagen, was Amelia oder sie selbst belasten konnte. Sie wollte im Grunde überhaupt nicht mit der Polizei reden. Aber wenn es irgendwo eine andere Amelia gab, die Menschenleben in Gefahr brachte, musste die Polizei es wissen. Zugleich war die Amelia, die sie kannte, wahrscheinlich verängstigt und verwirrt und hielt sich irgendwo versteckt, vielleicht im Haus am See. Und Karen wollte nicht, dass ihr etwas zustieß.
Beim Verlassen des Hauses hatte sie den Revolver ihres Vaters in ihre Handtasche gesteckt, ohne selbst recht zu wissen, gegen wen sie sich damit verteidigen wollte.
«Tut mir leid», sagte sie schließlich, «aber als Amelias Therapeutin bin ich in erster Linie ihr verpflichtet. Sie ist eine sehr liebe, sehr verwirrte junge Frau –»
«Hat sie Koehler am Sonntag getroffen?», unterbrach die Polizistin sie.
«Das weiß ich nicht», erwiderte Karen und beschleunigte ihren Schritt. «Ich darf nichts sagen, was sie mir anvertraut hat –»
«Damit kommen Sie vor Gericht nicht durch.»
«Kann schon sein, aber ich bleibe trotzdem dabei. Möchten Sie jetzt wissen, was ich Ihnen erzählen kann?»
«Schießen Sie los.»
«Amelia war gestern Nacht in meinem Haus. Nachdem Sie mich heute Morgen angerufen hatten, sah ich nach ihr, und sie war weg. Mit meinem Wagen und etwa sechzig Dollar. Ein schwarzer VW Jetta, Baujahr 1999, Kennzeichen EMK903. Haben Sie das notiert?»
«Schwarzer Jetta, Washingtoner Kennzeichen EMK903.»
«Weder Amelias Onkel noch ihr Freund oder ihre Mitbewohnerin wissen, wo sie sich aufhält», fuhr Karen fort. «Sie ist nicht im Haus ihrer Eltern in Bellingham; das haben wir – ihr Onkel und ich – überprüfen lassen. Amelia würde nie absichtlich jemandem wehtun. Aber sie könnte jemanden dabeihaben, bei dem das anders aussieht. Er heißt Blade und ist Mitte zwanzig, hat schwarzgefärbtes Haar und trägt meist Sonnenbrille. Fährt wahrscheinlich einen schwarzen Cadillac mit verbogener Antenne. Mehr weiß ich nicht über ihn.»
«Und wo sind Sie jetzt? Zu Hause?»
«Nein.» Einen halben Block vor sich sah sie die grüne Reklametafel einer Autovermietung auf dem Gehsteig.
«Wir müssen noch persönlich mit Ihnen sprechen, Karen, vielleicht am besten in Gegenwart Ihres Anwalts.»
«Ja, das habe ich schon befürchtet», murmelte sie ins Telefon und beendete das Gespräch.
Während man ihren Kompaktwagen fertig machte, ging Karen auf die Toilette. Vor dem schmutzigen weißen Waschbecken holte sie erneut ihr Handy hervor.
«Pflegeheim Sandpoint View», meldete sich Roseann.
«Hallo, Ro, hier Karen. Wollte nur nochmal nach Dad fragen.»
«Dem geht’s gut; er hat einen seiner besseren Tage. Und das Mädchen ist noch nicht hier aufgetaucht.»
«Sehr gut», sagte Karen erleichtert. «Könnte sein, dass du mich später nicht mehr erreichst. Falls du sie doch noch siehst, ruf folgende Nummer an. Hast du was zu schreiben?»
«Gleich … Schieß los.»
«555 - 9225, Detective Jacqueline Peyton. Sag ihr, du wärst eine Freundin von mir und hättest Amelia Faraday gefunden.»
«555 - 9225. Ich … Freundin von dir, Amelia Faraday gefunden.»
«Detective Peyton weiß dann schon, was sie zu tun hat.»
«Kannst du mir nicht verraten, was das alles soll?»
«Geht im Moment nicht, aber später ganz bestimmt, Ro.»
