Kapitel zweiundzwanzig

Amelia war noch immer nicht aufgetaucht und ging auch nicht an ihr Handy.

Karen stand auf den Stufen der Stadtbibliothek von Wenatchee im kalten Nachtwind. Sie schaute auf ihre Armbanduhr: Es war 19.00 Uhr.

Sie konnte Amelia unmöglich verpasst haben, denn sie hatte sich im Altenheim nicht länger als eine halbe Stunde aufgehalten. Der Besuch hatte sich gelohnt, denn Miriam Getz hatte ihr ein genaueres Bild von dem Vorfall vermittelt, der Amelia in ihrer Kindheit traumatisiert hatte. Dennoch wollte es einfach keinen Sinn ergeben, dass Amelia angenehme Erinnerungen an diesen Nachbarn hatte, der offensichtlich versucht hatte, sie sexuell zu belästigen. Die einzigen Menschen, die Clay Spalding nicht für abgrundtief böse hielten, waren Amelia und Clays Freundin Naomi Rankin.

Karen hatte Naomi auf deren Mailbox eine zweite Nachricht hinterlassen, aber immer noch keine Antwort bekommen.

Am meisten sorgte sie sich momentan aber um Jessie. Sie hatte schon mindestens neunzig Minuten nicht mehr mit ihr gesprochen. Wie lange konnte es schon dauern, ein Hotelzimmer zu finden? Jessie hätte sie längst anrufen und ihr sagen müssen, dass es ihr und Georges Kindern gutging. Etwas musste geschehen sein, aber Karen konnte sie nicht erreichen, weil Jessie kein Handy hatte.

Sie holte ihr Telefon heraus und gab Georges Handynummer ein. Vielleicht hatte Jessie ja mit ihm gesprochen.

Sie erreichte George auf seinem Weg zum Flugplatz von Salem. Er erzählte ihr von den Gräbern auf der Schlessinger-Ranch.

Der Wind frischte auf, und Karen schauderte auf den Stufen vor der Bibliothek. «In Moses Lake wurden 1992 vier Personen als vermisst gemeldet», erklärte sie. «Die letzte wenige Monate vor dem Umzug der Schlessingers nach Salem. Ich versuche immer noch, mehr Informationen über diesen Vorfall mit dem Nachbarn auszugraben, der Amelia belästigt hat. Bislang scheint es weitgehend so gewesen zu sein, wie Annabelles Lehrerin es Ihnen beschrieben hat. Und jetzt stehe ich vor der Bibliothek, friere mir den Hintern ab und warte auf Amelia.»

«Sind Sie sicher, dass es Amelia ist?»

«Fast. Sie lieh sich Shanes Wagen und fuhr heute Morgen zum Grand Coulee Dam. Weiß der Himmel, warum gerade dahin, aber jetzt ist sie auf dem Weg hierher. Wenn alles gutgeht, müssten wir gegen zehn wieder in Seattle sein.» Sie seufzte. «Aber ich mache mir Sorgen um Jessie und die Kinder. Haben Sie von ihnen gehört?»

«Ja, deshalb will ich ja so schnell wie möglich nach Hause. Jessie hat mich angerufen, und ich habe das Gefühl, dass im Haus etwas nicht stimmt.»

«Wie meinen Sie das?»

«Steffie hatte einen Asthmaanfall. Angeblich geht’s ihr wieder besser, aber ich bin mir nicht sicher, ob Jessie mir alles erzählt hat.»

«Sie hat von Ihrem Haus angerufen?»

«Ja –»

«Und hat Jessie nichts davon erzählt, dass sie heute Nachmittag in meinem Haus Amelia getroffen hat?»

«Aber ich dachte, Sie sagten, Amelia sei den ganzen Tag am Grand Coulee Dam gewesen.»

«War sie auch.» Karen berichtete ihm von Jessies Begegnung mit Annabelle am Nachmittag und davon, dass Jessie zuvor Blades Cadillac vor Georges Haus gesehen hatte. «Hat Jessie Ihnen denn nichts davon erzählt?»

«Nein, hat sie nicht.»

«Hat sie erwähnt, dass Shane tot ist?»

«O nein», murmelte George. «Mein Gott, nein, das hat sie nicht …»

«Die Polizei glaubt, er hat sich erschossen», erklärte sie traurig.

«Mein Gott, Karen, was läuft hier ab?»

«Ich habe Jessie gesagt, sie soll mit den Kindern in ein Hotel. Deshalb ergibt es für mich keinen Sinn, dass sie zu Ihrem Haus zurück ist. George, da stimmt etwas nicht.»

«Na ja, vielleicht war sie ja ein bisschen durcheinander – nach allem, was geschehen ist», meinte er. «Außerdem hat Jessie selber einen Notfall in ihrer Familie. Sie muss heute Nacht nach Denver. Ihre Schwester ist schwer krank.»

Einen Augenblick lang brachte Karen kein Wort heraus. «George», flüsterte sie schließlich, «ich muss Ihnen leider sagen, dass Jessie gar keine Schwester hat.»

 

«Ich habe angerufen und ein Flugzeug gechartert», sagte George. «Ich müsste in etwa fünf Minuten am Flugplatz sein. Ich rufe Sie wieder an, wenn ich in Seattle gelandet bin, also gegen halb neun. Können Sie bis dahin noch bleiben, Jessie?»

«Ja, das geht klar», sagte sie ins Telefon, das der junge Mann ihr ans Ohr hielt, während er an Georges Schnurlostelefon mithörte. Jessie war noch immer an ihren Stuhl gefesselt, und ihre Hände waren hinter ihrem Rücken mit Klebeband zusammengebunden. Sie hatte schon fast kein Gefühl mehr in den Armen.

