Oper ohne Vorbereitung

Wie viel Vorwissen braucht man als Klassik-
liebhaber bei Opernaufführungen allgemein
und bei Wagners Ring im Besonderen?

 

Darf man sich ohne Vorwissen ins Opernvergnügen stürzen, oder sollte man vorab feuilletonistische Sekundärinformationen studieren, um den Kunstgenuss zu steigern? Bezogen auf den Ring des Nibelungen antworte ich mit einem entschiedenen »Weder noch!«. Für so ein kompliziertes Werk muss man sich, wenn schon, akribisch vorbereiten, am besten durch intensive Textlektüre. Andererseits hat es keinen Zweck, sich mit Sekundärliteratur vollzustopfen, bevor man das Objekt seiner Begierde selber kennengelernt hat. Abgesehen von der Ring-Trilogie und ihrem Vorspiel gibt es natürlich durchaus Opernaufführungen, denen man unvorbereitet beiwohnen kann. Die Kunst ist ja kein Schulzimmer. Bei der Aida etwa oder der Tosca muss man nicht jedes Wort und jede Bedeutung kennen, um sie zu verstehen.

1951, als ich ganz jung war, wurde ich nach Bayreuth zur Ring-Premiere eingeladen. Ich kannte die Stücke kaum und dachte: »Das wirst du schon schaffen!« Nachdem ich Rheingold gesehen hatte – nebenbei, ich fand es schrecklich langweilig –, schrieb ich eine Kritik in den Frankfurter Heften, in der ich monierte, dass die Oper sehr textlastig sei und nur wenig schöne Melodien aufweise, und dass der eigentliche Ernst des Lebens wohl erst in der Walküre thematisiert werde. Später erst habe ich begriffen, dass Wagner im Rheingold nicht nur die Bösartigkeit eines Tyrannen offenlegt. Vielmehr zeigt er uns, wie ein Herrscher sich in einen bösen Herrscher verwandelt. Wie er gedemütigt wird und beschließt, sich an der Welt zu rächen. Alberich verliebt sich in der ersten Szene in die drei entzückenden Rheintöchter. Er, der verkrüppelte, zwergenhafte Kerl. Anfangs locken sie ihn: »Du bist ja eigentlich ganz süß, komm, wir zeigen dir die wahre Liebe.« Dann aber beenden sie ihre Schmeicheleien mit einem lauten Lachen und lassen ihn beschämt und aufgewühlt zurück. Diese Niederlage macht verständlich, warum Alberich die Liebe fortan verflucht und der Macht verfällt. Ein Mechanismus, den man vielleicht auch bei einigen Diktatoren beobachten kann. Später, nachdem der Gott Wotan ihm den Ring gestohlen hat, sagt Alberich: »Wie durch Fluch auf die Liebe der Ring mir geriet, so verfluche ich den Ring.« Woraufhin Wotan naiv-ahnungslos reagiert: »Gönne ihm die geifernde Lust.«

Wenn man all diese Verwicklungen ohne jegliche Vorbereitung in der Oper hört, begreift man die Zusammenhänge nicht. Gerade bei Wagner kommt es auf die Nuancen an, zumal Text und Musik bei ihm eine dialektische Einheit bilden. Das wiederum bedeutet auch, dass Widersprüche entstehen. Wenn Wotan zum Beispiel prahlt »Jetzt bin ich Herr der Welt«, dann begleitet das Orchester dieses überhebliche Getue mit dem Götterdämmerungsmotiv. Ein feinsinniger Hinweis für ihn – und uns Zuhörer –, dass auch Götter endlich sind.

Ohne Vorwissen begreift man auch im zweiten Akt der Walküre nicht, warum Wotan und seine Gattin einen Ehekrach austragen. Ohne Vorbereitung versteht man im Siegfried nicht, dass der junge Titelheld gegen eine Riege alter Herren ankämpft. Und und und. Wagners Ring verlangt dem Klassikliebhaber bekanntlich allerlei Sitzfleisch ab. Und die Bereitschaft zur Vertiefung. Gut so.

Sprechen wir über Musik: Eine kleine Klassik-Kunde
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