«Du klingst, als müsstest du schnell irgendwohin.»
«Ja, ich muss gleich weg», bestätigte Karen.
«Ich bin gerade im Aufenthaltsraum, und Frank ist auch hier. Willst du kurz mit ihm reden? Wie ich schon sagte, er hat einen seiner besseren Tage.»
«O ja, danke, Ro. Gib ihn mir.» Nach kurzem Warten hörte sie leises Gemurmel am anderen Ende.
«Hallo, Karen», brachte Frank schließlich heraus.
«Hallo, Papa, wie geht’s?»
«Gut. Und wie geht’s meinem Mädchen?»
«Mir geht’s auch gut», log sie. Ihre Stimme brach sogar ein wenig, weil dies einer der wenigen Momente war, in denen sie das Gefühl hatte, wieder mit ihrem Vater zu sprechen. Ein Teil von ihr wollte einfach nur sagen: Papa, ich stecke in Schwierigkeiten. Stattdessen räusperte sie sich. «Ich denke, ich komme morgen vorbei.»
«Ich bin jedenfalls da. Bringst du Rufus mit?»
«Sicher. Du klingst gut, Papa.»
«Heute Abend gibt’s Schinken zu essen. Sie haben einen guten Schinken hier.»
«Lass es dir schmecken. Dann komme ich also morgen, ja?»
«Gut, Liebes. Pass auf dich auf.»
Dann hörte sie ihn mit Roseann sprechen. «Das war meine Tochter Karen. Wie legt man dieses Ding da auf? Oh … verstehe …» Es klickte in der Leitung.
«Tschüs, Papa», sagte sie ins Nichts.
«Warum möchten Sie Erin sprechen?», fragte die Frau am Telefon.
Im Telefonbuch von Salem gab es fünf Gottliebs, und dies war die dritte Nummer, bei der George es versuchte – diesmal mit Erfolg. Es war Erins Mutter, M. Gottlieb.
«Ich brauche eine Information über Annabelle Schlessinger», erklärte George, der in seinem vor der Bibliothek geparkten Auto saß. «Wenn ich richtig informiert bin, war Erin mit ihr befreundet.»
Am anderen Ende wurde es still. «Mrs. Gottlieb?»
«Wie gut kannten Sie Annabelle?», fragte sie schließlich.
«Gar nicht», gestand George. «Deshalb wollte ich ja mit Erin reden. Ich betreibe Nachforschungen über meinen Familienstammbaum, im Rahmen einer Magisterarbeit. Es sieht so aus, als könnte ich mit Annabelle verwandt sein, und ich hoffte, Erin könnte mir ein wenig über die Schlessingers erzählen.»
«Ich bezweifle, dass sie Ihnen viel erzählen könnte. Erin und Annabelle waren nicht sehr lange befreundet.»
«Für mich wäre alles nützlich, Mrs. Gottlieb.»
«Ich denke, Sie können sie bei der Arbeit anrufen.»
Erin arbeitete in einem Hundesalon in einem Einkaufszentrum unweit der Willamette University. George hoffte, unter vier Augen mehr aus Erin herauszubekommen.
Offenbar erwartete Erin ihn bereits. Als er am Empfang erklärte, er suche nach Erin, kam hinter dem Schreibtisch eine schwergewichtige, zu Tode gelangweilt wirkende junge Frau hervor, um ihn nach hinten zu begleiten. Sie öffnete eine Tür, die offenkundig schalldicht war, denn das plötzliche Gebell und Gejaule ließ ihn zusammenzucken. Sie führte ihn zu einer Nische, wo zwei Dutzend kleinere und mittelgroße Hunde in übereinandergestapelten Käfigen kläfften.
«He, Erin», schrie sie, um den Lärm zu übertönen. «Du hast Besuch.» Dann schleppte sie sich wieder nach vorne.