«Gibt’s was Neues von Ihrer Schwester?», fragte George.

«Nein. Ich wollte gerade noch einmal anrufen.»

«Geht es um Ihre Schwester Estelle? Die an Alzheimer erkrankt ist?»

Jessie zögerte. Er wusste also, dass etwas nicht stimmte. «Genau. Ich fürchte, sie könnte die Nacht nicht überstehen.»

«Tut mir leid, das zu hören, Jessie. Aber ich bin ja bald da, oder soll ich jemand anderen zu den Kindern schicken?» Seine Majestät schüttelte den Kopf.

«Nein, ich halte schon die Stellung, bis Sie hier sind.»

«Könnte ich kurz Steffie sprechen? Oder schläft sie noch?»

«Das ist jetzt ungünstig, George, sie schläft noch.» Jessie blickte zu dem jungen Mann hoch. Hinter ihm sah sie jemanden auf die Einfahrt der McMillans gehen, ohne zu erkennen, wer es war. Die Person war noch zu weit weg. Der Mann mit der Sonnenbrille, der mit dem Rücken zum Wohnzimmer stand, hatte sie noch nicht bemerkt.

«Und wie geht’s Jody?», fragte George. «Könnten Sie ihn kurz ans Telefon holen?»

Jessies Kehle wurde trocken. «Äh, tut mir leid, George, er ist gerade im Bad und duscht.» Sie sah, wie sich eine Frau der Haustür näherte. Es war Georges Nachbarin von gegenüber, eine geschiedene Frau in den Sechzigern namens Sally Bidwell. Sie war schlank, hatte silbergraues, kurzes Haar und trug einen schwarzen Hosenanzug. Als Georges Frau starb, war sie nicht in der Stadt gewesen, aber sie hatte die Woche über schon zweimal bei den McMillans vorbeigeschaut und nachgefragt, ob sie vielleicht etwas bräuchten. George hatte Jessie erklärt, dass Mrs. Bidwell einen Schlüssel für das Haus habe für den Fall, dass Jessie sich versehentlich einmal aussperren sollte.

Als sie näher ans Haus kam, blieb Mrs. Bidwell stehen und stellte sich auf die Zehenspitzen, um durchs Wohnzimmerfenster sehen zu können.

Jessie versuchte, sie nicht anzustarren. Sie wollte Seine Majestät nicht darauf aufmerksam machen, dass sie Besuch bekamen.

«Da kann man wohl nichts machen», sagte George. «Aber es geht den beiden doch gut, Jessie?»

«Ja, George. So weit geht’s ihnen gut.»

«Danke, Jessie. Ich bin so schnell wie möglich da.»

Der Mann drückte ihr das Telefon fester ans Gesicht. «Schluss jetzt», bedeutete er ihr lautlos mit den Lippen.

«Dann bis bald, George.»

Der Mann mit der Sonnenbrille hängte rasch den Hörer auf und schaltete das Schnurlostelefon aus. «‹So weit geht’s ihnen gut› – was soll der Scheiß? Wollten Sie ihm damit verklickern, dass etwas nicht stimmt?»

Jessie schüttelte nur hilflos den Kopf. Dann schaute sie wieder zum Wohnzimmerfenster, sah Mrs. Bidwell aber nicht mehr.

Plötzlich klingelte es.

Der junge Mann schnappte sich seinen Revolver von der Küchenarbeitsplatte und eilte zur Haustür. Es klingelte erneut.

Jessie hörte einen erstickten Schrei aus Jodys Zimmer.

Den Rücken an der Wand, wartete der Mann mit gezückter Waffe ab. Er wirkte sehr ruhig – vielleicht schien dies auch nur so, weil Jessie seinen Gesichtsausdruck hinter der dunklen Brille nicht richtig erkennen konnte.

Mrs. Bidwell trat von der Tür zurück. Sie streckte den Hals nach oben und stellte sich erneut auf die Zehenspitzen, um einen Blick durchs Wohnzimmerfenster zu werfen. Jessie wand sich in ihrem Stuhl und fragte sich, ob Mrs. Bidwell sie durch die dünnen Vorhänge sehen konnte. Mit angehaltenem Atem sah sie zu, wie der junge Mann nach der Türklinke griff.

Mrs. Bidwell versuchte auf der Veranda noch immer, ins Haus zu linsen.

Nach den Morden vom Lake Wenatchee hatten die McMillans die ganze Woche über immer wieder Schaulustige ertragen müssen. Einige waren nur in die Sackgasse gefahren, um einen Blick aufs Haus zu erhaschen, während andere sogar versucht hatten, durch die Fenster zu schauen. Aber es gab auch mehrere nette Nachbarn, die mit Blumen, Essen oder Beileidsbezeigungen vorbeigekommen waren. Zu ihnen gehörte Mrs. Bidwell – auch wenn Jessie sie stets als ein wenig zu aufdringlich empfunden hatte.

Jessie wusste selbst nicht recht, ob sie wollte, dass Mrs. Bidwell etwas sah, oder nicht. Sie nahm an, George würde wissen, wie man sich in dieser Situation verhielt, aber sie traute Mrs. Bidwell nicht.

Schließlich drehte sich die Frau achselzuckend um.

Der Mann mit der Sonnenbrille ging zum Rand des Wohnzimmerfensters und schaute vorsichtig hinaus.

Jessie sah, dass Mrs. Bidwell über die Einfahrt zurückging. Dann aber blieb sie stehen und schaute ins Auto, bevor sie sich noch einmal zum Haus umdrehte.

