«Karen!», schrie sie. «Karen, wo bist du?»
Mit einem Glas Chardonnay hatte sich Karen an ihren Schreibtisch gesetzt und sah Notizen früherer Sitzungen mit Amelia durch. Nun sprang sie auf und rannte zur Treppe. Rufus folgte ihr auf dem Fuß.
Sie hatte Amelia überredet, drei Schlaftabletten zu nehmen. Vor etwa fünfzehn Minuten war dann Amelia im Gästezimmer zu Bett gegangen. Seitdem hatte Karen keinen Ton von ihr gehört, und jetzt diese Schreie.
Sie rannte durch den Flur im Obergeschoss und riss die Tür zum Gästezimmer auf. Zwischen den beiden Betten brannte die Nachttischlampe. Amelia saß zitternd in dem weiter von der Tür entfernten Bett und hielt sich die Hände vors Gesicht.
«Was ist denn?», fragte Karen, während Rufus ihr ins Zimmer folgte.
«Tut mir leid», sagte Amelia weinend. «Ich wollte nicht so schreien. Ich komme mir vor wie ein kleines Kind.» Endlich nahm sie die Hände herab und ließ sich wieder in ihr Kissen fallen. «Es ist nur so, dass ich an das Wohnheim und den ganzen Lärm da gewöhnt bin. Hier ist es so verdammt ruhig, dass es mich ganz verrückt gemacht hat. Ich hörte plötzlich alle möglichen Geräusche und bekam Angst.»
Karen setzte sich auf das andere Bett. «Willst du nicht runterkommen und ein Weilchen fernsehen?»
Sie schüttelte den Kopf. «Nein, ich will einfach nur schlafen. Am liebsten hätte ich jetzt ein paar kräftige Schluck Whiskey, nur so zum Entspannen.»
«Nicht nach den Schlaftabletten», meinte Karen. «Du hast dich in letzter Zeit so gut gehalten und darfst jetzt keinen Rückfall riskieren. Ich kann dir ja ein Radio bringen. Oder vielleicht eine Klangmaschine? Meine Schwester hat meinem Vater vor ein paar Jahren eine geschenkt. Ich glaube, sie erzeugt Meereswellen oder so.»
Amelia stieß ein leises Lachen aus. «Klar, versuchen wir’s. Besser als diese schreckliche Stille. Tut mir leid, dass ich so viele Umstände mache.»
Karen stand auf und ging hinaus. «Kein Problem. Ich glaube, das Ding steht im Flurschrank. Bin gleich wieder da.»
Sie holte die Klangmaschine aus dem Schrank, stellte sie auf den Nachttisch und schaltete sie ein. Der Klang an den Strand schlagender Wellen wurde gelegentlich vom fernen Schrei einer Möwe übertönt. «Ruhig genug für dich?», fragte Karen lächelnd.
Amelia seufzte. «Solange ich nur nicht die Geräusche in meinem Kopf höre. Weißt du, was ich gehört habe, bevor ich nach dir schrie?»
«Was denn?»
«Dieses seltsame, schwache Geräusch, das Collin ausstieß, nachdem ich ihm das Brett an den Kopf geschlagen hatte.» Ihr kamen die Tränen, und sie schlug wieder die Hände vors Gesicht. «Ich hörte die ganze Zeit, wie mein Bruder starb …»
«Du hast es nicht getan», flüsterte Karen und strich Amelia übers Haar. «Du bist nicht dafür verantwortlich, Amelia. Und jetzt leg dich hin und hör dir die Wellen an. Denk an nichts anderes. Rufus und ich können ja hierbleiben, bis du einschläfst. Was meinst du?»
«Danke, tut mir leid, dass ich so …»
«Ist doch kein Problem», sagte Karen und deckte sie zu. Dann schaltete sie die Nachttischlampe ein und setzte sich in den Schaukelstuhl am Fenster. Rufus legte sich zu ihren Füßen.
«Du bist echt lieb, Karen», murmelte Amelia. «Ich frage mich oft, warum du eigentlich keinen Freund hast, wo du doch so nett und so attraktiv bist.» Sie gähnte und fuhr dann fort: «Du musst doch manchmal schrecklich einsam sein.»
«Ach, es geht schon», antwortete Karen fast automatisch.
