«Heilige Scheiße, ich glaub, ich hab was gefunden», rief der Hilfssheriff. Er hörte auf zu graben und starrte ins Loch.
George war es nicht allzu schwer gefallen, Tyler zu überreden, mit ihm zur Schlessinger-Ranch zu fahren. Der Hilfssheriff war in der Highschool in Sandra Hartman verliebt gewesen, und ihr plötzliches Verschwinden hatte ihn so bestürzt, dass er eine Zeitlang an nichts anderes mehr hatte denken können. Auch war sein Hass auf seine Chefin nicht zu übersehen. Für den Fall, dass sie eine Leiche fanden, konnte Tyler sagen, er habe Verdacht geschöpft und sei George außer Dienst zur Ranch gefolgt. Dann würde Frau Sheriff ziemlich dumm dastehen.
Tyler hatte eine Taschenlampe im Auto, die sie so auf einen Baumstumpf gelegt hatten, dass sie in Richtung der Wildblumen strahlte. Dann hatten sie sich für eine Stelle entschieden und zu graben begonnen, George mit dem Pickel und Tyler mit der Schaufel. Letzterer hatte dabei ständig über seine Chefin hergezogen. Sie waren kaum tiefer als einen halben Meter, als Tyler die Knochen fand.
George holte die Taschenlampe vom Baumstumpf und leuchtete in die Grube. Lon musste sich bei der Entsorgung seiner Opfer sehr sicher gefühlt haben, dachte er, denn das Grab war viel zu flach.
Und die Knochen waren viel zu klein.
«Eine verdammte Katze», brummelte Tyler, stützte sich auf die Schaufel und schaute auf die anderen Stellen, wo Wildblumen wuchsen. «Sie hatten recht mit Ihrer Theorie, dass die hübschen Blümchen auf ein Grab hindeuten, aber das hier ist ein Katzenfriedhof. Hier auf dem Land haben die Leute oft Unmengen von Katzen, um Mäuse und Ratten zu bekämpfen.»
«Versuchen wir’s noch an einer anderen Stelle», schlug George vor, legte die Lampe wieder auf den Baumstumpf und griff sich den Pickel. «Ich meine, wenn es wieder eine Katze ist, dauert es ja nicht lange.»
«Ich denke, wir verschwenden hier nur unsere Zeit», erklärte der Hilfssheriff. «Und ich möchte heute Abend nicht American Idol verpassen.»
«Nur noch fünfzehn Minuten», bat George eindringlich und schwang an einer anderen mit Wildblumen bewachsenen Stelle den Pickel. «Stellen Sie sich vor, Sie können Sandra Hartmans Verschwinden mit aufklären. Wie war sie eigentlich so?»
Sie gruben zwanzig Minuten lang, während Tyler von Sandra schwärmte. Dann klingelte Georges Handy – ein Anruf von zu Hause, wie die Nummer auf dem Display anzeigte. Er legte den Pickel weg und schaltete ein. «Jessie, sind Sie’s?»
«Ja. Hallo, George.»
Er hörte sofort, dass etwas nicht stimmte. «Was ist los?», fragte er argwöhnisch.
«Ach wissen Sie, meine Schwester ist plötzlich sehr krank geworden, und ich muss ganz schnell zu ihr. Sie lebt in Denver. Wann können Sie hier sein?»
«Also das dauert mindestens zweieinhalb Stunden. Jessie, das mit Ihrer Schwester tut mir wirklich leid –»
«Und dann hatten wir noch einen kleinen Notfall hier in der Familie», erklärte sie steif. «Steffie hatte einen Asthmaanfall. Ich habe den Arzt gerufen. Es geht ihr wieder gut. Sie ruht sich aus, fragt aber ständig nach ihrem Daddy.»
Aus Jessies Tonfall hörte er heraus, dass es weitaus ernster sein musste, als sie zugab.
«Wenn es noch etwas Schlimmeres ist, Jessie, dann sagen Sie es mir bitte. Ich möchte es lieber gleich erfahren.»