Der Mann schreckte zurück, und der dünne Vorhang bewegte sich.

Die Nachbarin klopfte ein paarmal, und dann hörte Jessie, wie sie mit dem Reserveschlüssel die Haustür öffnete. Jessie wollte einen Warnschrei ausstoßen, konnte aber nicht.

Die Küchentür ging auf. «Hallo?», rief Mrs. Bidwell. «George? Jemand zu Hause?»

Der junge Mann wartete auf der anderen Seite der Tür, die Waffe in der Hand. Mrs. Bidwell sah ihn nicht, als sie in die Küche trat, dafür aber Jessie, gefesselt und geknebelt auf dem Stuhl. Jessie konnte nur versuchen, die Frau durch heftiges Kopfschütteln zu warnen.

Einen Augenblick lang stand Mrs. Bidwell wie gelähmt da und starrte Jessie an.

Der Mann mit der Sonnenbrille steckte seine Waffe in den Hosenbund. Mrs. Bidwell wirbelte herum, rang erschrocken nach Luft und stürzte auf die Tür zu. Er aber schlug sie ihr vor der Nase zu. Dann packte er sie und hielt ihr die Hand vor den Mund. Wild um sich schlagend, versuchte die hagere Frau, ihn abzuwehren, aber er war zu stark für sie. Während er sie festhielt, blieb seine Miene praktisch unverändert. Nur der Hauch eines höhnischen Grinsens zog sich über sein Gesicht, während er gefühllos wie ein Roboter seine Arbeit verrichtete.

Er nahm seine Hand nur ein paar Sekunden von Mrs. Bidwells Mund, als er wieder nach seinem Revolver griff. Sie schrie, bis er ihr die Waffe über den Schädel schlug.

Die Frau stieß noch einen schwachen Schrei aus. Sie war benommen, aber nicht bewusstlos, und wand sich unter seinem Griff, als der Mann mit der Sonnenbrille sie ins Wohnzimmer zerrte und auf die Couch warf. Mrs. Bidwell keuchte auf.

Er nahm ein Sofakissen und drückte es auf ihr Gesicht. Dann schoss er ins Kissen.

Jessie musste entsetzt mit ansehen, wie Krämpfe die Frau durchzuckten, bevor sie plötzlich reglos dalag. In der Luft um sie herum schwebten Kissenfedern. Jessie erhaschte einen Blick auf Mrs. Bidwells Gesicht. Ihre Augen waren weit aufgerissen, und in ihrer linken Wange klaffte ein großes Loch. Dann versetzte der junge Mann der Leiche einen kräftigen Fußtritt, und die Frau rollte aufs Gesicht, während unter ihr der Blutfleck auf dem beigefarbenen Sofa immer größer wurde.

Der junge Mann wirkte verärgert, als er sich von der Toten entfernte. Stirnrunzelnd strich er sich die Kissenfedern von seinem glänzenden schwarzen Anzug, zog seine Krawatte gerade und justierte seine Sonnenbrille, bevor er zum Spülbecken ging, um sich kaltes Wasser über die Hand laufen zu lassen.

«Die blöde Kuh hat mich gebissen», grummelte er.

Mit Tränen in den Augen betrachtete Jessie Mrs. Bidwells Leiche. In den vergangenen vierzig Minuten hatte sie noch gehofft, der junge Mann würde sich einfach nehmen, was er wollte, und sich dann aus dem Staub machen.

Jetzt aber wusste sie, dass er dieses Haus nur verlassen würde, wenn er sie und die Kinder getötet hatte.

 

«Mein Gott, George, Sie tappen geradewegs in eine Falle!»

«Ich weiß.» Wenn George etwas sicher wusste, dann das. Er musste jetzt davon ausgehen, dass entweder Annabelle oder Blade oder auch beide zusammen Jessie und die Kinder bei ihm zu Hause als Geiseln hielten. Und ihn wollten sie auch.

«Karen, mir bleibt doch keine andere Wahl», sagte er ins Telefon, die Augen auf die Straße gerichtet. Ein Best Western und ein Holiday Inn zeigten ihm, dass der Flughafen nicht mehr weit sein konnte. «Ich habe das Gefühl, sie lassen die Kinder am Leben, um Jessie zur Zusammenarbeit zu zwingen. Offensichtlich benutzen sie sie dazu, mich zu überreden, nach Hause zu kommen. Ich hoffe, sie tun niemandem etwas an, solange sie mich anlocken wollen. Mir bleiben etwa neunzig Minuten, um mir einen Plan zurechtzulegen. Die Polizei rufe ich nicht, zumindest noch nicht. Vielleicht in Seattle. Mal sehen.» Er stieß einen nervösen Seufzer aus. «Karen, wenn Sie weiter in Annabelles Vergangenheit stöbern, könnten Sie vielleicht herausfinden, was zum Teufel sie will und warum sie das alles tut. Warum tötet sie alle, die Amelia nahestehen? Wenn ich nachvollziehen könnte, worauf Annabelle aus ist, würde mir das helfen, wenn ich in anderthalb Stunden das Haus betrete.»

George hatte Tränen in den Augen und einen Kloß im Hals. «Vielleicht könnte ich mit ihr verhandeln und ihr geben, was sie will, oder zumindest herausfinden, wo sie am verwundbarsten ist. Dann bekomme ich vielleicht meine Kinder und Jessie lebend da raus.»

«Ich tue mein Bestes, George», versprach Karen. «Amelia müsste jeden Augenblick hier sein. Vielleicht können wir sie dazu überreden, mit ihrer Schwester zu sprechen. Mehr brauchen wir womöglich gar nicht. Was auch immer der Grund für das alles sein mag, er liegt irgendwo bei den Schwestern.»