«Immer nur anderen zu helfen und sich um sie zu kümmern, während sich keiner um dich kümmert, das ist nicht in Ordnung. Du verdienst es doch, glücklich zu sein.»
Karen sagte nichts. Sie spürte ein schreckliches Ziehen in der Magengrube, und Tränen traten ihr in die Augen. Schweigend schaukelte sie in ihrem Stuhl und hörte zu, wie Amelia einschlief.
Amelia spürte, wie sie allmählich hinüberdämmerte, während sie noch mit Karen sprach. Die Schlaftabletten wirkten offenbar. In der Dunkelheit sah sie Karen in der Zimmerecke am Fenster sitzen. Sie hörte sich selbst undeutlich sprechen, und Karens Silhouette schien zu verschwimmen.
Eine Sekunde lang sah Amelia beim Einschlafen nicht mehr Karen Carlisle dort sitzen. Stattdessen erschien ihr ein flüchtiges Bild ihres Vaters in diesem Schaukelstuhl – unmittelbar bevor sie ihm in den Kopf schoss.
Bellingham, Washington – sechs Monate zuvor
Auf dem 36-Zoll-Flachbildschirm in Collins Bude erschien ein Hinweis: ALLE SCHAUSPIELER SIND MINDESTENS ACHTZEHN JAHRE ALT.
Collin hatte sich schon auf diesen Augenblick gefreut. Seine Eltern waren an jenem Samstagmorgen zum Lake Wenatchee gefahren. Der Dreizehnjährige war zum ersten Mal allein zu Hause und hatte sich von seinem Freund Matt Leonard drei Sexfilme auf DVD ausgeliehen, die dessen Bruder aus dem College mitgebracht hatte.
Und dann klingelte es an der Haustür.
«Verdammt!», zischte Collin und schaltete den DVD-Player aus. Er sprang auf und versteckte die DVDs unter einem Sofakissen. Dann eilte er zur Haustür und linste durch den Spion. «Was soll das denn?», flüsterte er und öffnete die Tür. «Amelia, was machst du denn hier?»
«Echt nett, wie du deine Schwester begrüßt», entgegnete sie lachend und zwängte sich an ihm vorbei ins Haus. «Mom und Dad sind am Lake Wenatchee, und der kleine Bruder ist allein zu Haus; also habe ich dich dabei überrascht, wie du dir einen runterholst, nicht wahr?»
«Solltest du nicht eigentlich mit deinen Alkis in Port Townsend sein?»
Sie ging in die Küche und begann, in die Schränke zu schauen. «Sie haben mich gerade hier abgesetzt. Ich habe ihnen gesagt, ich bräuchte mein Allergiemittel.»
«Allergiemittel?», wiederholte Collin.
«Guter Witz, was? Jedenfalls holen sie mich in einer halben Stunde wieder ab.» Sie sah in den Unterschränken nach. «Wo zum Teufel verstecken die jetzt ihren Fusel?»
«Links von der Spüle, wo er immer war», antwortete Collin und blickte sie mit zusammengekniffenen Augen an. «Warum bist du eigentlich so komisch?»
Sie nahm eine Flasche Bourbon aus dem Schrank. «Ich bin eben nüchtern, kleiner Bruder.» Dann holte sie zwei Gläser aus dem Oberschrank und fügte hinzu: «Noch zumindest.»
Collin starrte sie an, als sie beide Gläser zur Hälfte füllte. Er glaubte nicht, dass seine Schwester betrunken war. Sie benahm sich einfach nur anders als gewöhnlich. Seit wann nannte sie ihn «kleiner Bruder»? Er hatte Amelia nie mitten am Tag so stark geschminkt gesehen. Sie benahm sich so wie vor ein paar Wochen, als sie unerwartet bei seiner Schule aufgekreuzt war. Er fragte sich, ob das College sie verändert hatte. «Was ist eigentlich los mit dir?», fragte er. «Du willst dich doch nicht betrinken?»
Sie gab ihm ein Glas. «Dasselbe könnte ich dich fragen. Du willst dich doch besaufen, wenn du schon mal allein hier bist, und ich will es sehen.» Sie stieß mit ihm an. «Na los, ex!»
«Spinnst du? Ich betrinke mich doch nicht mit dir!»
«Ach komm, stell dich nicht so an.»