Erin war dünn und hatte glattes dunkelblondes Haar, eine Brille und ein Nasenpiercing. Sie stand an einem langen Edelstahlwaschbecken und wusch gerade einen leicht überdrehten Jack-Russell-Terrier. Über Pullover und Jeans, beide schwarz, trug sie eine dunkelblaue Arbeitsschürze. Statt die Hand zu geben, nickte sie ihm zu. Sie hatte gelbe Gummihandschuhe an und duschte den eingeseiften Hund gerade ab.
«Hallo, ich heiße George», stellte er sich vor. «Tut mir leid, wenn ich Sie bei der Arbeit störe.»
«Schon gut, meine Mama hat mich vorgewarnt», erwiderte Erin mit einem schiefen Grinsen. Sie musste laut reden, um sich in dem Gebell verständlich zu machen. «Bei ihr läuteten wahrscheinlich die Alarmglocken, als Sie meinten, Sie wären mit Annabelle verwandt. Mama fand immer, dass sie einen schlechten Einfluss auf mich ausgeübt hat. Was wollen Sie wissen?»
«Nun, ich habe den Artikel im Statesman Journal über den Brand gelesen und auch, was Sie über Annabelle sagten.» George lehnte sich ans trockene Ende des langen Waschbeckens. «Das war ein interessantes Zitat, sehr poetisch …»
«Ach, das mit der Naturgewalt», lachte sie. «Meine anderen Freundinnen haben mich deswegen ziemlich fertiggemacht, aber mir fiel einfach nichts Nettes ein. Schon Wochen vor dem Brand gingen Annabelle und ich einander aus dem Weg, aber ich kannte sie vermutlich besser als jede andere, und so musste ich diesem blöden Reporter wohl oder übel etwas hinwerfen.»
«Ihre Mutter deutete an, dass Sie nicht allzu lange befreundet waren?»
Sie wusch den Hund unter dem Schwanz und nickte. «Ja, sie war einfach zu anhänglich und besitzergreifend. Soll ich ganz ehrlich sein? Ich meine, Sie kannten sie doch gar nicht und wollen doch sicher nicht, dass ich Ihnen Lügen auftische?»
«Nein, ich schätze Ihre Offenheit wirklich sehr.»
«Also, das war schon witzig. Alle Jungs waren geil auf Annabelle, weil sie gut aussah und große Titten hatte. Dabei nutzte sie sie nur aus. Ich merkte schnell, dass sie ein ganz berechnendes Luder war – und verrückt noch dazu.»
«Wie meinen Sie das?»
«Ich schätze, das hatte mit ihrer klettenhaften Art zu tun. Sie wollte, dass wir für uns eine eigene Geheimsprache entwickelten, damit niemand sonst uns verstehen konnte, nicht schriftlich und nicht mündlich. Sie wollte sogar, dass wir uns in der Schule genau gleich anziehen. Verrückt, oder? Und dann behauptete sie auch noch, sie sei telepathisch begabt und könne meine Gedanken lesen. Ich lachte sie aus, und sie wurde echt wütend. Das war wohl der Anfang vom Ende von uns beiden.»
Sie hob den Terrier auf und setzte ihn im Waschbecken ein Stück weiter nach hinten. «Halten Sie besser Abstand», meinte sie.
George aber hörte sie nicht bei all dem Gebell und Gejaule. Er dachte über die identische Kleidung, die Geheimsprache und die Telepathie nach. Hoffte Annabelle, Erin könnte ihre verlorene Zwillingsschwester ersetzen?
«He», rief Erin laut. «Wenn Sie nicht nass werden wollen, treten Sie besser zurück. Er schüttelt sich gleich.»
George zog sich zu den Käfigen zurück und schaute zu, wie sich der Hund das Wasser aus dem Fell schüttelte. Erin begann, ihn mit einem Handtuch abzutrocknen.
«Hat Annabelle Ihnen gegenüber je erwähnt, dass sie eine Zwillingsschwester hatte?», fragte George.