«Ist es nicht, aber Sie müssen schnell nach Hause kommen.»
«Könnten Sie mir Steffie ans Telefon holen? Ich würde gern mit ihr reden.»
«Das geht nicht, George. Wie ich schon sagte, ruht sie sich aus. Kommen Sie einfach so schnell Sie können, okay?»
«Mache ich, Jessie. Ich fahre gleich los.»
«Passen Sie auf sich auf», sagte sie noch, und dann war die Leitung tot.
«Ich muss weg», murmelte George. «Notfall in der Familie in Seattle, meine Tochter braucht mich.»
Tyler stützte sich auf seine Schaufel. «Und wie kommen Sie dahin zurück?»
George rang schulterzuckend die schmutzigen Hände. «Um hierherzukommen, bin ich nach Portland geflogen, und dann habe ich ein Auto gemietet.»
«Schneller geht’s, wenn Sie hier in Salem eine Chartermaschine nehmen», schlug Tyler vor. «Dann sind Sie ruck, zuck zu Hause. Der Flugplatz ist nicht weit von hier. Soll ich vorausfahren?»
George zögerte. «Danke, aber könnten Sie mir stattdessen den Weg beschreiben?» Er schaute zu dem Krater hinunter, den sie gegraben hatten.
Der Hilfssheriff warf ihm einen skeptischen Blick zu und lachte dann. «Heilige Scheiße, Sie wollen, dass ich weitergrabe?»
«Nur noch zehn Minuten, bitte», flehte George. «Wenn hier eine Katze läge, hätten wir sie längst gefunden. Hier muss was anderes sein.»
Nach kurzem Nachdenken nickte Tyler. «Okay, ich bleibe dran», seufzte er. «Und jetzt erkläre ich Ihnen, wie man von hier zum Flugplatz kommt.»
Der Mann mit der Sonnenbrille nahm Jessie den Hörer aus der Hand und legte auf.
«Gut gemacht», sagte er mit einem höhnischen Grinsen. Er hatte ihr das Telefon hingestreckt und sich gleichzeitig das zweite, schnurlose Gerät ans Ohr gehalten. Nun schaltete er das zweite Telefon aus und legte es auf die Küchenarbeitsplatte.
Zuvor hatte der Eindringling Jody gezwungen, Jessie an einen Küchenstuhl zu fesseln und ihr die Handgelenke mit Klebeband zusammenzubinden. Da er Jodys kleine Schwester in seiner Gewalt hatte, war der Elfjährige dazu nur allzu bereit gewesen.
«Sehr schön», hatte der Mann Jody gelobt, die eine Hand über Steffies Mund, die andere mit der Waffe an ihrem Kopf. «Und jetzt wickelst du der fetten Kuh das Band um den Bauch und um die Stuhllehne. Und zwar schön straff. Auch wenn du ein paar Meter brauchst, um da rumzukommen …»
Jody warf ihm einen empörten Blick zu und zögerte.
«Tu, was er sagt, mein Lieber», flüsterte Jessie. Sie hatte Angst, Steffie könnte jeden Augenblick einen Asthmaanfall bekommen. Die Kleine zitterte und weinte still vor sich hin, während der Eindringling sie mit dem Waffenlauf am Ohrläppchen kitzelte.
Hilflos musste Jessie zusehen, wie er Jody zwang, das Band um ihre Fußknöchel und die vorderen Stuhlbeine zu wickeln. Er überprüfte Jodys Arbeit und zog an jeder Klebestelle.
Dann brachte er die Kinder auf ihre Zimmer. Jessie zuckte zusammen, als er Jody schreiend erklärte, wie er seine Schwester fesseln sollte, während Steffie vor sich hin wimmerte und Jody ihr zuredete, tapfer zu sein. Jessie betete darum, nicht gleich einen Schuss zu hören.
«Gut so, kleb ihr das Band über den Mund», sagte der Mann, und Jessie hörte Steffies gedämpftes Wimmern.