Collin schüttelte den Kopf und stellte das Glas ab. «Das ist keine gute Idee, Amelia. Du solltest doch nicht …»
Sie blickte ihn stirnrunzelnd an. «Weißt du eigentlich, dass du manchmal ein richtiges Arschloch sein kannst?»
Er konnte es kaum fassen. «Waaas?»
«Du hast schon verstanden», murmelte sie und setzte sich an den Frühstückstisch. «Wann haben wir uns zuletzt gesehen?»
«Vor drei Wochen, als du fürs Wochenende nach Hause gekommen bist», erwiderte er und verschränkte die Arme. «Und davor, als du plötzlich bei meiner Schule aufgetaucht bist. Auch wenn du dich später nicht daran erinnern konntest, also zählt das vielleicht nicht.»
Anscheinend war das einer ihrer Blackouts gewesen. Er fragte sich schon, ob sie sich später überhaupt an diesen Nachmittag erinnern würde, so seltsam benahm sie sich.
«Wir haben uns also drei Wochen nicht gesehen», sagte sie. «Da will ich nur mal guten Tag sagen, und wie reagierst du?» Sie schnitt eine Grimasse und senkte die Stimme, um wie ein Neandertaler zu klingen. «‹Was machst du denn hier?› Echt nett, Collin. Besten Dank. Was glaubst du, wie ich mich da fühle?»
Collin seufzte. «War doch nicht so gemeint.»
«Als ob es nicht schon reichen würde, dass ich für alle das schwarze Schaf der Familie bin. Aber ich gehöre ja sowieso nicht richtig zur Familie, ich bin ja nur adoptiert.»
«Also komm, Amelia, das ist doch Schwachsinn. Warum sagst du solchen Quatsch?», fragte Collin und setzte sich zu ihr.
«Du bist immer so ekelhaft gut», entgegnete sie mit einem höhnischen Grinsen. «Und ich dachte, du würdest die Gelegenheit nutzen, dich zu besaufen, und das wollte ich einfach mal sehen. Außerdem kann ich einen Drink brauchen, um ganz ehrlich zu sein. Tut mir leid, wenn dir das nicht passt, aber neben dir komme ich mir vor wie ein Stück Scheiße. Bist du zu gut, um mit mir einen zu trinken?»
«Also gut, was soll’s, trinken wir einen zusammen.» Er nahm das Glas und versuchte einen Schluck. Es brannte.
Sie applaudierte. «Und jetzt austrinken!»
Seine Kehle brannte noch immer, aber Collin zwang sich, auch den Rest hinunterzukippen. Er schnappte nach Luft. «Bist du jetzt zufrieden? Mein Gott, Amelia, ich verstehe nicht, wie du dieses Zeug in dich reinkriegst.»
«Ich bin richtig stolz auf dich», meinte sie lachend. «Pass auf, in ein paar Minuten geht’s dir prächtig!»
Collin starrte sie wie benommen an. Die Art, wie sie lachte, passte gar nicht zu ihr. Oder war er vielleicht schon betrunken? So schnell konnte das doch nicht gehen, oder?
«Komm, wir machen einen Deal», schlug sie grinsend vor und deutete mit dem Kopf auf ihr Glas. «Ich trinke nichts, wenn du das für mich leerst.»
«Auf keinen Fall!», protestierte er.
«Warum denn nicht? Komm, das wird lustig. Jetzt kannst du zur Abwechslung der besoffene, verkorkste Typ sein, und ich bin das perfekte Kind und bleibe nüchtern. Rollentausch. Du musst ja nicht fahren, und es wird uns beiden guttun.»
«Also gut.» Er nahm ihr Glas und kippte den Inhalt in zwei Schlucken hinunter. Er hustete und bekam wässrige Augen.
Sie applaudierte erneut. «Braver Junge – rettest mich vor mir selber, kleiner Bruder.»
Schon wieder sagte sie «kleiner Bruder». Hatte sie das auf der Schule aufgeschnappt? Und warum wollte sie ihn betrunken machen?
Er kicherte. «Du bist so komisch heute», meinte er grinsend. «Du kommst mir vor, als würde ich dich gar nicht kennen, große Schwester. Ich meine, du warst immer schon ein bisschen komisch, und ich habe dich deswegen immer gemocht, Amelia, aber heute bist du auf ganz andere Art komisch. Aber vielleicht liegt’s ja auch an mir. Bin ich schon betrunken?» Er kicherte wieder und merkte, dass er tatsächlich schon reichlich angetrunken sein musste, weil er immer weiter quasselte.