«O ja, Andrea. Sie war angeblich mit vier von einem perversen Nachbarn entführt, vergewaltigt und ermordet worden. Ganz schön gruselig und tragisch, was? Und dann erfuhr ich etwas von einer anderen Klassenkameradin, Deborah Wothers. Annabelle suchte eine Zeitlang ihre Freundschaft, weil jeder Deborah mochte, aber die war schlau genug, sich gar nicht erst auf sie einzulassen. Jedenfalls erzählte sie Deborah, ihre Zwillingsschwester Alicia sei ausgerutscht, in die Badewanne gefallen und ertrunken oder irgend so einen Stuss. Und jetzt sagen Sie, dass sie tatsächlich eine Zwillingsschwester hatte?»
George nickte nur. Auch wenn ihm natürlich klar war, dass beide Geschichten frei erfunden waren, fragte er sich, ob in der Entführungsversion nicht vielleicht doch ein Fünkchen Wahrheit stecken könnte.
Erin hatte den Hund fertig abgetrocknet und schaute George an. «Und wie ist diese Schwester wirklich gestorben?»
«Gar nicht. Sie lebt und heißt Amelia», erklärte er. «Die Schlessingers gaben sie zur Adoption frei, als sie vier war. Den Grund versuche ich gerade herauszufinden. Amelia weiß nichts über ihre leiblichen Verwandten. Ich hoffe deshalb, dass Sie ein paar Lücken schließen können, Erin. Sprach Annabelle je von ihrer Mutter?»
Erin schüttelte verblüfft den Kopf.
«Sie wissen also gar nichts über sie?», hakte er nach.
«Na ja, sie hat sich wohl umgebracht, als Annabelle noch ganz jung war, im Keller aufgehängt oder so. Annabelle soll sie gefunden haben. Ich hatte aber nie den Mut, sie nach Einzelheiten zu fragen.»
Sie zuckte mit den Schultern. «Ich sah ihn in der Kirche.»
«Nie in Annabelles Haus?»
«Da war ich nie. Auch sonst keine aus der Klasse, schätze ich.» Sie wickelte das Handtuch um den Hund, trug ihn zu einem Käfig und setzte ihn hinein. Mit einem Seufzer zog sie die Handschuhe aus. «Ich jedenfalls war nie da», wiederholte sie. «Annabelle kam immer zu mir. Sie hasste es, in dieser Ranch mitten in der Pampa zu wohnen.»
«Hat Annabelle je von ihrem Onkel Duane erzählt?»
Erin holte einen Müsliriegel aus ihrer Jeanstasche, öffnete ihn und steckte ihn in den Mund. «Nö, tut mir leid.»
Dann zog sie wieder ihre Arbeitshandschuhe an, öffnete einen weiteren Käfig und holte einen winzigen Schnauzer heraus. «Na komm, Badezeit, du räudiger Köter», murmelte sie und wandte sich dann abrupt wieder George zu. «Wissen Sie, mit wem Sie reden sollten? Mit Mrs. Caroline Cadwell, unserer Klassenlehrerin. Sie war praktisch mit der Familie befreundet und kannte wohl auch Mrs. Schlessinger. Die könnte Ihnen mehr erzählen.»
«Caroline Cadwell», wiederholte George. Sie war ebenso wie Erin im Zeitungsartikel über den Brand erwähnt worden.
Erin strich dem Hund über den Kopf und drehte sich noch einmal zu George um. «Was die Schlessingers angeht, weiß Mrs. Cadwell mehr als jeder andere, und sie hat mehr gesehen als jeder andere. Die kann Ihnen auch vom Brand erzählen.»
«Tatsächlich?»
«Mit Sicherheit», erwiderte Erin und nickte. «Mrs. Cadwell hat die Leichen identifiziert.»
Es war 20.50 Uhr, noch hell und ziemlich heiß, aber sie spürte eine sanfte, kühle Abendbrise an den nackten Beinen.
Die achtzehnjährige Sandra Hartman ging über das verlassene Baseballfeld. Ihr schulterlanges schwarzes Haar war frisch gewaschen, und sie trug eine blaue Bluse, Khakishorts und Sandalen. Misstrauisch beäugte sie die leeren Ränge. Das Stadion machte ihr nicht nur bei Nacht Angst, sondern selbst wenn es noch nicht ganz dunkel war.