«So, und jetzt bist du an der Reihe», knurrte der Mann Jody an. «Zeig mir dein Zimmer!»
Die nächsten paar Minuten herrschte Totenstille, bis Jody einen lauten Schrei ausstieß, der Jessie einen Stich ins Herz versetzte. «Was tun Sie ihm an?», schrie sie.
Sie wartete ängstlich auf das nächste Geräusch und hörte schließlich Jodys ersticktes Stöhnen. Zumindest war er noch am Leben.
«Es gibt doch keinen Grund, den Kindern etwas anzutun!», rief sie. «Wir halten Sie doch nicht auf! Nehmen Sie sich einfach, was Sie wollen, und gehen Sie dann!»
Ein paar lange Sekunden vergingen, bis der junge Mann mit dem Schnurlostelefon aus Georges Arbeitszimmer wieder in die Küche kam. «So schnell werdet ihr mich nicht los», verkündete er. «Wir warten hier alle zusammen, bis ihr Daddy heimkommt.»
Dann hatte er sie gezwungen, George anzurufen.
Jessie verstand nicht, warum er wollte, dass George nach Hause kam. Doch allmählich wurde ihr klar, dass dies kein gewöhnlicher Einbruch war. Nein, das hier war viel schlimmer.
Sie starrte zu dem bleichen jungen Mann mit dem pechschwarzen Haar hoch und wünschte, sie könnte seine Augen hinter der Sonnenbrille sehen. «Wie heißen Sie eigentlich?», fragte sie.
Er antwortete nicht, schien sie aber hinter der dunklen Brille genau zu mustern.
«Sie haben doch gehört, wie George gesagt hat, dass er nicht vor zweieinhalb Stunden hier sein kann», fuhr Jessie fort. «Da wir so lange miteinander auskommen müssen, möchte ich Sie wenigstens beim Namen nennen können, egal bei welchem. Also, wie soll ich Sie nennen?»
«Nennen Sie mich Eure Majestät.»
«Also gut, Eure Majestät, Glückwunsch zu Ihren Klamotten. Toller Anzug. Der beweist, dass Sie ein ernsthafter Mensch sind und viel Selbstachtung haben. Ich denke auch, Sie sind mitfühlend genug, um sich Gedanken um diese Kinder zu machen. Ihnen ist ja wohl klar, dass die furchtbare Angst haben.»
«Denen geht’s gut; ich habe sie auf ihren Betten festgebunden.»
Jessie seufzte. «Die Kleine hat Asthma. Wenn sie einen Anfall hat, hören wir sie nicht. Sie könnte ersticken, weil Sie ihr den Mund zugeklebt haben», erklärte sie mit zittriger Stimme. «Und nass gemacht hat sie sich auch, das haben Sie doch sicher gesehen. Sie haben doch ein Herz. Erlauben Sie mir, sie zu waschen und ihr frische Sachen anzuziehen, und dann setzen wir uns alle drei ganz ruhig aufs Sofa. Sie könnten uns ja trotzdem an Händen und Füßen fesseln …»
«Sie quatschen zu viel», sagte er eiskalt. «Ob es wohl hilft, wenn ich Ihnen eine Plastiktüte über den Kopf stecke und sie zubinde?»
Jessie starrte ihn an, sagte aber nichts mehr.
George war auf der Rural Route 17, rund anderthalb Kilometer vor Sherry’s Corner Food & Deli, als er den Streifenwagen mit den aufblitzenden roten Lichtern in der Ferne sah. Dann hörte er die Sirenen.
«O nein», murmelte er. Wenn das Frau Sheriff auf ihrem Weg zur Schlessinger-Ranch war, hatte er nicht viel Zeit, Fragen zu beantworten. Er konnte auf keinen Fall anhalten. Er musste zurück nach Seattle. Er hatte aus Jessies Stimme herausgehört, dass sie ihm nicht alles erzählt hatte und zu Hause etwas nicht stimmte.