Collin erinnerte Amelia daran, welchen Aufstand sie früher oft veranstaltet hatte und wie sie damit ihre Eltern an den Rand des Wahnsinns getrieben hatte; er äffte ihren Vater nach, der nach einer Eskapade von ihr immer gestöhnt hatte: «Mein Gott, was ist bloß los mit ihr?», und konnte nicht aufhören zu kichern. Dann aber schaute er sie an und merkte, dass sie nicht einmal mitgelacht hatte. Sie saß einfach nur da, ein geheimnisvolles Lächeln im Gesicht.
«Tut mir leid, Amelia», murmelte er. «Du weißt ja, dass ich dich mag. Ehrlich. Mein Gott, bin ich betrunken!» Er kicherte erneut.
«Du brauchst frische Luft», erklärte sie und half ihm auf die Beine. «Vielleicht war das doch keine so gute Idee. Ich will nicht, dass dir schlecht wird. Komm, kleiner Bruder …»
Collin war ein wenig schwindlig, aber er konnte noch allein gehen. Auf dem Weg in sein Zimmer kamen sie an dem Sofa vorbei, wo noch immer die Porno-DVDs unter dem Kissen lagen.
Sie ging zur gläsernen Schiebetür und zog den Vorhang auf. Sie kämpfte mit der Tür, bis sie das dicke Kantholz auf dem Boden sah, das als zusätzlicher Schutz gegen Einbrecher dort verkeilt worden war. Seltsam, sie schien es ganz vergessen zu haben. Jetzt aber schob sie es beiseite und öffnete die Tür. «Na also. Komm, wir setzen uns auf die Couch und sehen ein bisschen fern …»
«Nein, ich will nicht», beteuerte er kopfschüttelnd. Er hatte Angst, seine Schwester könnte den Fernseher einschalten und auf die DVD im Player stoßen. «Gehen wir lieber raus zum Kai. Du hast recht, ich brauche frische Luft.»
Collin schwankte über ihren leicht abschüssigen Hinterhof auf das Hafenbecken zu und merkte dabei, dass er wirklich betrunken war.
Es war ein kühler Nachmittag im Mai. Die Sonne spiegelte sich im Lake Whatcom, und über dem ruhigen Wasser sah er in der Ferne die Berge. Der hölzerne Anlegeplatz war ein wenig heruntergekommen, weil sie kein Boot hatten, aber noch immer recht stabil; er hatte ein Oberdeck mit Geländer und eine untere Plattform unmittelbar über dem Wasser. Oft hatten er und Amelia sich mit ihren Freunden dort gesonnt, und im See konnte man gut schwimmen.
Collin warf einen Blick zurück über die Schulter. Sie folgte ihm mit dem massiven Kantholz in der Hand. Einmal trug sie es über der Schulter wie einen Baseballschläger, dann wieder benutzte sie es wie einen Spazierstock, während sie den grasbewachsenen Abhang hinabging. Ihr schwarzes Haar flatterte im Wind, und sie grinste ihn an. Es schien ihr Spaß zu machen, ihn betrunken zu sehen.
Obwohl er sich auf der oberen Plattform des Anlegeplatzes wegen des Geländers sicherer gefühlt hätte, wagte sich Collin auf die untere, nicht gesicherte Ebene. Das Wasser schwappte fast bis zum Rand der hölzernen Planken. Er hörte, wie sie hinter ihm hinabstieg. «Mann, ist der See heute schön», murmelte er und blinzelte auf die glitzernde Oberfläche hinaus.
«Du lallst ja schon», sagte sie. «Du bist viel schneller betrunken geworden, als ich erwartet hätte.»
Er verstand nicht recht, was sie meinte. Hatte sie erwartet, dass er betrunken sein würde?
Collin aber nickte trotzdem und hielt weiter den Blick auf See und Berge gerichtet. «Ja, ich bin ziemlich dicht. Tust du mir einen Gefallen?»
«Was denn?»
«Pass bitte auf, dass ich keinen Quatsch mache. Du kennst doch diese Geschichten über blöde Jugendliche, die sich einen antrinken und dann irgendwie ums Leben kommen. Ich will nicht, dass mir das auch passiert.»