Sie wollte sich mit Freundinnen in der Lancaster Mall treffen, um sich ausgerechnet Voll auf die Nüsse anzusehen – und das nur, weil ein paar Jungs, die sie kannte, auch hin wollten.
Sandra wohnte acht Häuserblocks vom Einkaufszentrum entfernt, und die Umgebung hier war nicht gerade sehr fußgängerfreundlich. Normalerweise wäre sie gefahren, aber ihre Eltern mussten mit dem Auto zu einem Geschäftsessen. Als sie gesagt hatte, sie wolle ins Kino, hatte ihr Vater darauf bestanden, dass sie entweder mit einer Freundin fuhr oder zu Hause blieb.
Die Aufregung über das Verschwinden Gina Fernettis zehn Tage zuvor war noch nicht abgeklungen, nachdem der Fall in Presse und Fernsehen breitgetreten worden war. Regina Marie Fernetti, eine zwanzigjährige Journalistikstudentin an der University of Colorado, war für die Sommerferien nach Hause gekommen und an einem belebten Samstagnachmittag mit zwei Freundinnen ins Schwimmbad gefahren. Gina hatte am Steuer gesessen. Sie hatten gerade ihre Decken ausgelegt, als Gina sagte, sie wolle schnell noch für ihren Walkman eine Kassette aus dem Wagen holen. Sie ließ Geldbeutel und Decke zurück und ging mit den Autoschlüsseln zum Parkplatz. Als sie nach fünfzehn Minuten noch nicht zurück war, suchten ihre Freundinnen auf dem Parkplatz nach ihr. Ginas Wagen war noch da und verschlossen. Dann suchten sie das Schwimmbad ab und ließen sie über die Lautsprecher ausrufen. Die Bademeister schickten sogar alle aus dem Becken, um sicherzustellen, dass Gina die Durchsage nicht überhörte. Dann riefen Ginas Freundinnen Mr. und Mrs. Fernetti an und die wiederum die Polizei. Seit jenem Tag hatte keiner mehr Gina Fernetti gesehen. Sie war wie vom Erdboden verschluckt.
Deshalb war Sandras Vater erheblich besorgter als gewöhnlich. Seinetwillen hatte Sandra in letzter Minute auch versucht, eine Mitfahrgelegenheit zu bekommen – aber vergebens; der Wagen war bereits voll gewesen. Sandra hoffte, später mit einem der Jungs zurückfahren zu können; dann würde ihr Vater nicht einmal erfahren, dass sie allein zu Fuß gegangen war.
Ihr blieben zwanzig Minuten bis zum Beginn des Films, und sie schätzte, in zehn Minuten da zu sein. Die Straßenbeleuchtung schaltete sich ein, als Sandra den Baseballplatz überquerte. Sie schlüpfte durch eine Öffnung im Zaun und setzte ihren Weg durch ein Wohngebiet fort. Kein Mensch war auf der Straße. Es war gespenstisch und irgendwie beunruhigend, gerade an einem derart warmen Abend. Hockten die Leute nach der Sache mit Gina jetzt alle hinter verschlossenen Türen zu Hause?
Sandra beschleunigte ihren Schritt, stutzte dann aber, als ein Schatten vor ihr auftauchte. Dann begriff sie, dass ein Auto mit eingeschaltetem Licht hinter ihr fahren musste. Ein Blick über die Schulter verriet ihr, dass es ein silberfarbenes SUV war.
Seltsam. Fünf Minuten zuvor hatte sie schon einmal ein silbernes SUV auf sich zufahren gesehen, bevor sie das Baseballfeld überquert hatte. War das hier dasselbe Fahrzeug?
Der Wagen bremste ab und blieb vor ihr stehen.
«Scheiße», murmelte Sandra beunruhigt. Sie überquerte rasch die Straße und marschierte weiter, langsam gefolgt vom SUV. Sie schritt so schnell sie konnte, ohne in den Laufschritt überzugehen. Solange sie tat, als bemerke sie das Auto nicht, würden die hinter ihr nicht wissen, dass sie Angst hatte, und sie nicht jagen – jedenfalls nicht gleich. Vielleicht konnte sie so Zeit schinden. Aber womöglich machte sie sich ganz unnötig Sorgen. Als ob jemand so etwas wagen würde – mitten in einem Wohngebiet, wo die Leute ihre Schreie hören würden? Außerdem war es – Gott sei Dank! – noch nicht ganz dunkel.