Der Streifenwagen raste auf ihn zu, das Blinklicht wurde schnell heller. Tyler musste eine Leiche gefunden haben. Warum sonst fuhr Frau Sheriff so schnell zur Ranch? Nun, die kamen auch ohne ihn aus.
George sah zu seiner Rechten einen Postkasten und eine Einfahrt zu einer Farm. Er schaltete die Scheinwerfer aus, bog hinter ein paar Bäumen in die dunkle, schmale Schotterstraße ein und wendete den Wagen. Das Sirenengeheul kam näher. Dann sah George zu, wie der Streifenwagen vorbeifuhr.
Sein Handy klingelte. Der Hilfssheriff hatte ihm seine Handynummer gegeben, die George jetzt erkannte. «Tyler?»
«Ich habe noch ein Skelett gefunden», erklärte der Polizist. «Aber diesmal keine Katze. Sie hatten recht. Hier liegen menschliche Überreste.» Er seufzte. «Mein Gott, ich kann’s immer noch nicht glauben. Das hier könnte Sandra Hartman sein.»
«Haben Sie Ihre Vorgesetzte angerufen?», fragte George, auch wenn er die Antwort schon kannte.
«Ja, die ist schon unterwegs», bestätigte Tyler. «Sie will, dass Sie zurückkommen und uns genau zeigen, wo Sie dieses Namensschildchen der Kellnerin gefunden haben. Die Staatspolizei ist auch schon auf dem Weg hierher. In einer Stunde bricht hier die Hölle los.»
George zuckte zusammen. «Hören Sie, Tyler, tun Sie mir einen Gefallen. Tun Sie, als ob Sie mich nicht erreicht hätten. Ich muss unbedingt zu meinen Kindern. Das ist ein Notfall.»
Keine Antwort.
«Tyler?»
«Also gut, aber das nimmt sie mir bestimmt nicht ab.»
«Danke.» George schaltete das Licht wieder ein und fuhr zurück auf die Straße. Das Blinklicht des Streifenwagens war im Rückspiegel nicht mehr zu sehen.
«Könnten Sie mir noch einen Gefallen tun?», fragte George. «Sagen Sie ihnen nicht, wohin ich fahre, ja?»
«Ich kann zwar nicht garantieren, dass die nicht selber draufkommen, aber ich tue mein Bestes.»
«Gut. Danke. Und lassen Sie bloß nicht zu, dass diese fiese Frau Sheriff sich damit brüstet, die Leichen gefunden zu haben. Das ist Ihr Verdienst.»
«Okay.» Tyler lachte benommen. «Ich kann’s immer noch nicht fassen. Da stehe ich über diesem Skelett und muss immer daran denken, dass es Sandra sein könnte.»
Den Blick auf die dunkle Straße gerichtet, sagte George erst einmal gar nichts. Er überlegte. Sandra war die letzte der Verschwundenen gewesen, und Annabelle lebte noch.
«Ich glaube nicht, dass man Sandra Hartmans Leiche auf der Ranch findet», sagte er schließlich. «Eher schon auf dem Friedhof von Arbor Heights – neben Lon Schlessinger.»
Die Schlessinger-Ranch, Juli 2004
«Sandra, hörst du mich?»
Sie sprang von der Pritsche auf, humpelte zur großen, schweren Tür und stieß dabei ein paar leere Blechdosen um. In den vergangenen Tagen und Nächten hatte sie von Katzenfutter, Dosenpfirsichen und Wasser gelebt. Solange sie ihm gehorchte, würde sie zu essen bekommen.
«Annabelle?», rief sie, gegen die Tür gelehnt. «Bist du’s?»
«Ich hole dich jetzt hier raus», sagte Annabelle laut. Sandra hörte ein Klopfen und danach ein lautes Klirren, das klang, als wäre etwas Metallenes auf den Betonboden gefallen.
Es war dasselbe Geräusch, das Sandra immer hörte, bevor er kam, um sie zu schlagen oder zu vergewaltigen – oder das zu tun, wozu er gerade Lust hatte. «Position einnehmen!», rief er stets, bevor er die große Tür öffnete. Sie musste mit dem Rücken zu ihm vor dem Feldbett knien, und dann fiel er über sie her.