«Ich fürchte, dafür ist es schon zu spät.»
Collin erstarrte. Das war nicht die Stimme seiner Schwester. «Du bist nicht Amelia», murmelte er.
Als er sich umdrehte, holte sie mit dem Kantholz bereits aus. Collin hatte keine Zeit, zu reagieren oder den Schlag abzuwehren. Plötzlich krachte das Holz auf ihn nieder, und er hörte, wie sein eigener Schädel brach.
Während sie das Blut vom Anlegeplatz spritzte, musste sie an den witzigen, erstickten Schrei denken, den Collin vor seinem Sturz in den See ausgestoßen hatte. Er hatte geklungen wie eine altersschwache Frau. Und dieses seltsam gurgelnde Geräusch musste von dem Blut in seiner Kehle gekommen sein, als er hatte schreien wollen. Wie auch immer – die Erinnerung brachte sie zum Kichern.
Collins Fuß hatte sich in der Pfahlkonstruktion unter dem Kai verfangen, und er trieb mit dem Gesicht nach unten im Wasser.
Er war der Liebling seiner Eltern – das Kind, auf das sie gehofft hatten, bevor sie sich zu einer Adoption entschlossen hatten. Und Amelia war nur ein Kompromiss gewesen.
Sie würden um ihn trauern, aber nicht sehr lange. Denn bald würden auch sie tot sein. Dann würde Amelia keine Familie und keine Freunde mehr haben und als Einzige übrig sein.
Und genau so wollte sie es haben.
Karen erwachte und wusste plötzlich, dass jemand in ihrem Schlafzimmer war.
Zugedeckt bis zum Hals, hatte sie in den vergangenen drei Stunden leicht gedöst. Von Amelia hatte sie keinen Laut gehört, nur dieses Gerät mit den Geräuschen von Wellen und Möwen. Rufus war am Fuß von Karens Bett eingedöst, aber jetzt hörte sie, wie er sich aufsetzte. Seine Hundemarken klingelten, und er begann zu knurren. Sie hörte eine Bodendiele knarren und war einen Moment lang wie erstarrt.
Schließlich griff sie sehr langsam unter das zusätzliche Kissen neben ihr und fand den Revolver ihres Vaters.
Sie spürte fast, wie jemand sich über sie beugte, und setzte sich rasch auf. «Ich bin bewaffnet!», rief sie.
Rufus begann wie verrückt zu bellen.
«Nicht, Karen, warte!»
Sie griff blind nach der Nachttischlampe, fand sie endlich und schaltete sie ein. «Amelia», murmelte sie und holte tief Luft. «Still, Rufus, das reicht!»
«Oh, Karen, es tut mir ja so leid», flüsterte Amelia, eine Hand am Revers ihres Morgenmantels. «Ich habe mich wohl im Zimmer geirrt und gedacht, hier wäre das Bad …»
Rufus knurrte sie weiter an und bellte zwischendurch sogar.
«Rufus, hör endlich auf.» Karens Herz raste noch immer, als sie sich ein Lächeln abrang. «Die nächste Tür, Amelia.»
«Danke. Tut mir leid, dass ich dich geweckt habe.» Sie blieb in der Tür stehen und runzelte die Stirn. «Schläfst du immer mit einer Knarre? Oder hältst du mich für gefährlich?»
Karen schüttelte den Kopf. «Nein, weder – noch. Hier geht es um etwas anderes, Amelia.» Sie musste an den jungen Mann denken, der sich Blade nannte. Deshalb lag der Revolver neben ihr, und deshalb schlief Rufus in ihrem Schlafzimmer statt in seinem eigenen kleinen Bett in der Küchenecke. Doch ein Teil von ihr konnte Amelia tatsächlich nicht trauen – nicht, wenn diese krank war.
«Meinst du, du kannst wieder einschlafen?», fragte Karen.
Amelia nickte gähnend und drehte sich zum Flur um. «Gute Nacht, Karen. Tut mir leid, wenn ich dich erschreckt habe.» Dann schloss sie leise die Tür hinter sich.
Rufus knurrte ein letztes Mal, bevor er sich wieder ans Fußende ihres Betts legte. Karen lauschte noch ein paar Sekunden, bis sie die Toilettenspülung hörte. Seltsam. Ein paar Stunden zuvor war Amelia in T-Shirt und Schlafanzughose in die Küche gekommen. Und nun hatte sie mitten in der Nacht einen Morgenrock angezogen, nur um aufs Klo zu gehen?