Andererseits hatte das Tageslicht Gina Fernetti auch nicht geholfen. Sie war mitten an einem sonnigen Nachmittag verschwunden, und niemand hatte sie schreien gehört.
Das silberne SUV bewegte sich im selben Tempo wie sie die Straße entlang. Sandras Magen verkrampfte sich. Konnte das eine Freundin von ihr sein, die ihr einen Streich spielen wollte? Lustig war das nicht. Links von ihr sah Sandra ein zweistöckiges weißes Haus mit einem Auto in der Einfahrt und Licht in den Fenstern. Sie überlegte, ob sie an die Tür hämmern sollte.
Sie warf einen beiläufigen Blick auf das silberne SUV, als das Fahrerfenster heruntergekurbelt wurde. «He, Sandra, soll ich dich mitnehmen?»
Sandra brauchte ein paar Sekunden, um die Fahrerin zu erkennen. Sie stieß ein kraftloses Lachen aus. «Mein Gott, hast du mich erschreckt.»
«Tut mir leid», sagte das Mädchen hinter dem Lenkrad lächelnd. «Ich war mir nicht ganz sicher, ob du das bist. Ich fahre zum Einkaufszentrum. Willst du mit?»
Sandra zögerte. Wenn sie die Mitfahrgelegenheit annähme, würde sie sich verpflichtet fühlen, dieses Mädchen ins Kino einzuladen. Aber sie mochte es nicht sonderlich. Sie kannte es ja kaum. Es war zwei Schuljahre unter ihr. Seltsam, wie das Mädchen ihr zugerufen hatte, als wären sie gute Freundinnen. Außer in der Schulcafeteria vor zwei Monaten hatten sie nie miteinander gesprochen. Die Jüngere hatte Sandra beim Mittagessen angesprochen.
«Du musst Sandra Hartman sein», hatte sie gesagt. «Du glaubst gar nicht, wie viele Leute mich mit dir verwechseln.»
«Tatsächlich?», hatte Sandra verblüfft erwidert.
«Ja, und jetzt verstehe ich auch, wieso. Wir sehen fast aus wie Zwillinge.»
«Schon möglich. War nett, dich kennenzulernen», hatte Sandra gesagt und sich abgewandt, zumal ihre Freundinnen am Tisch bereits über sie Scherze machten. «Wer zum Teufel war das denn?», flüsterte Sandra, und eine Freundin klärte sie auf.
Das war das einzige Mal gewesen, dass sie mit Annabelle Schlessinger gesprochen hatte.
«Sandra, willst du zum Einkaufszentrum?», fragte Annabelle noch einmal.
Sie rang sich ein Lächeln ab und nickte. Ihr Vater hatte wohl recht. Nach Gina Fernettis Verschwinden war es nicht ratsam, allein bei Nacht herumzulaufen. Sie sollte besser die restliche Strecke fahren. Was machte es schon, wenn Annabelle am Ende mit ihr ins Kino ging? Es gab keinen Grund, ihr gegenüber herablassend zu sein. Als Sandra näher an das Fahrzeug herantrat und Annabelle in die Augen schaute, fiel ihr tatsächlich eine Ähnlichkeit zwischen ihnen beiden auf.
«Ich will mir mit ein paar Freundinnen Voll auf die Nüsse ansehen. Kommst du mit?»
Annabelle starrte sie blinzelnd und mit offenem Mund an. Tränen traten ihr in die Augen.
«Was ist denn los?», fragte Sandra.
«Ich … ich käme wahnsinnig gern mit», murmelte Annabelle, räusperte sich und streckte hinter dem Lenkrad den Rücken durch. «Geht aber leider nicht», fügte sie beherrschter hinzu und blickte auf die Straße vor ihr. «Ich muss im Einkaufszentrum für meinen Vater etwas erledigen. Los, steig schon ein.»