Aber jetzt kam Annabelle. Schon seit mehreren Tagen hatte Annabelle Schlessinger ihr versprochen, ihr zur Flucht zu verhelfen. Immer hatte sie dasselbe gesagt: «Wenn ich dich hier raushole, musst du mir helfen, wegzukommen und anderswo ein neues Leben zu beginnen, klar?» Annabelle hatte sie aufgefordert, geduldig zu sein und durchzuhalten. Es würde nur noch ein oder zwei Tage dauern.
Sie hatten sich immer durch die geschlossene und verriegelte Tür unterhalten. Aber jetzt ging diese quietschend auf. Sandra zitterte am ganzen Körper. Sie konnte es nicht erwarten herauszukommen. Sie dachte nicht einmal daran, ihre Schuhe anzuziehen, sondern warf sich einfach gegen die Tür.
Annabelle hielt die Tür kurz fest. Ihr Haar war kurz geschnitten und blond gefärbt. «Sehe ich anders aus?», fragte sie mit einem hoffnungsfrohen Lächeln.
Sandra hielt verblüfft inne.
«Ich habe dir doch gesagt, dass ich auch von hier verschwinde», erklärte Annabelle.
«Du … du siehst großartig aus!», stieß Sandra hervor, die nicht recht wusste, was sie sagen sollte. «Und jetzt gehen wir, ja?»
Annabelle nahm sie bei der Hand und führte sie zur Kellertreppe. «Komm, wir brauchen nur noch ein paar Sachen aus meinem Zimmer …»
Sandras Beine knickten ein, als sie mit Annabelle die Treppe hinaufrannte. Sie war seit Tagen nicht mehr richtig gelaufen und hatte in ihrer beengten, schmutzigen Zelle immer nur ein paar Schritte gehen können. Sie strauchelte, rappelte sich aber schnell wieder auf.
An der obersten Stufe sah sie die Küchentür, durch deren Scheibe sie nach draußen schauen konnte. Es war Nacht.
Als Annabelle an der Tür vorbeirennen wollte, blieb Sandra abrupt stehen. «Warte!», flüsterte sie. «Ich dachte, wir wollen hier raus!»
«Ich sagte doch, ich brauche noch ein paar Sachen aus meinem Zimmer», entgegnete Annabelle und zog an ihrem Arm.
«Aber er könnte doch zurückkommen. Bitte …»
«Er könnte zurückkommen?», wiederholte Annabelle lachend. «Er ist oben, total hinüber. Hat wie immer zu viel gesoffen und ist auf dem Bett eingeschlafen.»
Sandra versuchte sich loszureißen, aber Annabelle hielt sie fest. «Und wenn er aufwacht?», fragte sie mit Tränen in den Augen. «Bitte, Annabelle, ich muss unbedingt hier raus!»
«Reg dich ab. Ich habe ihm dasselbe Zeug gegeben, das er dir damals verabreicht hat: Chloroform. Glaub mir, der wacht nicht auf, und wir gehen in zehn Minuten hier raus.»
Als Annabelle sie durch die Küche führte, sah Sandra das Telefon an der Wand. «Warum rufen wir nicht einfach die Polizei an? Die müssen doch längst nach mir suchen!»
Annabelle wirbelte herum. «Wir können die Polizei da nicht reinziehen!», zischte sie. «Verdammt, hast du schon vergessen, dass ich dich in die Falle gelockt habe? Ebenso wie Gina und all die anderen. Ich bin genauso schuldig wie er.» Sie nahm eine Locke ihres erst kürzlich blond gefärbten Haars zwischen die Finger. «Was glaubst du, warum ich mir so viel Mühe gegeben habe, anders auszusehen? Ich muss hier weg und anderswo neu anfangen, und du hast versprochen, mir dabei zu helfen …»
«Das werde ich», sagte Sandra verwirrt.