Karen schaute auf ihren Digitalwecker: 4.11 Uhr. Sie schaltete das Licht aus, schob den Revolver wieder unter das Kissen und lag mehrere Minuten wach. Dann glaubte sie, Gemurmel zu hören. Sie schlug die Decke zurück, stieg leise aus dem Bett und lauschte an der Tür. «Scheiße, sie hat eine Knarre … Ich kann sie nicht … Verdammter Mist …»
Es war eine Frauenstimme, aber sie klang nicht wie Amelia.
Karen kroch wieder ins Bett und holte den Revolver hervor. Rufus stand auf und schaute sie an. «Sitz!», flüsterte Karen ihm zu. Dann öffnete sie die Tür und blickte in den dunklen Flur hinaus, die Waffe fest in der Hand. Die Tür zum Gästezimmer war offen, das Licht aber aus. Über die Geräusche von Wellen und Möwen hinweg hörte sie die Frau erneut flüstern: «Wir werden das wohl morgen erledigen müssen …»
Karen schlich auf Zehenspitzen durch den Korridor, aber die Bodendielen knarrten, und sie erstarrte. Rufus streckte den Kopf zur Tür ihres Schlafzimmers heraus und bellte. Das Gemurmel im Flur hatte plötzlich aufgehört. Karen hörte ein Rascheln. «Amelia?», fragte sie, den Revolver im Anschlag.
Sie schlich zum Gästezimmer und hörte erneut Geflüster, aber diesmal klang es eher wie Amelia. «Ich möchte zwei Körbe Blumen. Ja … Aber ich bringe meinen Hund mit …»
Karen linste durch die Tür und sah, dass im hinteren Bett jemand unter der Decke lag. «Aber ich habe eine Fahrkarte», sagte diese Person mit schläfriger Stimme – Amelias Stimme. «Der Zug fährt ja erst später ab …»
Seufzend ging Karen in ihr Zimmer zurück und legte sich wieder ins Bett. Sie hätte sich denken können, dass Amelia im Schlaf redete. Sie versuchte, wieder einzuschlafen, und redete sich ein, dass alles in Ordnung war, blieb aber wach. Nur noch ein paar Stunden, dann würde sie Amelia zu einer Spezialistin bringen.
Immer wieder schaute sie zum Wecker auf ihrem Nachttisch, zuletzt um 5.17 Uhr. Sie hörte schon Vogelgezwitscher, als ihr ein beunruhigender Gedanke kam: Was war, wenn das unter der Decke gar nicht Amelia war, sondern jemand anders?
Aber Karen sagte sich, dass das blanker Unsinn sei; und schließlich schlief sie doch noch ein.
Der Wecker auf Shanes Nachttisch zeigte 6.02 Uhr an. Er hob den Kopf und fragte sich, woher dieses klopfende Geräusch kam. Er wohnte mit vier anderen Jungs in einem heruntergekommenen Haus an der Dreiundvierzigsten Straße, nur wenige Häuserblocks von der Universität entfernt. Sein Zimmer war im Erdgeschoss, gleich neben der Küche. Er brauchte einen Augenblick, bis er merkte, dass jemand ans Fenster klopfte. Im schwachen Dämmerlicht sah er die Umrisse von jemandem auf der anderen Seite der Jalousie.
Er murmelte einen Fluch, stand auf und ging in Unterhosen durch das unaufgeräumte Zimmer. Es klopfte immer noch.
Einige Lamellen der Jalousie waren verbogen oder gebrochen, sodass er durch die Lücken sehen konnte, wer dort draußen stand. Sofort zog er die Jalousie hoch und riss das Fenster auf. Er musste in die Hocke gehen, um auf Augenhöhe mit ihr sprechen zu können. «Amelia, Liebling, was ist denn?», fragte er schlaftrunken.
Sie trug eine Regenjacke und stand auf Zehenspitzen. «Tut mir leid, wenn ich dich wecke, aber ich musste dich einfach sehen», flüsterte sie.
Er richtete sich auf. «Geh rüber zur Küchentür, ich lass dich rein.»