«Da haben Sie vermutlich recht», murmelte George.

Plötzlich merkte er, dass er die Abzweigung zum Flughafen verpasst hatte. «Karen, ich danke Ihnen. Ich muss jetzt Schluss machen.»

«Gut, aber rufen Sie mich an, sobald Sie in Seattle sind. Und seien Sie vorsichtig, George.»

Er beendete das Gespräch, wendete auf einem Parkplatz und sah bald ein weiteres Hinweisschild zum Flughafen. In der Ferne hörte er Polizeisirenen, die immer lauter zu werden schienen, je näher er dem Flugplatz kam. George sah vor sich eine Kreuzung, auf der der Verkehr völlig zum Stillstand gekommen war. Zwei Streifenwagen rasten mit eingeschaltetem Blinklicht über die Kreuzung und bogen in die Einfahrt zum Flughafen ein.

Als der Verkehr wieder floss, bog George an der Kreuzung links ab und dann rechts zum Flughafen. Mit einem flauen Gefühl im Magen sah er die beiden Streifenwagen mit laufendem Blinklicht vor dem Haupteingang des Flughafengebäudes stehen.

Er fragte sich, ob Tyler schwach geworden war und seiner Frau Sheriff verraten hatte, wohin er, George, unterwegs war.

Dann bog er in den Parkplatz ein und stellte den Wagen ab. Als er ausstieg, setzte über ihm gerade ein Flugzeug zur Landung an.

Er sah, dass hinter den Streifenwagen ein brauner Kleinbus mit der Aufschrift RESIDENCE INN gehalten hatte. Der Fahrer trug einen Blazer in derselben Farbe wie sein Bus und unterhielt sich vor seinem Wagen mit einem der Polizisten. Kurz darauf verabschiedete er sich winkend, stieg wieder ein und fuhr über den Parkplatz in Richtung Straße.

George winkte ihm zu. «Arbeiten Sie für das Residence Inn?», rief er.

Es war eine dumme Frage, aber der Fahrer hielt trotzdem und kurbelte das Fenster herunter. Er war Anfang zwanzig, hatte welliges schwarzes Haar und ein pickeliges Gesicht. «Richtig, Sir. Wollen Sie zu uns?»

«Nein, aber ich treffe mich mit jemandem, der für die Nacht ein Zimmer sucht», log George. «Wissen Sie zufällig, ob bei Ihnen noch welche frei sind?»

Der Fahrer griff in seinen braunen Blazer und holte eine Karte seines Hotels hervor. «Rufen Sie die Nummer hier an.»

«Herzlichen Dank.» Dann deutete er mit dem Kopf auf die Streifenwagen. «Wissen Sie, was der Aufstand da drüben soll?»

Der junge Mann nickte. «Die haben einen Tipp bekommen, dass auf einer Farm außerhalb der Stadt jede Menge Leichen liegen sollen.»

«Leichen?»

«Ja, drei haben sie schon ausgebuddelt, und sie rechnen noch mit wesentlich mehr.» Der Mann zeigte mit dem Daumen auf die Streifenwagen. «Einer von denen ist ein Kumpel von mir. Ganz große Sache, meint er. An Ihrer Stelle würde ich das Zimmer für Ihren Freund ganz schnell buchen. Wenn erst mal die Zeitungsleute hier antanzen – und lange wird das nicht mehr dauern –, sind ruck, zuck alle Hotels voll.»

«Danke für den Rat.» George deutete noch einmal auf die Streifenwagen. «Aber was suchen die eigentlich hier? Sind sie das Empfangskomitee für die Journalisten?»

Der Fahrer schüttelte den Kopf. «Nein, die suchen nach dem Kerl, der den Tipp gegeben hat. Sie wollen ihn verhören und haben Angst, er macht sich aus dem Staub.»

«Nicht zu glauben», murmelte George und steckte die Karte vom Residence Inn ein. «Danke jedenfalls für Ihre Hilfe. Schönen Abend noch.»

Der Kleinbus fuhr los, und George stieg wieder in seinen Wagen. Ihm war ganz schlecht. Was sollte er jetzt tun? Er musste zu seinen Kindern und versuchte, gar nicht erst daran zu denken, welche Angst die beiden haben mussten und was ihnen womöglich angetan wurde.

Er konnte nicht riskieren, noch länger am Flughafen zu bleiben. Die Polizisten hatten zweifellos eine Beschreibung seines Autos und vielleicht sogar das Kennzeichen.

George fuhr los, ohne recht zu wissen, wohin. Erst einmal musste er die Polizisten hinter sich lassen. Nach Portland würde er eine Stunde brauchen, aber auf dem dortigen Flughafen musste er ebenfalls damit rechnen, abgefangen zu werden, wenn er versuchte, einen Flug zu buchen. Und die ganze Strecke bis nach Seattle fahren konnte er auch nicht. Das dauerte mindestens fünf Stunden, und auch dabei lief er Gefahr, dass ein Polizist ihn unterwegs sah. Sie würden auf der gesamten I-5 nach ihm Ausschau halten.

«Du weißt ja nicht einmal, wohin du willst!», schrie er laut, während sich seine Hände um das Lenkrad verkrampften.

Dann atmete er ein paarmal tief durch, um sich zu beruhigen. Beim Überqueren einer Kreuzung fiel Georges Blick auf ein Straßenschild: Waverley Drive. Er war also nicht weit von der Willamette University entfernt. Der Verkehr wurde dichter, als er in ein Gewerbegebiet mit zahlreichen Bars, Restaurants und Cafés kam.