«Ich habe gestern ein Auto geklaut und hinter ein paar Büschen am Ende der Einfahrt versteckt», fuhr Annabelle fort und führte sie in den Flur. «Scheußliche Schrottkiste, aber jetzt ist es unser Fluchtfahrzeug. Ich habe es vor ein paar Minuten vor die Haustür gefahren.»
Sie hasteten die Treppe hinauf ins Obergeschoss. «Ich hab schon seit Monaten heimlich Geld vom Konto meines Vaters abgezwackt», erklärte Annabelle. «Und dann ist da auch noch der Schmuck meiner Mutter, den ich verpfänden kann.» Sie blieb oben auf der Treppe stehen. «Apropos Schmuck …» Sie nahm ihren Armreif ab.
Mit angehaltenem Atem starrte Sandra die hässliche Narbe auf der Oberseite von Annabelles Handgelenk an.
«Den schenke ich dir», erklärte Annabelle und schob Sandra den weiten silbernen Armreif beinahe feierlich über die Hand. «Das bedeutet, dass wir untrennbar sind.»
Verwirrt blickte Sandra auf den Armreif hinab.
Annabelle zerrte sie durch den Flur. «Komm schon, sieh ihn dir an! Er ist vollkommen bewusstlos.»
«Können wir nicht einfach gehen?», flehte Sandra. «Bitte, ich will einfach nur hier raus.»
«Nein, ich muss mich noch von ihm verabschieden», erklärte Annabelle hartnäckig und zerrte sie ins Elternschlafzimmer.
Ihr Vater lag auf dem Bett. Seine Jeans war vorne offen, und ein T-Shirt bedeckte nur den oberen Teil seines behaarten Bierbauchs, der sich hob und senkte, während er im Schlaf schwer atmete. Sandra sah auf seinem Gesicht die vom Chloroform geröteten Stellen.
Annabelle starrte ihn an und hielt Sandras Arm noch fester umklammert. «Ich hoffe, du wachst früh genug auf, um die Flammen zu spüren», flüsterte sie, bebend vor Zorn, ihrem bewusstlosen Vater zu. «Und ich hoffe, dass du fürchterliche Schmerzen leidest, du verfluchter Drecksack.»
Dann spuckte sie ihm ins Gesicht.
Sandra zuckte zusammen. «Annabelle, du tust mir weh …»
Der schraubstockartige Griff um ihren Arm lockerte sich, und dann ließ Annabelle sie los. Sie wischte sich die Tränen aus den Augen und atmete ein paarmal tief durch.
«Ich gebe ihm besser noch eine Dosis von dem Zeug», sagte Annabelle und griff nach einer Flasche und einem Lappen auf der Kommode.
«Was hast du da gerade von Flammen gesagt?», fragte Sandra benommen.
Doch Annabelle antwortete nicht, sondern tränkte den Lappen, das Gesicht abgewandt, mit Chloroform.
Sandra rieb sich den Arm und betrachtete ein weiteres Mal stirnrunzelnd den silbernen Reif um ihr Handgelenk.
Als sie aufblickte, sah sie Annabelle auf sich zukommen. Bevor Sandra wusste, wie ihr geschah, schob Annabelle sie gegen die Wand und drückte ihr den Lappen ins Gesicht.
Sandras Kopf schlug gegen die Wand. Benommen versuchte sie, Annabelle abzuwehren, aber die war stärker, und Sandras Versuch, nicht einzuatmen, war zum Scheitern verurteilt. Sie konnte sich nicht bewegen und fühlte sich wie gelähmt.
«Du hast es mir versprochen», hörte sie Annabelle sagen. «Du wirst mir helfen, hier wegzukommen und irgendwo ein neues Leben anzufangen.»
Danach hörte Sandra nichts mehr.
Und sie spürte nichts mehr – auch nicht später, als sie bis zur Unkenntlichkeit verbrannte. Sie kam nie wieder zu Bewusstsein und spürte nicht den schrecklichen Schmerz. Ganz im Gegensatz zu Lon.