«Nein, ich kann nicht bleiben. Karen hält mich mehr oder weniger gefangen. Sie weiß nicht, dass ich weg bin. Ich muss zurück und mich ins Haus schleichen, bevor sie aufwacht.»
Er kauerte sich wieder vors offene Fenster. «Scheiße, sie kann dich doch dort nicht gegen deinen Willen festhalten …»
Sie lächelte. «Das geht schon in Ordnung. Aber wir müssen uns später treffen, irgendwo, wo wir allein sind. Kennst du den Bootsschuppen am Husky-Stadion?»
«Du meinst, wo sie die Boote vermieten?»
Sie nickte. «Du mietest dir eines und fährst auf den Lake Washington hinaus zu der Insel beim Arboretum, Foster Island, hinter dem Museum –»
«Ich weiß schon», unterbrach er sie. «Wir waren schon mal da.» Foster Island war ein abgeschiedenes kleines Stück Land mit einem langen, gewundenen Pfad, der auch über einige Stege führte. Sie hatten im Sommer dort gepicknickt.
«Gut, wir treffen uns dort um halb zwölf.»
«Mist», murmelte er. «Tut mir leid, Liebling, ich habe um elf meinen Psychologie-Kurs.»
Sie runzelte die Stirn. «Kannst du ihn nicht ein einziges Mal für mich ausfallen lassen? Es ist wichtig.»
Er zögerte. «Okay, wenn’s sein muss.»
«Ich wusste doch, dass ich mich auf dich verlassen kann. Sag aber niemandem, dass wir uns treffen und wo du hingehst, auch Karen nicht. Ich traue ihr nicht mehr.»
«Was?» Er lachte verwirrt. «Ich dachte, du liebst Karen! Bei der Pizza gestern hast du mir noch erzählt, wie großartig sie ist.»
Sie schüttelte den Kopf. «Nicht mehr. Wenn sie dich anruft, geh einfach nicht ran.»
«Und warum gehst du zu ihr zurück, wenn du ihr nicht mehr vertraust? Wozu die Heimlichtuerei? Ich kapier das nicht, Amelia …»
«Ich erklär dir alles auf Foster Island um halb zwölf. Und komm per Boot. Es ist sehr wichtig. Tust du das für mich?»
«Klar», murmelte er, auch wenn er gar nichts verstand, am wenigsten sie selbst. Sie wirkte irgendwie anders als sonst. «Klar», wiederholte er, «ich komme.»
«Danke, Schatz», sagte sie, fuhr ihm durch sein wirres hellbraunes Haar und zog seinen Kopf zu sich heran, um ihn mit einem langen Zungenkuss zu belohnen. Er wollte mehr, aber sie zog sich zurück.
«Tut mir leid, ich habe meinen morgendlichen Mundgeruch», flüsterte er mit einem leisen Lachen.
«Schon gut», erwiderte sie grinsend und leckte sich die Lippen ab. «Hast du auch deine Morgenlatte?»
Er hatte. Er war wie immer mit ihr aufgewacht, und der Kuss hatte seine Erektion noch verstärkt. Shane errötete.
Sie kicherte. «Stell dich gerade hin, damit ich sie sehe.»
Er gehorchte. «Der kleine Shane steht aufrecht da.»
Sie streichelte sein Glied durch seine Unterhose und stöhnte, wie sie es noch nie getan hatte. Es machte ihn verlegen und törnte ihn zugleich an.
«Ich will später mehr davon», schnurrte sie und zupfte ein letztes Mal sanft an seinem Glied.
Dann drehte sie sich plötzlich um und rannte auf die Gasse zu, die vom Hinterhof wegführte. Shane sah benommen zu, wie sie sich in einen schwarzen Jetta setzte. Er sah aus wie der Wagen ihrer Therapeutin. Dann fuhr sie weg.
Shanes Erektion erschlaffte rasch, während er noch vor dem Fenster stand. Ihm fiel wieder etwas ein, was Karen ihm am Nachmittag zuvor gesagt hatte. «Du musst ein Auge auf sie haben. Wenn dir eine plötzliche Veränderung oder ein abrupter Stimmungswandel auffällt, ruf mich an.»
Shane überlegte kurz, ob er das tun und sie womöglich wecken sollte, um ihr zu erzählen, was gerade geschehen war.
Stattdessen aber legte er sich wieder schlafen.