George sah das Schild ATOMIC CYBER CAFÉ und fand eine Parklücke.

Im schummerigen Licht des etwa halbvollen Internetcafés saßen reihenweise College-Studenten vor Computermonitoren. «Kann ich hier ins Internet?», fragte George den Barista hinter dem Tresen.

Der junge Mann hatte einen kleinen quadratischen Bart unter der Unterlippe und trug eine Brille. «Klar. Erste halbe Stunde kostenlos, wenn Sie was trinken. Und als Pfand Ihren Führerschein.»

«Danke.» George legte eine Fünfdollarnote und seinen Führerschein auf den Tresen. «Normalen Kaffee bitte oder sonst was Schnelles.»

Wenige Augenblicke später trug George vorsichtig seinen Kaffee zu einem der freien Plätze. Es gab noch ein paar in der Nähe eines korrekt gekleideten, nervös wirkenden Mannes in den Fünfzigern, der George stumm musterte. Als George sich neben ihn setzte, merkte er, dass der Mann sich Porno-Seiten anschaute. George ignorierte ihn, schaltete den Rechner ein und ging ins Internet. Bei Google gab er die Stichwörter «Salem, Oregon, Charter-Hubschrauber» ein.

Er bekam zwei Ergebnisse, beides Firmen in Jefferson, Oregon. George wählte die Nummer des ersten Unternehmens, Coupland Aeronautics, Inc. Ob an einem Montag um 19.20 Uhr überhaupt noch jemand da war? Seine Chancen, in letzter Minute einen Hubschrauber zu mieten, waren vermutlich minimal.

Eine Frau hob ab. «Coupland, Sie sprechen mit Kate.»

«Hallo. Ich bin gerade in Salem und muss so schnell wie möglich nach Seattle. Hätten Sie für heute Nacht noch einen Helikopter für mich?»

«Salem, das ist mit dem Auto etwa eine halbe Stunde von hier.» George hörte, wie ihre Finger über eine Tastatur flogen. «Wenn Sie bis acht hier sind, können wir Sie fünfzig Minuten später in Seattle absetzen. Wäre das okay für Sie?»

«Wunderbar.»

 

«Hallo, Naomi, hier ist noch einmal Karen Carlisle …»

Karen saß in ihrem Mietwagen gegenüber der Stadtbibliothek von Wenatchee. Obwohl der Empfang draußen besser war, hatte sie sich zum Schutz vor der Kälte ins Auto gesetzt, zumal es auch noch zu nieseln begonnen hatte. Vom Fahrersitz aus hatte sie den optimalen Blick auf jeden, der die Bibliothek verließ oder betrat. Sie wartete noch immer auf Amelia. Seit ihrem letzten Gespräch waren zwei Stunden vergangen, und seither hatte sie keinen Anruf mehr erhalten.

Clay Spaldings Freundin ging ebenfalls nicht ran, auch nicht nach Karens dritter Nachricht innerhalb von neunzig Minuten. Allmählich ahnte sie, wie es sein musste, als Telefonverkäufer wildfremde Menschen zu belästigen. «Tut mir leid, falls ich Sie nerve», sagte sie nun, «aber ich bin eine Freundin von Amelia Schlessinger. Sie erinnern sich vielleicht an den Namen. Amelia und Sie hatten vor Jahren einen gemeinsamen Freund. Wenn Sie mir nur ein paar Minuten opfern würden –»

Plötzlich klickte es in der Leitung. «Hören Sie, wenn Sie noch einmal anrufen, kriegen Sie es mit den Bullen zu tun.»

«Naomi?», fragte Karen kleinlaut.

«Ich muss nicht mit Ihnen reden», knurrte die Frau. «Scheiße, ich dachte immer, ich wäre euch Arschlöcher seit fünfzehn Jahren los!»

«Legen Sie bitte nicht auf», flehte Karen. «Ich rufe Sie nicht an, um Sie zu belästigen –»

«Natürlich nicht», brummte sie. «Die Sprüche kenne ich. Wenn Ihnen nichts Neues einfällt, lassen Sie mich in Frieden, ja?»

«Naomi, warten Sie! Sie wollen etwas Neues hören? Die Polizei gräbt gerade auf der alten Schlessinger-Ranch in der Nähe von Salem Leichen aus. Dort verschwanden seit 1993 immer wieder junge Frauen, nachdem Lon Schlessinger von Moses Lake dorthin gezogen war. Ist nicht etwa um dieselbe Zeit die Serie verschwundener Frauen um Moses Lake abgerissen?»

Schweigen am anderen Ende der Leitung.

«Naomi?»

«Wer sind Sie?», murmelte Naomi.

«Ich bin eine Freundin von Amelia, und die erinnert sich fast gar nicht mehr an ihre Kindheit in Moses Lake. Aber sie erinnert sich an einen Mann indianischer Abstammung – einen Nachbarn, der sehr freundlich zu ihr war. Sie und Amelia scheinen die Einzigen von dort zu sein, die nicht daran glauben, dass Clay ein Ungeheuer war.»

«Dann stehe ich mit meiner Überzeugung also doch nicht ganz allein da. Aber ausgerechnet Amelia …»

«Ich habe Zeitungsartikel über die Geschichte gelesen, Naomi, und nach Ihrer Reaktion auf meinen Anruf zu schließen, müssen einige Leute Ihnen ziemlich übel mitgespielt haben, weil Sie Clay in den Zeitungen immer verteidigten.»