Sandra ging vorn um den Wagen herum, leicht erstaunt über Annabelles Reaktion auf eine so beiläufige Einladung. Aber für sie lief alles zum Besten: Sie wurde zum Einkaufszentrum gefahren, ohne damit irgendeine Verpflichtung einzugehen, und musste nicht den Abend mit Annabelle im Schlepptau verbringen.
«Oh, du hast die Klimaanlage an», meinte Sandra beim Einsteigen. «Fühlt sich himmlisch an.»
Annabelle fuhr schweigend, aber extrem langsam los. «Hast du Angst, wegen Geschwindigkeitsüberschreitung erwischt zu werden?», fragte Sandra.
Annabelle antwortete nicht. Im Schneckentempo rollte das SUV am letzten Häuserblock vorbei und auf einen Wendeplatz an einem Waldstück zu. Plötzlich gingen Scheinwerfer und Innenbeleuchtung aus, und sie saßen im Dunkeln. «Was soll das?», fragte Sandra.
Der Wagen hielt an. Annabelle hatte die Hände am Lenkrad, ohne sie anzusehen. Stattdessen schaute sie in den Rückspiegel. «Tut mir leid, Sandra», murmelte sie teilnahmslos. «Ich nehme an, du kennst meinen Vater noch nicht.»
«Was?» Sandra sah im Rückspiegel eine schattenhafte Gestalt wie aus dem Nichts auftauchen. Sie erschrak.
Er packte ihr Haar und riss so schnell ihren Kopf zurück, dass sie sich nicht wehren konnte. Dann drückte er ihr ein nasses Tuch auf den Mund, das offenbar mit einer Chemikalie getränkt war, denn es brannte auf der Haut. Sandras Augen wurden wässrig. Sie versuchte, nicht einzuatmen, und griff verzweifelt nach seiner Hand.
Doch er ließ nicht locker. Als sie unwillkürlich nach Luft schnappte, wurde ihr klar, dass es zu spät war. Sandra hatte dieses Gefühl noch nie gehabt. Sie wurde nicht ohnmächtig und schlief auch nicht ein – nein, das hier war etwas anderes.
Sandra Hartman hatte das Gefühl zu sterben.
«Nein, keine Spur von Amelia», erklärte Jessie am Telefon. Vor ihr auf dem Küchentisch der McMillans lag ein Stapel Wäsche, noch warm vom Trockner. «Auch keine Anrufe, außer von Karen, die sich vor einer halben Stunde nach mir erkundigt hat.»
George bedankte sich. «Jody müsste in einer halben Stunde aus der Schule kommen. Könnten Sie ihn mitnehmen, wenn Sie Steffie von der Tagesstätte abholen?»
«Klar, das haben Sie mich doch heute Morgen schon gefragt. Aber jetzt sage ich Ihnen was: Ihre Putzfrau ist keinen Schuss Pulver wert. Hinter dem Sofa und unter den Kissen fand ich jede Menge Staub, drei alte Pommes, eine Haarspange, etwas Popcorn und siebenundvierzig Cent.»
«Die Haarspange können Sie behalten, aber das Geld will ich. Sonst alles in Ordnung?»
«Bestens», versicherte ihm Jessie. «Ich falte gerade Wäsche, und dann bringe ich den Müll raus. Spannend, was?»
«Ich melde mich später wieder, Jess.»
Sie legte das Telefon auf und faltete die Wäsche fertig. Dann holte sie die Recyclingtonne aus der Vorratskammer und trug sie zur Küchentür hinaus. Sie schleppte sie an den Rand der Einfahrt und setzte sie stöhnend am Bordstein ab.
Jessie warf einen Blick auf die Straße und sah vier Häuser weiter einen schwarzen Wagen auf der gegenüberliegenden Straßenseite stehen – aber nicht Karens Jetta. Und nur nach dem sollte sie Ausschau halten.
Das war nur ein verbeulter alter Cadillac.
Mit einem Seufzer ging Jessie zum Haus zurück.