«Auch im lokalen Fernsehen», erklärte Naomi. «Eine Zeitlang bekam ich im Schnitt um die acht Drohanrufe pro Nacht. Und bei der Arbeit oder in der Stadt warfen die Leute mir ständig hasserfüllte Blicke zu. Wenn Sie möchten, dass alle Sie hassen, müssen Sie nur ein gutes Wort für jemanden einlegen, der als Serienmörder und Päderast gilt. Ich bekam noch jahrelang diese ekelhaften Anrufe, selbst als ich meine Nummer geändert hatte. Erst vor drei Jahren habe ich meine Nummer wieder ins Telefonbuch setzen lassen.» Sie seufzte. «Tut mir leid wegen vorhin. Bei Ihren ersten beiden Anrufen wusste ich nicht, wer Sie waren – ich dachte, eine Telefonverkäuferin oder so –, und als Sie dann den Namen Schlessinger erwähnten, drehte sich mir der Magen um. Das war für mich wie ein Rückfall in die Vergangenheit.» Sie schwieg einen kurzen Moment «So, sie haben also Leichen auf dem Grundstück der Schlessingers gefunden.»

«Richtig. Lon ist seit drei Jahren tot, in seinem Haus verbrannt.»

«Ich hatte immer schon das Gefühl, dass jemand Clay diese Vermisstenfälle anhängen wollte, aber erst jetzt wird mir alles klar. Lon hat diese Frauen umgebracht. Sie kennen ja die Geschichte aus den Zeitungen. Er war an jenem Tag schon einmal in Clays Haus gewesen, Stunden bevor er ihn erschoss. Da hatte er genug Zeit, den Geldbeutel und die Halskette der Kellnerin dort zu deponieren, während er angeblich nach seinem Kind suchte. Mein Gott, und ich dachte die ganze Zeit über, die Bullen hätten ihm das Zeug untergejubelt. Ich war mir immer absolut sicher, dass Clay diese Kellnerin nicht entführt haben konnte. Ich war mit ihm zusammen in der Nacht, als Kristen Marquart verschwand.»

«Haben Sie das nicht der Polizei erzählt?»

«Klar hab ich das. In die ganze Welt hab ich es hinausposaunt, aber keiner wollte mir glauben. Ich war mehrere Monate lang in Clay verliebt gewesen, und deshalb nahm mich natürlich keiner ernst, und nach einiger Zeit ging ich denen nur noch auf den Geist. Viele in der Nachbarschaft hatten sowieso schon eine schlechte Meinung von Clay. Er passte einfach nicht in den Gardenia Drive.»

«Weil er kein Weißer war?»

«Das spielte sicher auch eine Rolle», räumte sie ein. «Aber Clay hatte irgendwie Komplexe, nachdem er das Haus geerbt hatte. Er hatte das Gefühl, für alle immer noch Izzys Stallarbeiter zu sein. Sicher hat er auch das eine oder andere getan, um die Leute vor den Kopf zu stoßen. Er mähte den Rasen nicht mehr und ließ das Haus vergammeln, nur um zu beweisen, dass er eben nicht mehr der Stallarbeiter war.»

«Von seiner Nachbarin habe ich gehört, dass er auch einige seiner Kunstwerke vor dem Haus aufstellte.»

«Welche Nachbarin? Die alte Dame?»

«Miriam Getz.»

«Ja, die hatte ihn auf der Abschussliste. Sie und zwei Bullenfreunde von Lon waren die Hauptzeugen, die bestätigten, dass Clay an dem Tag versuchte, Amelia zu missbrauchen.»

«Ich glaube eigentlich nicht, dass sie mich angelogen hat, Naomi», wandte Karen behutsam ein. «Abgesehen von den Kunstwerken im Vorgarten und der Tatsache, dass er den Rasen nicht mehr pflegte, hatte Miriam gegen ihn als Nachbarn offenbar nichts einzuwenden. Ihre Einstellung ihm gegenüber änderte sich erst, als sie sah, was an jenem Tag geschah.»

«Richtig gelogen hat sie vielleicht nicht», meinte Naomi, «aber die falschen Schlussfolgerungen gezogen.»

«Nun ja, sie sah eben ein kleines Mädchen in Unterwäsche aus Clays Fenster klettern und um Hilfe schreien. Da ist es schwer, nicht zu derselben Schlussfolgerung zu gelangen wie Miriam. Aber ansonsten denke ich genau wie Sie, Naomi. Lon Schlessinger war durch und durch böse und muss Clay irgendwie den Geldbeutel und das Medaillon untergejubelt haben. Aber dieser Vorfall mit Amelia …»

«Wussten Sie, dass Lon sie und ihre Schwester schlug?»

«Nein, aber es überrascht mich nicht.»

«Er hasste Clay vom ersten Augenblick an. Ob wegen seiner Abstammung oder wegen seiner langen Haare oder seiner Kunstwerke im Vorgarten, weiß ich nicht, aber er hasste ihn. Vielleicht flüchteten sich die kleinen Mädchen deshalb zu Clay, wenn ihr Vater sie misshandelte. Sie wussten, dass sie in ihm einen Verbündeten hatten. Zu ihrer Mutter konnten sie nicht gehen, die war total ahnungslos. Amelia lief mehrmals zu Clays Haus, öfter als ihre Zwillingsschwester. Ich weiß noch, wie Clay meinte, Lon halte Annabelle an der kürzeren Leine und sie habe Angst vor ihm. Sie war viel gehorsamer und gab den Forderungen ihres Vaters eher nach. Clay gab im Reservat Kunstunterricht und konnte mit Kindern umgehen. Er nannte Amelia eine kleine Rebellin und kam vielleicht deshalb so gut mit ihr aus. Sie hatten beide denselben aufmüpfigen Charakter.»

«Und als widerborstigere der beiden Zwillinge wurde Amelia vermutlich öfter und heftiger geprügelt», vermutete Karen.

«Richtig», bestätigte Naomi. «Ich habe einige ihrer blauen Flecken gesehen. Es war widerlich.»

«Warum haben Sie das nicht der Polizei gemeldet?»

«Clay hat’s ja versucht. Eines Tages, als Amelia bei ihm war, berührte er ihren Rücken und merkte, wie sie zusammenzuckte. Er fragte sie, was los sei, und sie meinte: ‹Ich glaube, ich war wieder ein böses Mädchen.› Dann zeigte sie ihm ihren Rücken, der über und über schwarz, blau und violett war. Clay musste sich sehr zusammennehmen, um nicht zu den Schlessingers zu gehen und den Schweinehund kurz und klein zu schlagen. Ich konnte ihn am Telefon gerade noch davon abhalten. Ich riet ihm, ein paar Polaroids von Amelias geschundenem Rücken zu machen, mit denen wir dann zur Polizei gehen konnten. Das tat er dann auch, aber blöderweise geriet er an einen Bullen, der mit Lon immer angeln ging, was Clay nicht wusste. Das Einzige, was dieser Bulle unternahm, war, Clay zu fragen, wie er die Kleine dazu gebracht hatte, ihre Bluse auszuziehen. Später verdrehten sie alles, und nach Clays Tod ging das Gerücht um, er habe Nacktfotos von dem kleinen Mädchen gehabt. Dabei waren es nur die Fotos von ihrem misshandelten Rücken, die er der Polizei hatte geben wollen.»

«O mein Gott», murmelte Karen.

«Und Wochen später, an jenem Sonntagmorgen, als Amelia verschwand, kam Lon zu Clay – angeblich, um nach ihr zu suchen. Clay ließ ihn rein, erklärte ihm bei dieser Gelegenheit aber auch gleich, er würde ihn umbringen, wenn er auch nur einen weiteren blauen Fleck bei Amelia fände. Nachdem Lon wieder gegangen war, erklärte Clay mir am Telefon, dass Amelia offenbar wieder einmal weggelaufen sei und wohl irgendwann bei ihm auftauchen werde. Ich sollte kommen, um an seiner Stelle eventuelle neue Anzeichen von Misshandlungen zu fotografieren und dann mit den Bildern zur Staatspolizei oder zu einem Anwalt oder einem Kinderschutzbund zu gehen.»

Naomi stieß einen langen Seufzer aus. «Ich war gerade bei der Arbeit, als er mich anrief. Sie brauchten mich an der Kasse. Ich weiß noch genau, wie Clay mich fragte: ‹Willst du damit sagen, dass du dir nicht einmal ein paar Stunden freinehmen kannst, um einem misshandelten Kind zu helfen?› Dann legte er auf. Das war das Letzte, was er je zu mir gesagt hat.» Sie begann zu weinen. «Ich war noch immer bei der Arbeit, als jemand im Laden mir erzählte, Clay sei erschossen worden, weil man ihn dabei erwischt habe, wie er das kleine Mädchen eines Nachbarn missbrauchen wollte. Ich konnte es damals nicht glauben und glaube es auch heute noch nicht. Clay hätte Amelia nie wehgetan. Ich war zwar nicht dabei, als es geschehen ist, aber ich weiß, dass sie damals alles verdreht haben müssen. Was die Leute damals gesehen haben, war nicht die Wahrheit. Da bin ich mir ganz sicher.»

«Das sehe ich genauso», stimmte Karen ihr zu. «Könnte Amelia vielleicht deshalb nur Unterwäsche angehabt haben, weil sie Clay neue Anzeichen von Misshandlungen zeigen wollte?»

«Das habe ich mich auch schon gefragt», antwortete Naomi. «Aber in der Zeitung hieß es, sie sei kurze Zeit zuvor geschlagen worden, und das wurde natürlich als weiteres Indiz gegen Clay gewertet. Außerdem glaube ich nicht, dass Clay ihr gestattet hätte, auch nur ein einziges Kleidungsstück auszuziehen – nach den zweideutigen Bemerkungen dieses Polizisten zu den Polaroids.»

«Vielleicht war Amelia ja eingeschlafen –», begann Karen, als ein Klicken sie unterbrach.

«Einen Augenblick bitte», sagte Naomi. «Lassen Sie mich nachsehen, wer dran ist.»

Sie unterbrach die Verbindung, und Karen blieb Zeit, weiter über den Vorfall nachzudenken. Selbst wenn sie einen Grund dafür fänden, warum Amelia in Unterwäsche gewesen war, würde das noch immer nicht erklären, wieso das Mädchen schreiend aus Clays Haus gerannt und sich ihrem prügelnden, sadistischen Vater in die Arme geworfen hatte.

Naomi meldete sich wieder.«Sind Sie noch dran?»

«Ja.»

«Hören Sie, bei der Arbeit ist mal wieder die Hölle los, und ich muss sofort hin – immer noch zum selben Laden. Ich bin da jetzt übrigens Abteilungsleiterin. Tolle Karriere, was?»

«Glückwunsch. Und danke für das Gespräch, Naomi.»

«Wenn Sie je herauskriegen, was genau damals geschehen ist, lassen Sie es mich wissen, ja? Meine Nummer haben Sie ja. Tut mir leid, dass ich Ihnen nicht mehr helfen konnte.»

«Sie waren sehr hilfreich. Amelia hat immer noch Probleme, und Sie haben ihr geholfen, ehrlich.»

«Danke und alles Gute.»

Karen beendete das Gespräch. Sie saß auf dem Vordersitz ihres Wagens und sah zu, wie die Regentropfen über die Windschutzscheibe rollten. Auf der anderen Straßenseite kam eine Frau aus der Bibliothek. Sie spannte ihren Regenschirm auf, ging zum Gehsteig hinunter und verschwand um eine Ecke.

Karen warf einen weiteren Blick auf ihre Armbanduhr: 19.50 Uhr.

«Verdammt», fluchte sie, «sie müsste schon seit einer Stunde hier sein.»

Amelia war wieder einmal verschwunden.

 

Das Autofenster stand offen. Amelia spürte den kalten Wind, der ihr das Haar zerzauste, und bekam hin und wieder einen Regentropfen ins Gesicht. Sie war mit Karens Jetta auf dem Weg nach Wenatchee. Sie war angespannt und aufgeregt zugleich und freute sich darauf, endlich mit dem Jagdmesser ihres Vaters diesem Miststück, Karen Carlisle, die Kehle durchschneiden zu können.

Amelia schreckte bei völliger Dunkelheit aus dem Schlaf hoch. Sie hatte schon die ganze Nacht über diese schrecklichen Träume. Und im jüngsten hatte sie mit Feuereifer Karens Ermordung geplant.

Zuvor hatte sie einen Albtraum gehabt, bei dem sie Shane einen Revolver in den Mund gehalten und abgedrückt hatte, in einem Ruderboot auf irgendeinem See. Sie hatte sich Shanes Blut mit Seewasser von Gesicht und Händen gewaschen. Alles war ihr so real vorgekommen, aber Amelia redete sich ein, dass das nur Albträume waren. Sie schlief noch immer im Gästezimmer in Karens Haus.

Aber warum war es so dunkel? Und was war mit der Klangmaschine? Sie hörte die Wellen und die Möwen nicht mehr. Sie hörte gar nichts mehr.

Panik brach über sie herein. Sie erinnerte sich nicht, dass das Bett so hart war oder die Decke so kratzig. Außerdem roch es muffig wie in einem Keller.

Irgendetwas musste geschehen sein, mitten in der Nacht.

Amelia hatte geglaubt, auch das geträumt zu haben: Sie hatte sich selbst bei Nacht in Karens Garten mit einem seltsam aussehenden, blassen Mann mit pechschwarzem Haar gesehen. Sie hatten einen Zierstein angehoben und Karens Reservehausschlüssel entdeckt. Dann waren sie ins Haus eingedrungen. Der nächste Teil, so nahm Amelia an, musste ein Traum gewesen sein, weil sie mit dem Mann in Karens Gästezimmer gewesen war und über sich selbst im Bett gestanden hatte. Sie hatte sich selbst im Schlaf beobachtet. Der Mann hatte sich über ihr Bett gebeugt und ihr ein feuchtes Tuch aufs Gesicht gedrückt. Es hatte auf der Haut gebrannt, und einen Augenblick lang hatte sie das Gefühl gehabt, sie müsse ersticken.

War das alles wirklich geschehen? So muss es wohl gewesen sein, denn sie war nicht mehr in Karens Gästezimmer. Dieser finstere, muffige Raum war an einem vollkommen anderen Ort, weit weg von allen Geräuschen und jedem Licht.

Amelia setzte sich auf und tastete blind nach einem Lichtschalter. Ihre Hand stieß gegen eine Lampe, und sie schaltete sie ein. Jemand hatte den Lampenschirm abgenommen, und die nackte Glühbirne blendete sie. Amelia brauchte einen Moment, bis sie die in einem Secondhandshop gekaufte Lampe aus dem Gästezimmer im Haus am See erkannte. Sie saß auf einem Feldbett, eingehüllt in eine Armeedecke, und sah sich in dem grauen kleinen Raum um. An der Wand standen ein paar Kartons, ein Stapel mit alten Schallplatten und Brettspielen, ein paar alte Farbdosen und ein beschädigter Stuhl.

Amelia fuhr sich mit der Hand durchs Haar und stellte fest, dass es zum größten Teil abgeschnitten war. Sie mussten ihr im Schlaf das Haar geschnitten haben, und zwar sehr kurz. Aber weshalb? Sie fasste sich an Nase und Lippen, die noch immer brannten von der Substanz in dem Tuch, das der Mann ihr an den Mund gehalten hatte. Sie hatte keine Ahnung, wann das gewesen war. Sie blickte sich nach einer Uhr oder einem Spiegel um, fand aber weder das eine noch das andere, auch nicht auf dem provisorischen Nachttisch neben ihr. Jemand hatte einen Karton umgedreht und die Lampe ohne Schirm daraufgestellt.

Immerhin hatten sie ihr eine offene Dose Pfirsiche dagelassen, eine Packung Kaugummi und eine kleine Tube Hautcreme.

Amelia starrte auf die große, schwere Tür. Sie war geschlossen.

Sie wusste, wo sie war. Dieser Ort hatte ihr immer schon Angst eingejagt. Seit Jahren war der Gedanke, jemals hier eingeschlossen zu sein, ein Albtraum für sie.

Sie war unten im Atombunker des Ferienhauses ihrer Familie am Lake Wenatchee.

Und trotzdem spürte sie sogar noch in diesem Augenblick, wie Karens Auto sich bewegte, und fühlte irgendwie auf ihrer Gesichtshaut die kühle Brise, die durch das offene Fenster hereinwehte.

Und sie wusste, dass Karen sterben würde.